Gebote - Predigt zu Ex 20,1-17 von Manfred Wussow
20,1-17

Auswendig

Es ist lange her. Die Zehn Gebote musste ich einmal auswendig lernen. Das gehörte zum Konfirmandenunterricht. Es gab sogar eine Prüfung. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war. Würde ich die Reihenfolge richtig hinbekommen? Geübt habe ich. Ständig. Ich wollte auch alles richtig sagen.
Der Pfarrer schaute einen an: Drittes Gebot. Oder sechstes. Oder erstes.  Natürlich – durcheinander. Wenn wir Konfirmanden ins Stocken gerieten, ging der Pfarrer einfach ein paar Bänke weiter und fragte die „Gemeinde“, die überwiegend aus Eltern und Großeltern bestand. Ein Erfolgserlebnis war das für ihn wohl nicht. Für uns aber ein kleiner Trost. Und ein schönes Spiel. An einem Samstagnachmittag.
Jahre sind ins Land gegangen. Heute lernen Konfirmandinnen und Konfirmanden die Zehn Gebote nicht mehr auswendig. Die anderen Stücke auch nicht. Spielerisch kriegen wir es gelegentlich in der Gruppe hin, die Gebote irgendwie „richtig“ zu legen. Wir haben sie einfach auf Papierstreifen geschrieben. Ein Puzzle? Vielleicht auch. Ein Puzzle. Dann aber auch wieder nicht so dumm: Wenn wir den Geboten eine Ordnung geben, machen wir uns unsere eigenen Gedanken, wie sie zusammenhängen, was sie verbindet, was uns wichtig ist. Die Gebote können dann sogar für Überraschungen gut sein.

Ist es ein Verlust, dass viele Menschen die Zehn Gebote nicht mehr auswendig aufsagen können?
Und ist es ein Gewinn, den Zehn Geboten eine neue Ordnung zu geben?
Die Fragen sind, zugegeben, sehr spannend, für Bibelkenner eher befremdlich, für Menschen, die mit Kirche nichts mehr am Hut haben, vielleicht aber auch eine Entdeckung.

 

Die Geschichte hinter den Geboten

Erzählen wir uns doch noch einmal die Geschichte! Sie kennen sie schon? Mögen Sie sich an sie erinnern?

Das Volk Israel ist auf einem ziemlich langen Weg. Durch die Wüste! Durch Niemandsland! Ägypten, das Land der Knechtschaft, haben sie hinter sich gelassen. Nein, ich muss schon genauer hinschauen: Gott hat sie da rausgeholt. Und ihnen ein Land versprochen, in dem Milch und Honig fließen. Aber zwischen den beiden Polen – Knechtschaft in Ägypten und geheimnisumwobenes Land in der Ferne – liegt eine beschwerliche Strecke. Wobei das Beschwerlichste ist, mit sich ins Reine zu kommen. Das Volk Israel wird als halsstarrig dargestellt, als gottlos, ja, als gottlos. Ohne Vertrauen. Die Leute murren nur. Man kann es nicht mehr hören. Irgendwann verfluchen sie sogar den Tag, an dem sie aufgebrochen sind. Aus der Sicherheit ihrer Sklaverei. Das darf man sich auf der Zunge zergehen lassen: aus der Sicherheit! Aus der Sicherheit ihrer Sklaverei! Die Sicherheit wird gegen die Freiheit ausgespielt. Die Sicherheit – ein Traum. Die Freiheit – ein Verhängnis.
Nur: ein Zurück gibt es nicht, aber ein Vorwärts wohl auch nicht. Die alten Geschichten erzählen denn auch, dass sich die Leute nur noch im Kreise drehen. Vierzig Jahre! Vierzig Jahre Drehen um sich selbst. Nein, damit keine Missverständnisse aufkommen: Das mit den „vierzig Jahren“ muss keiner wörtlich nehmen, aber im übertragenen Sinn steht tatsächlich das ganze Leben, die ganze Zukunft, das ganze Glück auf dem Spiel. Und das – in der Wüste. Weit und breit – nichts. Die Schönheit der Weite ist längst dem Fluch des Immergleichen gewichen.
Und dann, mitten drin: der Sinai. Auf alten Karten haben Menschen immer schon versucht, den Weg des Volkes Israel in Gedanken nachzugehen. Fein mit dem Finger auf der Karte. So ganz wollte das noch nie klappen. Die Karte ist zwar genau, ziemlich genau, aber keine Karte bildet die Herzen der Menschen ab, die Wege, die sie gehen, die Wege, auf denen sie sich verlieren. Doch jetzt spricht Gott. Haust er auf der Höhe des Berges? Hat er sich hier kurzfristig zurückgezogen? Lädt er hier - zum Rapport? Gar zur großen Abrechnung?
Nein, zum Rapport lädt er nicht. Er hat die Menschen in sein Herz geschlossen. Er hat ihnen zugehört und ihre Klagen verstanden. Er war immer dabei. Jeden Tag. Jede Nacht. Unerkannt. Inkognito. Er war mit ihnen auch schon in Ägypten. Da hat er ihr Seufzen gehört, ihre Enttäuschungen gesehen. Als er sein Volk sozusagen in die Freiheit schickte, umgab auch ihn die Wüste. Die Hitze tagsüber, die Kälte in der Nacht.

