Es wird sein in den letzten Tagen - Zwischen Erinnern und Träumen, zwischen Trauern und Hoffen. – Liedpredigt zu EG 426 & Jesaja 2, 2-5 von Karin Latour
(Kurze Vorstellung des Liedes von Walter Schulz, EG 426)
„Dann kam der Krieg doch zu uns. Eines Nachts hörten wir ihn wiehern. Und dann lachte es draußen mit vielen Stimmen und schon hörten wir das Krachen der eingeschlagenen Türen
Die alte Luise starb in ihrem Bett, Der Pfarrer starb als er sich schützend vor das Kirchportal stellte, Lise Schuch starb als sie versuchte Goldmünzen zu verstecken, Männer starben, als sie versuchten ihre Frauen zu schützen und ihre Frauen starben wie Frauen eben sterben im Krieg.
Martha starb auch. Sie sah noch wie sich die Zimmerdecke über ihr in rote Hitze verwandelte, sie roch den Qualm, bevor er so fest nach ihr griff, dass sie nichts mehr erkannte und sie hörte ihre Schwester um Hilfe rufen.
Während die Zukunft, die sie eben noch gehabt hatte, sich in nichts auflöste : der Mann, den sie nie haben, und die Kinder, die sie nicht großziehen würde und die Enkel, denen sie niemals von einem berühmten Spaßmacher an einem Vormittag im Frühling erzählen würde, die Kinder dieser Enkel, all die Menschen, die es nun doch nicht geben sollte.
So schnell geht das, dachte sie, als wäre sie hinter ein großes Geheimnis gekommen. Und als sie die Dachbalken splittern hörte fiel ihr noch ein, dass Tyll Uhlenspiegel nun vielleicht der Einzige war, der sich an unsere Gesichter erinnern würde und wissen würde, dass es uns gegeben hatte!“ (aus Daniel Kehlmann- „Tyll“)
Liebe Gemeinde,
ich frage es mich manchmal, wer sich ihrer erinnert- all der Männer und Frauen- Kinder und Alten, all der Soldaten und Opfer der beiden Weltkriege, wenn wir nicht mehr sind. Wir, die wir die Geschichten der Väter und Mütter, der Großmütter und Großväter noch kennen. Die noch etwas anfangen können mit dem Begriff „Volkstrauertag“, an dem Menschen auf die Friedhöfe gehen und einen Kranz niederlegen -nicht zum Heldengedenken, sondern zur Trauer um und in Erinnerung an die Opfer der beiden großen Weltkriege. Und auch der anderen, all der anderen Kriege. Wer wird sich dann erinnern, wenn in den Familien der Letzte stirbt, der noch weiß, wer der junge Kerl in seiner Uniform ist auf dem großen, eingerahmten Foto im Keller, wer die Feldpostkarten geschrieben hat im Karton, den die Eltern all die Jahrzehnte aufbewahrt hatten, wenn die Bilderrahmen von den Fensterbänken neben dem Sessel der Alten in unseren Heimen zusammen mit den anderen wenigen letzten Erinnerungsstücken aus einem langen Leben im 20. Jahrhundert abgeräumt sind.
Leben, in dem Menschen Liebste durch den Krieg verloren- Väter, Brüder, Männer, Söhne, Geliebte. Und dann gab es nach dem ersten den zweiten Weltkrieg. Und dann, wie Erich Kästner sagt, lernt der Mensch nichts dazu. Es gab also nach dem Ersten einen Zweiten Weltkrieg, und vor dem Zweiten einen Spanischen Bürgerkrieg und nach diesen Kriegen Atombomben und noch mehr Kriege- wenn auch nicht in Deutschland, so doch 7 Tage Kriege, Irakkriege, Jugoslawien, Sudan, Ruanda, Syrien,…Und den 30 jährigen Krieg über den Daniel Kehlmann schreibt und es gab den Bauernkrieg, an den vielleicht hier und da auch im letzten Jahr im Reformationsgedenken erinnert wurde.
