"Er, der Sohn Gottes, er machet recht frei" - Predigt über Johannes 8, 31-36 von Agnes Köber
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"Er, der Sohn Gottes, er machet recht frei" - Predigt über Johannes 8, 31-36 von Agnes Köber

Er, der Sohn Gottes, er machet recht frei
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
das Jahr 2012 ist fast Geschichte. Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Jahr, noch wenige Stunden trennen uns davon. Der Silvesterabend ist auch so ein Datum, an dem innegehalten wird, an dem man zurücksieht auf die vergangenen Monate: Was war? Wie war es? Was war gut? Was war schön? Was hat mich weitergebracht? – Was war nicht gut? Was hat ausgebremst? Worauf hätte ich gerne verzichtet?
Eine Gefühlsmischung kennzeichnet solche Rückblicke: Dankbarkeit für das Gute und Bedauern im Blick auf das Negative.
Am Silvesterabend wird aber auch der Blick nach vorne gerichtet: Was wird sein? Was kann kommen? Werde ich mit dem, was das Jahr 2013 bringt, mich arrangieren können? Was ist mir fürs kommende Jahr wichtig? Viele Menschen fassen Vorsätze, was sie im neuen Jahr erreichen wollen… Silvester/Neujahr wirkt wie eine magische Schwelle.
Das unterschwellige Gefühl ist Unsicherheit, ja manchmal sogar Angst vor der Zukunft. Gründe dafür gibt es zur Genüge: Unsicherheiten am Arbeitsmarkt, die Gesundheit, die von jetzt auf gleich verloren gehen kann, Verluste, die unweigerlich mit unaufhaltsamen Veränderungen einhergehen…,  Angst vor Allein sein, Angst vor Hilflosigkeit, Angst vor Ungewissheit, Angst vor Verlust des aktuellen Status.  Angst ist ein zutiefst menschliches Gefühl, mit enormen Folgen. Angst bindet, Angst schließt ein, Angst macht unfrei.
In diese Gefühlslandschaft hinein spricht zu uns ein Abschnitt aus dem Johannesevangelium, 8. Kapitel: Jesus sprach zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger 32 und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.33 Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden?34 Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.35 Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig.36 Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.
Frei machen – das springt ins Auge. Frei werden, durch Erkenntnis der Wahrheit.
Wahrheit – ein Wort, das in der Geschichte oft herhalten musste, wenn jemand Ansprüche durchsetzen wollte. Wir heutige Menschen neigen dazu zu sagen, es gibt viele Wahrheiten. Das mag auf einer gewissen Ebene stimmen – für jeden Einzelnen gibt es nur eine Wahrheit, die für ihn/sie gültig ist. Es gibt ein gemeinsames Merkmal unter uns Menschen: Wir sind nicht frei, wir sind gefangen: in uns selbst, in unseren Plänen und Vorstellungen. Unter „normalen“ Umständen  fällt uns das nicht auf. Erst wenn unvorhersehbare Not hereinbricht, gehen die Augen auf. In diesen Worten hält Jesus seinen Hörern und uns Lesern einen Spiegel vor: Ihr seid nicht frei, ihr seid gebunden.
Freiheit war eine große Sehnsucht er Zeitgenossen Jesu: Frei sein von der Herrschaft der Römer. Jesus erkennt noch eine weitere Sehnsucht nach Freiheit: nämlich Freiheit vom jüdischen Gesetz. Das Gesetz mit seinen vielen Forderungen, die kein Mensch voll und ganz erfüllen kann und das ihnen immer wieder vor Augen führt, wie sehr sie doch in der Gottesferne, in der Sünde, leben.
Zurück in die Gegenwart des Altjahresabends 2012: Diese Worte haben von ihrer Gültigkeit nichts eingebüßt; jeder von uns ist durch irgendetwas gebunden: durch eine Schuld, durch eine Not, durch Versagen, durch Angst vor dem was kommt, … Sie werden es am besten wissen. Auch uns ist gesagt: wenn euch der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.
Schön, endlich. Aber wie?
Letztens bin ich beim Schmökern auf eine Geschichte gestoßen, die ganz gut passt: In einer Woche ist die Weihnachtszeit vorbei. Dann werden die Weihnachtsbäume abgeräumt, die Weihnachtslichter, Lichterketten und Pyramiden, Krippen- und Engelsfiguren wieder sorgfältig verpackt und weggelegt – hören Sie die Geschichte vom
Der Nachweihnachtsengel – nach Dietrich Mendt.
  „Als ich dieses Jahr meine Pyramide und die Krippe und die 32 Weihnachtsengel wieder einpackte, behielt ich den letzten in der Hand. „Du bleibst“, sagte ich, „Du kommst auf meinen Schreibtisch. Ich brauche ein bisschen Weihnachtsfreude für das ganze Jahr.“ „Da hast du aber Glück gehabt“, sagte er. „Wieso?“, fragte ich ihn. „Na, ich bin doch der einzige Engel, der reden kann.“ Stimmt! Jetzt erst fiel es mir ein. Ein Engel, der reden kann? Das gibt es ja gar nicht. In meiner ganzen Verwandtschaft und Bekanntschaft ist das noch nicht vorgekommen. Da hatte ich wirklich Glück gehabt.