Jetzt muss es sein: eine Verheißung, eine Zusage von Zukunft. Für Menschen, die schon lange keine Heimat mehr haben. Und keine Worte. Vierzig Jahre fangen an, klein zu werden.

 

Was Gott redet

Stellen wir uns doch dazu! „Und Gott redete alle diese Worte:
Ich bin der Herr, dein Gott. Aus Ägyptenland habe ich dich geführt, herausgeführt aus der Knechtschaft. Du brauchst keine anderen Götter mehr, die dir sagen, was du tun und lassen sollst, die dich gefangen nehmen, die dir Angst machen.
Von mir musst du dir auch kein Bild machen. Ich möchte mich nicht festlegen lassen. Von dir nicht, von keinem Menschen. Auch von deinen Stimmungen, deinen Träumen nicht. Ich bin so viel mehr als du dir vorstellen kannst – meine Liebe umfasst Himmel und Erde, die Meere, die Inseln, die ganze Welt. Mir ist kein Mensch fremd, egal, wo er lebt, wo seine Erinnerungen zu Hause sind, wie er mich nennt.
Viele Menschen meinen, sie könnten mich vor ihren Karren spannen, mich für ihre Zwecke einsetzen, mit mir sogar Geschäfte machen. Immer dieses Geld! Sie glauben, sie wären mit mir auf „du“ und „du“, selbst, wenn alles nur Unheil ist, was sie über andere Menschen, über die Natur, über meine Geschöpfe bringen. Nein, meinen Namen gebe ich nicht her! Du kannst mich anrufen – in meinem Namen hast du nichts zu reden. Mein Name ist: Ich warte auf dich. Ich gehe mit dir. Ich führe dich in mein Reich. In mein Reich!
Mein Reich kannst du in jeder Woche schon einmal spüren! Einen Tag der Ruhe habe ich dir geschaffen. Deine Arbeit geht nicht einfach weiter. Sie wird unterbrochen. Du kannst ausspannen – du kannst feiern – du darfst ruhen. Nicht nur du: Deine Kinder, deine Mitarbeiter, die Menschen in deiner Nähe sollen aufatmen."

„Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.“

 

Rhythmus des Lebens

So hören sich die ersten vier Gebote an! Sie beginnen mit dem Auszug aus der Knechtschaft – und führen in die große Freiheit. Gott selbst outet sich – auf einem Berg, aber in der Wüste – als der Anführer ins Leben. Im Rhythmus von 7 Tagen, im Rhythmus unserer Lebenszeit, im Rhythmus von Arbeit und Ruhe, von Anspannung und Ausatmen, bekommt unser Leben Konturen.
Doch: Die Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, schon mal gar nicht der Mann: Die Krone der Schöpfung ist die große Ruhe, die von Gott ausgeht, die ihm umgibt, in die er führt. Gott hat den einen Tag – in jeder Woche – heilig gemacht. Für uns.

Martin Luther hat den Schabbat, diesen siebten Tag, mit dem Sonntag zusammengesehen. Dem ersten Tag der Woche. Dem Tag der Auferstehung Jesu.