Allein dankbar, unendlich dankbar können wir sein und sind es doch auch, dass wir und unsere Kinder in Frieden aufwachsen können. Aber reicht das? Da sind ja auch all die anderen Marthas, all die anderen Ewalds und Gustavs, die nicht Martha oder Ewald, Gustav oder Marie heißen, sondern Omran aus Aleppo, oder Aylan Kurdi aus Kobane- erinnern sie sich an diese Kinder? Ihre Bilder gingen um die Welt- der eine gerettet aber verstört- ein fünfjähriges Kind- dreck- und blutverschmiert und so verloren auf dem Sitz eines Rettungsfahrzeuges in Syrien, der andere an einen türkischen Strand gespült mit seinem blauen Höschen, seinem roten T- Shirt, das ihm seine Mutter angezogen hatte bevor die hoffnungsvolle Fahrt über das große Meer begann, die Reise, bei der diese Familie nie das Ziel, erst Europa, dann Vancouver, auf jeden Fall Frieden, nie erreichte.
Ein französischer Minister schrieb: „Er hatte einen Namen, Aylan Kurdi. wir müssen etwas tun.“ Aber was? Erinnern? Trauern? Träumen? Hoffen? Arbeiten? Woran und woraufhin? Und mit welcher Kraft und welchem Mut?
Verlesen des Predigttextes: Jesaja 2, 2-5 Ansingen der 1. Strophe des Liedes 426
Liebe Gemeinde,
dieser Text ist nicht geschrieben für eine Predigtreihe- „Gesungene Botschaften“- nicht für Gedenktage, nicht für den Volkstrauertag, nicht für traurige Jubiläen, die wir dieses Jahr begehen: 1918- Ende es 1. Weltkrieges, 1618 Beginn des 30 jährigen Krieges,
1938 Reichspogromnacht…..
Aber dieser Text scheint aktuell- immer noch und immer wieder!
Auch heute.
„Wir müssen etwas tun, sagte der französische Minister, aber was.
Erinnern? Reicht das?
Hoffen?
Uns der Verheißungen erinnern, die Gott uns auf den Weg gelegt hat?
Dieses Lied, es hat 3 Motive:
Schwerter zu Pflugscharen- das biblische Bild vom Frieden, das Jesaja, aber auch Micha, der Prophet zeichnet.
Dann eine bronzene Skulptur im Garten des Hauptquartiers der Vereinten Nationen in New York- ausgerechnet die Sowjetunion hatte es der UN geschenkt- es zeigt einen Mann der kraftvoll ein Schwert zu einer Pflugschar um schmiedet-
Und dann dieses kleine Zeichen, ein Emblem, kreisrund, das zum Symbol für Abrüstung und Umdenken, für friedvollen Widerstand und friedlichen Kampf wurde. Als der damalige mecklenburgische Jugendpfarrer Walter Schulz dieses Lied dichtete, Pfarrer in der damaligen DDR, späterer Schweriner Oberkirchenrat, gedachte er vielleicht seiner Erfahrungen im 2. Weltkrieg, als junger Mann war er in Gefangenschaft geraten – in amerikanische und englische , als man ihn in seinem U Boot gefangen nahm.
Vielleicht gedachte er auch der Bedrohung im Kalten Krieg, vielleicht gedachte er der Unfreiheit in der DDR… 1980 luden Jugendbewegungen in der DDR zu Friedensgottesdiensten ein, und es wird geschrieben für das Drucken brauchte man Erlaubnis- den Schmied aber auf Vliesstoff abzubilden und auf die Ärmel zu nähen, das ging- zunächst- dann wurde auch das Emblem verboten. Die jungen Menschen schnitten dann eben ein kreisrundes Loch dorthinein, wo vorher das Emblem war oder man nähte ein neues: „Hier war ein Schmied“. Es wurde zum Zeichen, zur hoffnungsvollen Vision, dass eines Tages Frieden sein wird.
Die Völker bekriegen sich nicht mehr, pilgern am Ende aller Tage zum Gottesberg, aus allen Himmelsrichtungen, um den Frieden, Gottes Frieden, zu feiern und zu leben. „Schwerter zu Pflugscharen“ – aus Waffen, die töten werden Geräte, die Leben möglich machen.
Wiederholen und ansingen der 1. Und 2. Strophe des Liedes.
