Gott unterscheidet anders
Die Kenner unter Ihnen wissen, dass für die Predigttexte eine Ordnung existiert, die vorgibt, über welchen Text an welchem Sonntag zu predigen ist. Nun ist die aktuelle Ordnung der Predigttexte aus dem Jahr 1978 – und etwas in die Jahre gekommen. Aktuell wird sie überarbeitet und seit einigen Wochen liegen die Vorschläge für die neue Ordnung vor. Bevor diese Ordnung in Kraft tritt, soll sie geprüft und ausprobiert werden. Und das will ich gerne tun. Einer der neuen Texte für den heutigen Sonntag ist Galater 3,26-29. Über diesen absolut zentralen Text wurde bislang überhaupt nicht gepredigt. Gut, dass sich das ändern soll. Ich lese aus dem Brief des Paulus an die Galater Kapitel 3 die Verse 26-29:
Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.
1. Taufkleid. Früher gab es sie öfter: die weißen Taufkleider für Säuglinge. Immerhin: manchmal wird auch hier in der Christuskirche ein Säugling im weißen Kleid zur Taufe gebracht. Die Tradition ist sehr alt. Auch Erwachsene, die sich taufen ließen, waren über Jahrhundert mit einem weißen Kleid umhüllt. Bei den Baptisten lebt die Sitte bis heute fort. In manchen Familien wird das weiße Taufkleid über Generationen weitergegeben. Die Namen der darin getauften Säuglinge werden auf das Kleid gestickt.
Die Sitte des weißen Taufkleids – sie hat ihren Ursprung in unserem Predigttext, denn es handelt sich um eine alte Taufformel, die die Metapher des Kleides nutzt: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ Bei der Taufe zieht der Mensch Christus an und wir zu einem neuen Menschen, zu einem Menschen Gottes. Die symbolische Farbe für Christus ist seit alters weiß. Das weiße Kleid ist somit das Symbol dafür, dass der Mensch Christus anzieht. Das geistliche Geschehen der Taufe wird durch das weiße Gewand sichtbar veranschaulicht: Bei der Taufe werden wir mit Christus umkleidet. Wir sind neue Kreatur, wie Paulus an anderer Stelle sagt. Durch die Taufe wird der alte, sündige Adam abgelegt. Wir sollen ein neuer Mensch sein, der Mensch, wie ihn Gott gemeint hat und wie er in Christus erkennbar geworden ist.
2. Gott unterscheidet anders. Die Taufe macht einen Unterschied. Sie teilt das Leben in vorher und nachher, so wie wir auch unsere Zeit in die Zeit vor und nach Christus einteilen. Die Taufe macht den Unterschied zwischen dem alten Adam und den neuen Menschen in Christus. Für diese neuen Menschen werden die alten Unterscheidungen bedeutungslos: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
Die Unterscheidungen, die Paulus hier aufzählt, sind die fundamentalen sozialen Unterscheidungen seiner Zeit. Die Juden sind das alte Gottesvolk, dem die Verheißung Abrahams und der Segen Gottes gilt. Ihnen gegenübergestellt sind die Griechen. Sie stehen für alle Heiden, also für den Rest der Menschheit. Im Judentum gab es immer wieder Tendenzen, die Trennung zwischen Juden und Heiden zu überwinden. Gezielt sind deshalb in den Stammbaum der Davidskönige auch heidnische Frauen eingefügt, die Hure Rahab zum Beispiel oder auch Rut. In dieser Tradition stehend setzt Paulus nun einen neuen Markstein. Die alte Grundunterscheidung zwischen Juden und Heiden wird aufgehoben. Paulus wischt sie einfach weg. Sie hat keine Bedeutung mehr. Gott unterscheidet anders. Aus welcher religiösen Tradition jemand kommt, ist gleichgültig. Wer getauft ist, ist allen anderen Getauften gleich.
Doch nicht nur die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden wird von Paulus fortgewischt. Er setzt gleich noch eines drauf und erklärt auch die Unterscheidung von Freien und Sklaven für aufgehoben. Die Radikalität dieser Sätze kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Große Teile der Bevölkerung des römischen Reiches lebten als Sklaven. Der Unterschied von Sklaven und Freien war fundamental für die ganze Gesellschaftsordnung. Und in diese Situation hinein verkündet Paulus, dass Gott so nicht unterscheidet. Wer getauft ist, ist allen anderen gleich. Dass Sklaven diese Worte gerne hörten, liegt auf der Hand. Das Wunder ist, dass auch viele Freie diese Worte ernst nahmen und ihnen Geltung verschafften. Der Kampf gegen das Gräuel der Sklaverei beginnt hier bei diesen Sätzen des Apostels. Jede Taufe setzt das Zeichen: Alle sind gleich.
