I. „Das alles bringt nichts. Diese Versammlungen werden zu nichts führen. Die Stimme der Mäßigung, die Stimme der Vernunft, war unhörbar. Sie setzte sich in dieser Orgie nicht durch.“ Zwei Männer gehen abends durch Jerusalem. Frustriert kommen sie aus einer Versammlung ihrer Partei. Man könnte meinen, das Gespräch habe sich erst gestern ereignet. Kopfschütteln über den Hass der Politiker im Nahen Osten. Und ihr Spiel mit dem Feuer.
Aber diese Männer sind im Jahr 1964 unterwegs, in einer Erzählung von Amos Oz. 16 Jahre war Israel damals alt. Derselbe Staat Israel, dessen 70. Gründungstag am vergangenen Montag gefeiert wurde. Die beiden Männer sind Mitglieder in der Partei der Mitte. Der Partei, die eigentlich für Mäßigung eintreten wollte in der Spirale der Gewalt. Aber selbst in der Mitte hatte es die Stimme der Vernunft immer schwerer. Warum nur?
Die Männer sind unterwegs in Rechavia. Diesem grünen, modern gebauten Jerusalemer Stadtteil. Vor allem gebildete deutsche Juden lebten damals dort. Auch die beiden haben ihre Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gemacht. Und sie haben daraus gelernt: Politik braucht Vernunft. Aber sie spüren: Die Gemäßigten erreichen die anderen nicht mehr. Der eine sagt: Es ist fast unmöglich, „einen berauschten Pöbel und seine leichtsinnigen, euphorischen Führer zu stoppen, die alle jubelnd dem Chaos entgegenrennen.“
Warum ist das so? Warum hat es die Vernunft so schwer? Warum lassen sich so wenige von einem besonnenen Geist ergreifen? Der eine der beiden Männer zündet sich eine Zigarette an. Mühsam schützt er die Flamme des Feuerzeugs vor dem Wind. Es gelingt ihm, die Zigarette zu entzünden. Aber schon bald geht sie wieder aus. Frustriert zertritt sie der Mann auf der Straße. Lag es am Wind? Oder lag es daran, dass er sie nicht gut genug angezündet hatte?
Diese kleine Episode ist symbolisch. Wenn die Vernunft erlischt – liegt es am starken Gegenwind? Oder liegt es daran, dass ihre Vertreter ihre Sache nicht gut genug machen? Woher könnte eine Macht kommen, die stärker ist als der Gegenwind? Und geschickter als wir unzulänglichen Menschen?
Amos Oz erzählt noch ein zweites Detail mit symbolischer Kraft: Die Gründer des Viertels Rechavia hatten viele Bäume gepflanzt. Sie hatten Gärten und Alleen angelegt, weil sie in den glühenden Steinen von Jerusalem ein schattiges, gepflegtes Viertel bauen wollten. Aber nachts nisten im Gebüsch dunkle Geschöpfe, die ihre Flügel ausbreiten und verzweifelt schreien.
Die gute, vernünftige Absicht der Erbauer überzeugt. Schatten spendende Bäume in Jerusalem zu pflanzen ist klug. Aber sie haben ungewollt eine Nachtseite. Die unheimlich schreienden Nachtvögel sind wie ein Fluch der guten Tat. So sehr wir Menschen uns bemühen – allzuoft führt unser Handeln zum unerwünschten Gegenteil.
Eine vernünftige Mäßigung in der Politik – ermutigt sie nicht sogar die Radikalen, die das als Schwäche missverstehen? Die arabischen Nachbarn Israels haben immer wieder mit Krieg gedroht. War es da nicht sogar vernünftig, im Sechs-Tage-Krieg große Gebiete für Israel zu erobern? War es nicht vernünftig, später die großen Mauern zu bauen, um das Land zu schützen. Aber es war nur eine weitere Drehung in der Spirale der Gewalt. Auch anscheinend vernünftiges Handeln lässt die schreienden Nachtvögel groß werden. Nicht nur in Israel. Auch bei uns. Und überall auf der Welt.
II. Hören wir den heutigen Predigttext. Er steht im 1. Brief von Paulus an die Gemeinde in Korinth, im 2. Kapitel [lesen: 1.Kor 2,12-16]
Ist das die Antwort auf die Fragen, die der Text von Amos Oz aufgeworfen hat: Was wir so „Vernunft“ nennen, ist gar nicht vernünftig? Sondern nur „Geist der Welt“, „menschliche Weisheit“, natürliche Torheit? Und deshalb immer wieder zum Scheitern verurteilt? Liebe Gemeinde, ganz so einfach ist es, glaube ich, nicht!
Paulus sagt: Was Gott uns schenkt, das können wir nicht von uns aus wissen. Das erfahren wir nur durch Gottes eigenen Geist. Nicht durch den Geist der Welt. Was Gott uns schenkt, das ist kein natürliches Weltwissen. Gottes Gabe erkennen wir auch dort nicht, wo unsere Vernunft zur Höchstform aufläuft: in der menschlichen Weisheit.
