Feinfühlig und standhaft – Predigt zu Jesaja 50,4-9 von Hans Uwe Hüllweg
50,4-9

Liebe Gemeinde,

Verkehrschaos, kaum ein Durchkommen, die Stadt wimmelt von Touristen, die Polizei ist überall präsent, Militär rund um die Stadt zusammengezogen. Die Sicherheitslage ist heikel. Man befürchtet Terroranschläge. Es gibt eine kleine, aber hochgefährliche Terrortruppe, die mit Waffengewalt, Anschlägen und, wir würden sagen, Banküberfällen zur Finanzierung ihrer Aktionen, gegen die fremden Ungläubigen vorgeht. Kaum eine Zeit ist geeigneter für Anschläge als eine Festzeit, kaum ein Platz geeigneter als die überfüllten Plätze und verstopften Gassen der Hauptstadt. Wir kennen das zur leidvollen Genüge! Berlin, Brüssel, London, Paris, Madrid – alle Metropolen sind schon Ziele solcher schrecklichen Anschläge gewesen.

Auch Jerusalem zur Zeit Jesu kann davon ein Klagelied singen. Die Reporter von damals berichten, dass aus Anlass des hohen Festes jedes Jahr über hunderttausend Touristen in die Stadt strömen, aus allen Gegenden des Landes und aus dem Ausland, ja aus der ganzen Welt, worunter man damals den Mittelmeerraum verstand. Allen steht die Vorfreude ins Gesicht geschrieben, die Vorfreude auf das große Fest, den herzbewegenden Gottesdienst, das Gemeinschaftsgefühl in einer riesigen, gleichgestimmten Menschenmenge, die sich einig weiß in der Anbetung Gottes - und in der Gegnerschaft gegen die heidnischen Besatzer. Gerade in solchen Menschenmengen können sich, die Schlimmes im Schilde führen, bewegen wie Fische im Wasser. Die Behörden sind alarmiert.

Die kleine Schar Männer, die sich da von einem ein paar Kilometer entfernten Dorf her zu Fuß auf die Stadt zu bewegen, fällt da nicht weiter auf, möchte man meinen. Doch weit gefehlt. Der Trupp erregt sofort Aufmerksamkeit. Der Ruf insbesondere eines von ihnen eilt ihnen voraus. Leute aus Galiläa erkennen ihn. Ein paar Hundert werden es gewesen sein, die ganz ergriffen sind, weil sie sich an wunderbare Predigten und wunderhafte Heilungen erinnern, Gesundung von an Leib und Seele Kranken. Ist das nicht schon von alters her prophezeit worden? So muss es sein, wenn der Messias kommt, der Menschensohn, der alles Leid dieser Welt auf sich nimmt und es damit vernichtet. So muss es sein, wenn der Messias kommt, der Gottessohn, der mit harter Hand die Heiden besiegt und aus dem Heiligen Lande wirft, damit das Volk wieder als Volk Gottes leben kann. So muss es sein! Kein Zweifel, das ist der lange schon ersehnte Messias! Sie reißen sich die Obergewänder vom Leib, brechen in aller Eile Palmzweige ab, werfen sie auf den Weg. Es muss der Messias sein! „Hosianna, gelobt sei der da kommt, im Namen des Herrn!“ Nur wenige Tage später wird die aufgeputschte Menge nur noch schreien: „Kreuzige ihn!“

Was mag Jesus durch den Sinn gegangen sein? Ob er damals an Jesaja gedacht hat, der von einem „leidenden Gottesknecht“ schreibt? Er kennt das Gesetz und die Propheten gut. Er hatte oft genug in den Gottesdiensten daraus zitiert. Er hatte oft genug ihnen allen, besonders aber den Theologen und den Kirchenpolitikern, den Scharfmachern ebenso wie den Gesetzeshütern die Leviten gelesen. Das hat ihm ja auch den Hals gebrochen, und nicht nur das, sondern überhaupt die Art, wie er von Gott sprach, wie er mit den heiligsten Traditionen des Glaubens umging - denken Sie an den Sabbat - wie er die altehrwürdigen Institutionen des Judentums um des Menschen willen in Zweifel zog. So wollten und so mussten sie es verstehen, was er sagte und tat.

Die Behörden ziehen schnell den Schluss: Der Mann ist gefährlich, vielleicht sogar einer dieser Terroristen? Jedenfalls musste er weg und das schleunigst, noch vor dem Fest.  Nicht auszudenken, was da alles passieren könnte! Immerhin gehört es sich,  wenigstens den Anschein eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu erwecken.

Ob Jesus in diesem Geschehen an den leidenden Gottesknecht gedacht hat, wissen wir nicht. Eines steht jedoch fest: Die Christen der ersten Stunde taten es. Sie lasen diese Texte aus Jesaja im Blick auf Jesus. Er ist es, es muss so sein, er war es. Er hat mit den Müden geredet. Er ist Gott gehorsam gewesen. Er hat seinen Rücken dargeboten, die ihn schlugen, sein Angesicht vor Schmach und Speichel nicht verborgen, auf ihn sind die Pfeile abgeschossen worden. So glaubten die Christen, den leidenden Knecht Gottes im leidenden Jesus von Nazareth zu erkennen.