  „Wieso kannst du eigentlich reden? Das gibt es doch gar nicht. Du bist doch aus Holz!“ „Das ist so. Nur wenn jemand nach Weihnachten einen Engel zurückbehält, nicht aus Versehen oder weil er sich nichts dabei gedacht hat, sondern wegen der Weihnachtsfreude, wie bei dir, dann können wir reden. Aber es kommt ziemlich selten vor. Übrigens heiße ich Heinrich“. „Heinrich? Bist denn du ein Junge? Du hast doch ein Kleid an.“ Heinrich trägt nämlich ein langes rotes Gewand. „Das ist reine Modefrage. Hast du schon einmal einen Engel in Hosen gesehen? Na also.“
Seitdem steht Heinrich auf meinem Schreibtisch. In seinen Händen trägt er einen goldenen Papierkorb, oder vielmehr einen Müllkorb. Ich dachte erst, es sei nur ein Kerzenhalter, aber da hatte ich mich geirrt, wie ihr gleich sehen werdet.
Heinrich stand gewöhnlich still an seinem Platz, hinter der rechten Ecke meiner grünen Schreibunterlage (grün und rot passt so gut zusammen!) und direkt vor ein paar Büchern, zwei Bibeln, einem Gesangbuch, einem Bändchen mit Gebeten und den Herrnhuter Losungen. Und wenn ich mich über irgendetwas ärgere, hält er mir seinen Müllkorb hin und sagt: „Wirf rein!“ Ich werfe meinen Ärger hinein – und weg ist er! Manchmal ist es ein kleiner Ärger, zum Beispiel wenn ich wieder meinen Kugelschreiber verlegt habe oder eine fremde Katze in unserer Gartenlaube vier Junge geworfen hat. Es kann aber auch ein großer Ärger sein oder eine große Not oder ein großer Schmerz, mit dem ich nicht fertig werde, zum Beispiel als kürzlich ein Vater und eine Mutter erfahren mussten, dass ihr fünfjähriges Mädchen an einer Krankheit leidet, die nie mehr zu heilen ist. Wie soll man da helfen! Wie soll man da trösten! Ich wusste es nicht. „Wirf rein!“, sagte Heinrich, und ich warf meinen Kummer in seinen Müllkorb.
Eines Tages fiel mir auf, dass Heinrichs Müllkorb immer gleich wieder leer war. „Wohin bringst du das alles?“ „In die Krippe“, sagte er. „ist denn so viel Platz in der kleinen Krippe?“ Heinrich lachte. „Pass auf! In der Krippe liegt ein Kind, das ist noch kleiner als die Krippe. Und sein Herz noch viel, viel kleiner.“ Er nahm seinen Kerzenhalter unter den linken Arm und zeigte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand – wie klein! „Denn deinen Kummer lege ich in Wahrheit gar nicht in die Krippe, sondern in das Herz dieses Kindes. Verstehst du das?“ Ich dachte lange nach. „Das ist schwer zu verstehen. Und trotzdem freue ich mich. Komisch, was?“ Heinrich runzelt die Stirn. „Das ist gar nicht komisch, sondern die Weihnachtsfreude, verstanden?“ Auf einmal wollte ich Heinrich noch vieles fragen, aber er legte den Finger auf den Mund. „Pst!“, sagte er. „Nicht reden! Freuen!“
  Behaltet doch mal einen Engel zurück, wegen der Weihnachtsfreude. Und spitzt die Ohren! Hört ihr’s? „Wirf rein!“
Etwas von der Zuversicht des Weihnachtsfestes durch’s Jahr retten: dass Gott den Lauf der Dinge unterbrochen hat und es auch in unserem Leben tun kann, dass das Kind in der Krippe uns frei macht und uns immer wieder auf’s neue frei machen kann. Säkular gesprochen könnte man das als „positiv denken lernen“ bezeichnen: zuversichtlich sein, dass nicht alles schief geht, was schief gehen kann. Frei werden durch Jesus Christus ist „positiv denken“, aber es geht noch darüber hinaus: auch die Ängste, über das, was nach dem Leben in dieser Welt kommt, sind beim Kind in der Krippe besser aufgehoben als in unseren Herzen. Es selbst will sich aller unserer Ängste annehmen – wir dürfen das Angebot annehmen und uns der inneren Freiheit und des tiefen Friedens erfreuen, der damit einhergeht.
Der Sohn Gottes, er macht uns frei, in den letzten Stunden des Jahres 2012 und in allen Stunden des Jahres 2013.
Amen
Quelle: Der Nachweihnachtsengel – von Dietrich Mendt, Oberkirchenrat und lutherischer Theologe in Sachsen (1926-2006)
Liedvorschlag: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden, Strophen 2-4