Paulus geht sogar noch einen Schritt weiter: Was Gott uns schenkt, das ist nach menschlichen Maßstäben sogar Unsinn. Eine Torheit. Deshalb ist Gottes Geschenk nach menschlichen, vernünftigen Maßstäben nicht zu beurteilen. Über Gottes Gabe können wir nur geistlich urteilen. Wenn wir von Gottes Geist erfüllt sind.
Aber stimmt das denn? Paulus spricht ja vom Evangelium. Gottes Geschenk ist, dass er uns erlöst. Dass er uns liebevoll behütet und bewahrt. Ist diese Einsicht für unsere Gedanken wirklich so völlig unsinnig und unzugänglich?
Hinter unserer sichtbaren Welt steht eine unsichtbare, ordnende Macht. Diese Annahme ist doch durchaus vernünftig! Die Ordnung der Natur, ihre Gesetze, ihr Entstehen aus einem einzigen Anfangspunkt – das alles spricht doch dafür. Und diese ordnende Macht muss es gut mit der Welt meinen. Gäbe es sonst diese Entwicklung zu immer höheren Lebensformen? Wäre sonst so etwas wie Vernunft und Liebe entstanden? Diese Macht – nennen wir sie Gott – will, dass sich die Welt gut entwickelt. Gott fördert seine Welt, weil er seine Schöpfung liebt. Und deshalb sollen auch wir uns förderlich und liebevoll verhalten. Das klingt doch alles sehr vernünftig!
Und doch erleben wir dasselbe, wie die beiden Männer bei Amos Oz: Diese doch so vernünftigen Gedanken finden nur schwer Gehör. Es herrscht eine überwältigende Gleichgültigkeit gegenüber Gott. Lieber haben die Leute ihren euphorischen, berauschten, leichtsinnigen Spaß.
Ist das wie bei der Zigarette, die nicht brennen wollte? Liegt es am starken Gegenwind? Oder am fehlenden Geschick derer, die vernünftig von Gott reden wollen? Oder ist es wie bei den Bäumen von Rechavia? Gepflanzt, um Schatten zu spenden, locken sie die schreienden Nachtvögel an. Die Religion könnte die höchste Vernunft sein. Aber oft ist sie ein Nistplatz für Radikale, für Hetzer, für Moralisten und Hassprediger. – Es scheint also doch Einiges für die skeptische Einschätzung des Paulus zu sprechen!
III. Wir dürfen die Radikalität von Paulus nicht überhören. Achten wir noch einmal genau auf seinen Text [erneut lesen: 1.Kor 2,12-16].
Paulus sagt nicht, dass Gottes Geschenk eigentlich auch durchaus vernünftig wäre. Und dass sich diese Vernunft nur leider nicht durchsetzt. Sondern Paulus schreibt, dass wir von uns aus gar nicht darauf kommen können. Über die Ursache davon sagt Paulus an dieser Stelle nichts. Aber sie hat wohl viel mit den Bäumen und der Zigarette zu tun. Unser Tun ist tief ambivalent. Selbst wenn wir gute, vernünftige Absichten haben, bekommen sie eine schreiende Nachtseite. Wenn dann noch Gegenwind und Ungeschick dazu kommen, ist das Scheitern nicht mehr weit.
Gottes Geschenk dagegen ist ohne jede Ambivalenz. Es ist eindeutig und ohne Schatten. Der pfingstliche Geist lässt es erkennen: Gott ist Mensch geworden, um uns zu erlösen. Gott will uns retten. Aus unseren Ambivalenzen. Und aus dem Tod. Dafür ist er Mensch geworden. Und durch den Kreuzestod hindurch in ein neues Leben gegangen. Um uns den Weg in ein erlöstes Leben zu bahnen.
Paulus spricht die Korinther als geistliche Menschen an. Sie haben Gottes Geist empfangen. Sie können wissen, was Gott schenkt. Sie haben die passenden geistlichen Worte, um darüber zu reden und zu urteilen. Und wenn wir als christliche Gemeinde diese Worte lesen, dann traut uns Paulus dasselbe ebenfalls zu!
Was folgt daraus? Ich glaube, vor allem dreierlei. Wir dürfen darum beten, dass Gott uns tatsächlich seinen Geist immer wieder schenkt. Und dass er viele Menschen mit diesem Geist erleuchtet. Dass er immer wieder Menschen mit seiner Wahrheit und seiner Liebe erfüllt.
Zum anderen haben wir selbst die Aufgabe, diesen Geist weiterzutragen. Indem wir von Gottes Geschenk erzählen. Und uns nicht davon entmutigen lassen, auch wenn viele nichts von der uns geborgten höheren Vernunft wissen wollen. Gott wird selbst dafür sorgen, dass immer wieder Menschen erreicht werden!
Und schließlich dürfen wir so leben, wie es Gottes Geist entspricht. Befreit. Angstfrei. Liebevoll und zuversichtlich. Engatiert für Frieden und Ausgleich. Ohne Angst vor dem Gegenwind und vor den schreienden Vögeln der Nacht. Unverzagt, auch wenn wir uns immer wieder ungeschickt anstellen. Wir dürfen uns immer wieder daran erinnern: Gottes Geist ist uns geschenkt. Aus ihm dürfen wir leben. Amen.
Quelle: Amos Oz, Fremdes Feuer (1964), in: ders., Wo die Schakale heulen, Berlin 2018, S. 136-171.