 

Wie es weitergeht

Das Volk Israel ist tatsächlich angekommen. Ob das Land, in das sie kamen, wirklich nur Milch und Honig war? Nein, in der Fremde mussten sie noch einmal neu anfangen und auch ihren Weg finden. Da ist auch manches gründlich schief gelaufen.
Wir könnten, bei anderer Gelegenheit, diesen verwickelten und verzwickten Geschichten nachgehen. Aber es genügt auch, von unseren kleinen und großen „Aufbrüchen“ in unser Leben zu erzählen. Die großen Erwartungen, die ersten Enttäuschungen und die unbändige Hoffnung.
Auf ihrem Weg in die neue Heimat haben die Menschen, die damals so lange unterwegs waren, nicht nur diese vier „Gebote“ (oder Zusagen) Gottes erhalten – er hat ihnen Weisungen mitgeben, die überhaupt erst ein Zusammenleben, Glück, möglich machen. Da spielt ein Mensch eine besondere Rolle: der Nächste. Zunächst: Der Nächste ist der andere. Neben mir. Vielleicht auch zusammen mit mir. Aber immer: der andere. Nehme ich nur mich in den Blick, kenne ich nur meine Geschichte, will ich nur mit mir zu tun haben – dann ist das Unheil nicht weit. Ein anderer Mensch kann dann ausgenommen, Interessen geopfert und meinem Größenwahn dienstbar gemacht werden. Nicht nur Gott wird missbraucht – jeden Tag werden Menschen missbraucht. Von Menschen. Der sexuelle Missbrauch ist einer unter vielen anderen.

In sechs Geboten, den Tagen gleich, die vor der Ruhe kommen, wird dem Nächsten von Gott Achtung und Ehre zuteil: Vater und Mutter – und jedem Menschen. Sein Leben ist zu schützen. Ihm darf nichts weggenommen werden. Weder Frau noch Mann, weder Geld noch Gut, weder Hoffnung noch Arbeit.

Die üble Nachrede, die bewusste Irreführung, die hinterhältige Verlogenheit – sie haben keinen Raum bei dir. Und immer: Du sollst nicht …
Einprägsam ist das. Wie in einer Litanei. Aber an den Fingern abzuzählen. Du sollst nicht … Doch gemeint ist, positiv: Du darfst, du kannst einen Menschen lieben, ihn mit Achtung begegnen, dich seiner annehmen – und dann darfst du „du“ sein. Deinen eigenen Weg gehen. Eigenen Träumen nachhängen. Eigene Geschichten schreiben. Dann wird es dir auch gelingen.

Du sollst nicht im Schutz der Anonymität über einen Menschen herfallen.
Du sollst nicht in deiner Blase Verschwörungstheorien entwickeln.
Du sollst nicht in deiner Community Ängste schüren.
Du sollst nicht Migranten ihre Würde nehmen.
Du sollst nicht hassen.

Manchmal muss auch diese Form gewahrt bleiben: Du sollst nicht! Und: Ich bin der Herr, dein Gott – der ich dich geliebt habe, der dich liebt, der seine Liebe nicht zur Disposition stellt.

 

Die eigene Reihung

Es ist lange her. Die Zehn Gebote musste ich einmal auswendig lernen.
Jahre sind ins Land gegangen. Heute lernen Konfirmandinnen und Konfirmanden die Zehn Gebote nicht mehr auswendig. Spielerisch kriegen wir es gelegentlich in der Gruppe hin, die Gebote irgendwie „richtig“ zu legen.
Das ist eine tolle Möglichkeit: Eine Liebesgeschichte erzählen. Gottes Liebesgeschichte. Und die Geschichte einer großen Befreiung. Es könnte wie Schuppen von den Augen fallen: Das „du sollst“ verwandelt sich in ein „ich kann“.
Vielleicht ist eine einfache Übersetzung auch: Ich kann einen Menschen – in Ruhe lassen.
Da bin ich Gott sehr nahe. An ihn will ich denken.

Im Brief an die Gemeinde zu Ephesus (5,19f.) heißt es:
Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen
und sagt Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus.

 

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserem Herrn.

Perikope
08.10.2023
20,1-17