Das gilt schließlich auch für die Unterscheidung von Mann und Frau. Ob Paulus wirklich ahnte, was er damit in Gang setzte? Immerhin wissen wir aus Paulus’ eigenen Briefen, dass er Frauen als Leiterinnen und wichtige Ansprechpartnerinnen anredete. Am Ende seiner Briefe finden sich Grußlisten und sie lassen tatsächlich eine Gleichrangigkeit von Frauen und Männern erkennen. Eine uns sonst unbekannte Junia nennt er sogar Apostelin, so wie Paulus sich selbst immer als Apostel, als Gesandter Jesu Christi bezeichnet hat. Auch von Grabinschriften wissen wir, dass Frauen im ersten christlichen Jahrhundert alle Leitungsposten in christlichen Gemeinden bekleiden konnten. Wenn Paulus sagt, in Christus gilt nicht Mann noch Frau, so scheint tatsächlich für eine kleine Zeit dieser sonst so wichtig genommene Unterschied zwischen den Menschen seine Bedeutung verloren zu haben.
Allzulange währte dieses Glück jedoch nicht. Je mehr sich das Christentum ausbreitete und je weiter es Teil der Mehrheitsgesellschaft wurde, umso weiter setzten sich die alten Kräfte und die alten Unterscheidungen wieder durch. Das Zeitalter Adams, der alte Äon (Zeitalter), die Kräfte der Beharrung und der alten Ordnung erwiesen sich auf Dauer als sehr, sehr stark.
3. Widerstände des alten Äons. Das alte Zeitalter, das Zeitalter Adams, das Zeitalter Kains, der seinen Bruder Abel erschlägt, ist weiter mächtig. Jeden Tag hören wir derzeit von schrecklichen Ereignissen in Syrien oder im Irak. Die Milizen der IS schlachten Menschen ab, einfach, weil sie nicht zu ihnen gehören, weil sie etwas anderes glauben und sich nicht unterwerfen wollen. Der Gedanke, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, unendlich wertvoll und schützenswert, ist ihnen fremd. Und wenn sie den Gedanken kennen wie jene, die aus Europa nach Syrien in den Krieg ziehen, dann verachten sie ihn. Es wird viel Zeit und Geduld brauchen, bis auch die Kämpfer der IS ihren Irrtum und ihr Unrecht erkennen. Bis dahin gilt, was Jesus sagt: Liebet eure Feinde. Die Feindesliebe schließt aber nicht aus, dass man dem Treiben der IS durch militärische Gewalt ein Ende setzt.
Wie schwer die Überwindung der alten, der adamitischen Unterscheidungen ist, zeigt uns auch die Erzählung von Jesus und der kanaanäischen Frau, die wir in der Schriftlesung gehört haben (Matthäus 15,21-28). Eine heidnische Frau bittet Jesus um Hilfe für ihre kranke Tochter. Weil Jesus sonst allen beisteht, die ihn bitten, erwartet man, dass er auch dieses Mal hilft. Doch weit gefehlt. Jesus ignoriert die Frau. Ganz gezielt und ziemlich eisig schweigt er. „Er antwortete ihr kein Wort“, heißt es. Da wenden sich seine Jünger an ihn und fordern ihn zur Hilfe auf, damit die Frau nicht weiter stört. Jetzt wird die Szene noch krasser: Jesus sagt den Jüngern, er sei nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels gesandt. Da lebt sie noch, die alte Unterscheidung von Juden und Heiden. Aber damit nicht genug. Als die Frau weiterbittet und fleht und sich vor ihm niederwirft, da kommt dieser furchtbare Satz: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ – Ein durch und durch diskriminierender, anstößiger, inakzeptabler Satz Jesu. Er bezeichnet die heidnische Frau als Hund. Mehr Verachtung geht kaum. Doch die Frau lässt sich nicht beirren. Sie wird Demütigungen dieser Art gewohnt sein und weiß damit umzugehen. Klug und hartnäckig zugleich kontert sie: „Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Da endlich erkennt Jesus, dass auch diese Frau, dass auch die Heiden zu seiner Mission zählen und er wendet sich der Frau zu und hilft. Jesus sagt: „Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“
So stark, so zäh, so schier unüberwindlich sind die Unterscheidungen des alten Äons, dass auch Jesus nur durch die unglaubliche Kraft jener Frau lernt, diese Unterscheidungen hinter sich zu lassen. Ob diese harte Szene historisch ist, fragt man sich. Immerhin gibt es mehrere Erzählungen, in denen Jesus ganz selbstverständlich erkrankte Heiden heilt. Was aber sicher historisch ist, ist die unglaubliche Härte und Festigkeit der alten Unterscheidungen nach Religion, Ethnie und Geschlecht. Der alte Äon ist zäh und mächtig.