Was wir tun können im Lichte des Herrn? Ob sein Wort tragfähig sein wird? Brauchen wir, liebe Gemeinde sie nicht, diese Visionen? Auch wenn wir sagen müssen- Lieber Jesaja, lieber Micha, keinen Tag, an dem es keinen Krieg gab. Keinen Tag, an dem nicht die Aufrüstung drohte. Keinen Tag, ohne Hass und Gewalt und die Millionen, die heute unterwegs sind, sind ja nicht einmal zum großen Frieden unterwegs, sondern einfach nur um zu überleben- in Europa, in ihren Heimatländern, den Nachbarländern, den tausenden von Flüchtlingslagern.
Ist das, was der Prophet sagt, das Lied singt, nicht einfach nur Traum? Verändert es irgendwas? „Dahin sind alle Träume von Frieden und Heimat. Der Mensch wird zum Wurm und sucht sich das tiefste Loch“ schreibt ein 20 jähriger aus Verdun am 12. Oktober 1918. „So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt“ schreibt ein anderer junger Kerl auf einer Feldpostkarte von der Front, von der nicht mehr zurückkam. Allein, geblieben diese Worte im Album einer Familie. Es ist wichtig uns ihrer zu erinnern. Ja, zu erinnern: Da war dieser Bestattungsgottesdienst in einem kleinen Dorf in der Nähe von Jülich. Die ganz Alten konnten sich noch erinnern, dass kurz vor Ende des Krieges ein Flugzeug herunter gekommen war, abgestürzt auf einem Feld. So jedenfalls stand es in der Zeitung. Die Wrackteile zog man später aus der Erde, den Piloten- man fand ihn nicht, vielleicht auch nie danach gesucht.
Bis er dann doch gefunden wurde. 70 Jahre später. Man barg seine Überreste, ein kleiner Sarg aus schwarzer Pappe auf dem Dorffriedhof. Mein katholischer Kollege und ich sollten ihn beerdigen. Wir wussten keinen Namen, kein Alter, nicht woher er kam und wer vergeblich auf seine Heimkehr gewartet hatte. Wir wussten, dass jemand von der Bundeswehr kommen würde mit Trompete den Zapfenstreich zu spielen, der Bürgermeister oder sein Vertreter und wir zwei auf dem eiskalten Friedhof im Januar, es hatte geschneit, die Straße gefroren und glatt war es den kleinen Hügel zum Friedhof hinauf.
Und dann sahen wir sie. Männer, Frauen, Alte, ganz Alte und Ältere, auch ein paar Jüngere. Sie waren aus ihren Häusern gekommen und auch anderen Dörfern. Gekommen um ihre Väter und Onkel, Großväter und Großonkel, all die Verwandten zu beerdigen, an deren Gräbern sie nie hatten treten können um ein Gebet zu sprechen, ihnen die Würde des letzten Geleits zu geben, die ihnen versagt geblieben war in Weißrussland oder Frankreich, Belgien oder der Ukraine. Sie erinnerten sich.
Erinnern. Und Trauern. Träumen und Hoffen. Es ist ein Schritt. Ein Schritt zu erinnern, an die, die gerne wieder aufgestanden wären. Wir brauchen aber auch die Erinnerung an die Vision, die Hoffnung, die Gott uns auf den Weg legt, ins Herz singt, Menschen beflügelte über den Tellerrand und das hier und jetzt hinauszuschauen. Wir brauchen Erinnern und den Blick nach vorne. Erinnern und Mut. Erinnern und Perspektive. Und selbst, wenn wir dieses große Ziel nicht erreichen, von dem Jesaja singt, so strecken wir uns danach aus. Zwischen erlebter Realität und prophetischer Vision. Zwischen Krieg Lernen, neuer Aufrüstung und Friedenssehnsucht. Zwischen Friedensehnsucht und unserer gesungenen Antwort.