Wir kennen den Mann nicht, der im Auftrag Gottes vor weit über 2000 Jahren diese lösenden und tröstenden Worte gesagt hat, die uns von Jesaja überliefert werden. Vielleicht hat es seinen Sinn, dass er im Geheimnis der Anonymität geblieben ist. Das könnte uns helfen, die üblichen Sehgewohnheiten für einen Augenblick zu verlassen und nicht immer sofort den Blick auf das Kreuz zu richten, das hölzern oder versilbert oder gar vergoldet auf unseren Altären steht.

Die Gestalt des namenlosen Sprechers ist eine Einladung, den leidenden Jesus nicht sogleich dort zu suchen, wo er im Rahmen des vertrauten Passionsgeschehens immer schon zu finden ist: beim Einzug in Jerusalem, in Verrat und Verleugnung, im Verhör vor dem Hohen Rat, mit der Dornenkrone auf dem Haupt, sterbend am Kreuz von Golgatha.

Entdeckt den leidenden Jesus, den Menschensohn, den Repräsentanten Gottes, doch einmal woanders! Zum Beispiel bei den unter Sturm- und Flutfolgen Leidenden in Mozambique und Malawi, bei den Gewaltopfern in Syrien, bei den Ertrinkenden im Mittelmeer, den Lebensmüden, den Vergessenen und Ausgebrannten, bei denen, deren Leben ihnen selbst wertlos scheint. Das sind alles „leidende Gottesknechte und -mägde“. Es ist nicht zu viel gesagt: In ihnen begegnet uns der leidende, der mitleidende Christus.

Mich beeindruckt, dass sich, wie Jesaja ihn schildert, in der Haltung des Gottesknechtes Feinfühligkeit einerseits und Standhaftigkeit andererseits die Hand reichen. Bei uns ist das eher selten: Wir spalten gern auf, entweder das eine oder das andere. Feinfühligkeit kann dann leicht zur Rührseligkeit verkümmern, Standhaftsein zu gefühlloser Härte. Im Gottesknecht aber verbindet sich beides auf einzigartige  Weise. Das behutsame Reden mit dem Müden und die zeitweilige Härte im Augenblick des Durchstehens. Seine Gegner können ihn schlagen und demütigen - aber sie können ihn nicht „fertig-machen“. Wie den Menschen, zu denen er spricht, sind auch ihm manche Sicherheiten zerschlagen, doch die unerschütterliche und erstaunliche Gewissheit ist ihm geblieben: Gott steht zu ihm. Darum lässt er sich nicht zerreiben und zerreißen, und darum wird er nicht zerrieben und zerrissen. Als ein Gezeichneter und Geschlagener weiß er sich immer noch von Gott gehalten, und als Bote Gottes weiß er immer noch ein Wort zu sagen, das den Gezeichneten und Geschlagenen hilft. Alles Leiden spricht nicht gegen Gott, so sage ich es mit meinen Worten, sondern im Gegenteil: Er hilft hindurch.

Aber Gott hält nicht nur zu seinem leidenden Boten, sondern eben auch zu seinem am Kreuz sterbenden Sohn. Da ist der Berührungspunkt zwischen den leidenden Gottesknecht und dem gekreuzigten Sohn Gottes. Darum sollten wir die alttestamentlichen Texte in Ehrfurcht lesen als Texte aus der Bibel des jüdischen Volkes. Aber auch als Christen dürfen wir sie lesen als pointierte Hinweise auf den gekreuzigten Gottessohn.

Verkehrschaos, kaum ein Durchkommen, die Stadt wimmelt von Touristen, die Polizei ist überall präsent, Militär rund um die Stadt zusammengezogen. Man befürchtet Terroranschläge. Es gibt eine Hinrichtung, zusätzlicher innenpolitischer Zündstoff für die Verantwortlichen in den Behörden. Der vermeintliche Revolutionär, Volksaufwiegler, Vaterlandsverräter, Gotteslästerer - alles Vorwürfe, die man ihm anzulasten versucht hat, - wurde erfolgreich zu Tode gebracht. Dass dies jedoch keineswegs erfolgreich war, dass der Totgesagte lebt, das ist bis heute umstritten. Viele glauben es immer noch, andern ist es ein Ärgernis, wieder anderen gleichgültig.

Den Jüngern und Freunden Jesu, den zu Tod Betrübten und Ängstlichen, den Flüchtenden und Enttäuschten aber halfen die alten Worte aus Jesaja, die der leidende Gottesknecht spricht:

„Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden... Er ist nahe, der mich gerecht spricht...; Wer ist unter euch, der den HERRN fürchtet, der der Stimme seines Knechts gehorcht, der im Finstern wandelt und dem kein Licht scheint? Der hoffe auf den Namen des HERRN und verlasse sich auf seinen Gott!“ (Vers 9-11)

Und denen, die glauben, dass Gott dies wahr gemacht hat an seinem Sohn Jesus Christus, hilft es in dieser immer noch von Gewalt, Leid und Tod erfüllten Welt, hilft es, zu leben, zu hoffen, fröhlich zu sein und auf Gott zu bauen. Niemals wird der Mensch eine Welt ohne Leid schaffen können, aber Gott hat es geschafft, dass auch wir nicht zuschanden werden – in dieser Welt. Amen.

 

Anregungen von Wolfgang Altpeter in PastBl 3/1988, S. 148ff und Werner Biastoch in PastBl 4/2000, S. 18ff

Perikope
14.04.2019
50,4-9