4. Menschen des neuen Äons. Wenn eine neue Religion entsteht, muss neu sortiert werden, was von Gott ist und was nicht. Paulus stellt dabei für das entstehende Christentum die Weichen: Religiöse Herkunft, ethnische Zugehörigkeit oder Geschlecht haben keine Unterscheidungskraft für jene, die durch die Taufe zu Christus zu gehören. Die neue Welt, die Welt Gottes, der neue Äon legt auf diese Unterscheidungen der alten Welt keinen Wert mehr. Für eine kurze Zeit der Christentumsgeschichte waren diese Regeln tatsächlich in Kraft – und das Wissen um sie ging auch nie ganz verloren. Aber dann waren die Kräfte des alten Äons lange Zeit doch wieder sehr stark. Es brauchte fast zwei Jahrtausende bis die Sklaverei wirklich geächtet wurde – und die Diskriminierung von Frauen ist bis heute auf der Agenda der unerledigten Menschheitsaufgaben.
Doch entsteht für uns Christen in der sich globalisierenden Welt eine neue Herausforderung. Wir müssen einen Schritt weiter gehen als Paulus. Der Apostel sah den alten Unterschied zwischen Juden und Heiden durch die Taufe überwunden. Alle sind eins in Christus. Doch so entstand ein neuer Unterschied, der Unterschied von Christen und Heiden. Die Folgen auch dieser Unterscheidung waren oft genug blutig. Heute müssen wir lernen, auch diese Unterscheidung hinter uns zu lassen.
Das, wofür Jesus eintrat und steht – Gottvertrauen, Gerechtigkeit und Liebe –, das erkennen wir auch bei Menschen außerhalb der Grenzen des Christentums wieder. Der Gedanke ist an sich alt. Die Christen haben immer schon die großen Philosophen Sokrates oder Aristoteles als Verwandte und als vertraute Geister wahrgenommen. In einer globalen Welt müssen wir uns diese alte Erkenntnis neu aneignen. Und dann erkennen wir Verbündete und Freunde auch unter Buddhisten, Muslimen oder Atheisten. Eine muslimische Verbündete wurde vom Nobelkomitee für den Friedensnobelpreis ausgewählt: Die siebzehnjährige Schülerin Malala Yousafzai aus Pakistan. Sie hatte schon als elfjährige Schülerin auf einer Webseite der BBC über Gewalttaten der Taliban im Swat-Tal in Pakistan berichtet. Die Taliban zerstörten Schulen für Mädchen, verboten ihnen den Schulbesuch, das Hören von Musik, das Tanzen und das unverschleierte Betreten öffentlicher Räume. Malala berichtete mit Hilfe ihres Vaters über das Treiben der Taliban. Für ihren Einsatz wurde sie in Pakistan geehrt. Im Oktober 2012 lauerten dann Taliban-Kämpfer ihrem Schulbus auf und schossen ihr aus nächster Nähe in den Kopf. Die Taliban bekannten sich zu der Tat und gaben als Grund den Einsatz Malalas für die Bildung von Mädchen an.
Malala überlebte schwer verletzt. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie in England. Sie kann wieder reden und geht zur Schule. Im Chemie-Unterricht erfuhr sie an Freitag, dass sie als Jüngste überhaupt mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird. Der Presse sagte sie darauf folgendes: „Ein Mädchen ist nicht vorherbestimmt, eine Sklavin zu sein. […] Es ist nicht nur eine Mutter, nicht nur eine Schwester, nicht nur eine Ehefrau - es sollte eine Identität haben und anerkannt werden, mit den gleichen Rechten wie ein Junge."
(aus: http://www.spiegel.de/politik/ausland/malala-yousafzai-friedensnobelpre…. Absatz vorher mit Material aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Malala_Yousafzai, Stand 10.10.2014, 21 Uhr)
Ich glaube, dass auch diese junge Muslimin zu den Menschen des neuen Äons gehört. Die alte Unterscheidung von Christen und Heiden greift hier nicht mehr. Malala ist uns vertraut mit ihrer Haltung, ist ein Vorbild in ihrem Einsatz für die Rechte von Mädchen auf Bildung und Gleichberechtigung. Hätte Paulus die Entscheidung des Nobelpreiskomitees zu kommentieren, würde er sagen: Malala hat verstanden, was ich meinte, als ich schrieb: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau.“ – Amen.