Ruft Gott nicht immer noch? Mahnt Gott uns nicht immer noch? Erinnert Gott uns nicht immer noch an das Andere- das war und ist - die Liebe. Das war und ist - die Versöhnung. Das war und ist - die Hoffnung auf Frieden. Denn Gottes eigener Sohn hat alles dafür eingesetzt- sogar sein Leben. Wer zu ihm hält, wer seiner Botschaft traut, der kann selbst Werkzeug seines Friedens sein. Und anderen den Mut erhalten, dass Gottesliebe zum Menschen tatsächlich den Hass besiegen kann. Sind das nur Worte? Sind das nur Kanzelphrasen, deren Wahrheit durch jede Nachricht von Gewalt in unseren Zeitungen und dem Netz in Frage gestellt wird? Nein, liebe Gemeinde. Es ist Hoffnung. Und Gebet. Es ist Nächstenliebe und Einsatz und Mitgefühl. Es ist Widerstand und Protest. Es ist Wachsamkeit und Interesse. Das Gegenteil von Resignation und Hoffnungslosigkeit, von Rückzug ins Private und Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hassparolen und Egoismus.
Gott, hilf uns und deiner Welt, möchten wir beten. Verwandle uns, Gott, möchten wir erbitten. Lass uns in deinem Namen Herr die nötigen Schritte tun, möchten wir singen. Liebe Gemeinde, manchmal besuche ich ihn, vor allem an grauen Novembersonntagnachmittagen – in Essen. Ich setze mich zu ihm auf die Bank vor seinem Bild, im Museum – Franz Marc. Es ist das Bild eines Pferdes.
Mein Liebstes von all seinen Bildern. Es ist als stünde man hinter ihm, dem bunten Pferd mit wunderschön geschwungenem Hals und Kruppe, den Blick weit in das hügelige, in allen Farben schillernde Land. Das Gegenteil für mich von einem Kriegspferd. Frieden, das dieses Bild für mich ist ausstrahlt. Ich hab mich oft gefragt, wenn ich dort sitze, wohin das Pferd eigentlich blickt. Zurück, auf das, was hinter ihm liegt? Nach vorne in die Zukunft, die vor ihm liegt? Zukunft, die Franz Marc nicht erlebt hat? Auf jeden Fall ist es ein Innehalten.
Franz Marcs Spuren: ein paar Bilder in den Museen dieser Welt und sein Grabstein, unter dem er nicht liegt, weil er bei Verdun fiel. Ich will mir einbilden, dass dieses Pferd den Frieden sieht, noch weit entfernt. Dass es die Farben des Lebens sieht, überall am Horizont. Und dass es uns mit seinem Blick mitnimmt in diese Weite und die Hoffnung, dass es möglich ist. Und zwar nicht erst dereinst, nicht erst am letzten aller Tage, sondern wir heute – jeder mit seinem kleinen begrenzten Leben einen Stück des Weges dahin gehen kann. Darum, liebe Gemeinde ist das Erinnern wichtig, das Kränze niederlegen, das Erzählen von Vergangenem, von Wegen und auch Irrwegen, aber auch unendlich wichtig, unsere hoffentlich nie endenden Friedensgebete, und all das, was wir tun können: an unserem Ort, in unserer Gemeinde, mit unserer Stimme bei der Wahl.. . Mit unserem Widerspruch bei Hetzparolen und Sprüchen. Mit unserer Freundlichkeit und Herzlichkeit und den vielen kleinen Dingen, die wir tun.
Liebe Gemeinde, noch einmal Daniel Kehlmann:
„Uns andere aber hört man dort, wo wir einst lebten, manchmal in den Bäumen. Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser das Baches sehen. Unsere Kirche steht nicht mehr, aber die Kiesel , die das Wasser rund und weiß geschliffen hat sind noch dieselben. Wie auch die Bäume dieselben sind. Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert. Denn wir haben uns noch nicht abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch neu für uns. Und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.“
Amen
(Zum Abschluss singen wir den 3. Vers von Lied 426)
Literatur zur Predigt:
Daniel Kehlmann, Tyll, 2018,
Diverse Arbeitshilfen zum Volkstrauertag vom Bund Kriegsgräberfürsorge sowie Hinweise zum Lied EG 426 aus einer Predigt aus der Katharinenkirche Eglosheim, 2011
Anmerkung: Ich habe zum Gottesdienst eine Kopie des Bildes von Franz Marc mitgebracht, sowie auf Liedblättern das Friedensemblem“ Schwerter zu Pflugscharen“ abgedruckt.