"Gottes Hand – zum Bund Euch ausgestreckt", Predigt über Jeremia 31, 31-34 von Maximilian Heßlein
31,31
Gottes Hand – zum Bund Euch ausgestreckt
31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR;
33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Liebe Gemeinde,
eigentlich war ihm nur unglaublich übel, möglicherweise auch schwummerig vor den Augen. Er wollte sich eben noch hinlegen. Danach stand er nicht mehr auf, nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht mehr konnte. Nichts war mehr möglich, kein Schreien, kein Laufen, kein Armheben oder auch nur den kleinen Finger zu krümmen. Es war wie ein bitterböser Alptraum, aus dem es aber kein Erwachen gab, weil auch die Augen den Befehlen zum Öffnen nicht mehr gehorchten. „Es war die Hölle.“ Das Leben schien aus seinem Körper entschwunden zu sein. Jegliche Bindung war weg. Der Bund des Lebens hing pochend bis zum Hals bestenfalls noch an einem seidenen Faden.
Als später der Arzt kam, hörte er alles. Seinen vermuteten Tod. „Und Exitus!“, sagt der. Trotzdem die schnelle Fahrt in das nächstgelegenen Krankenhaus. Notaufnahme. Offensichtlich aufgeregte, sich schnell bemühende Menschen, Ärzte, Schwestern und Pfleger. Und dann die Diagnose: Locked-In-Syndrom.
Vielleicht, liebe Gemeinde, haben Sie schon einmal etwas von diesem Locked-In-Syndrom gehört? Ein lebendiger Tod. Vielleicht auch ein totes Leben. Je nachdem.
Nichts funktioniert mehr im Körper. Keine Bewegung, wirklich keine. Nicht einmal die Augen lassen sich mehr öffnen, auch die Atmung setzt aus. Totaler Stillstand. So jedenfalls habe ich das verstanden.
Die Wahrnehmung aber, die läuft auf vollen Touren. Berührungen sind zu spüren, das Gehör ist intakt. Das Herz schlägt. Ansonsten ist der Mensch vollkommen heruntergefahren, als ob jemand den Standby-Schalter gedrückt hätte. Ein Geist gefangen in sich selbst ohne Aussicht auf Befreiung. Jeder Schrei bleibt stecken, jede Regung starr. Die Betroffenen versterben in aller Regel nach kurzer, quälender Zeit auf den Intensivstationen der Krankenhäuser.
Es war tatsächlich eine Höllenvorstellung, die sich zumindest in meinem Kopf breit machte, als ich neulich in einer großen deutschen Tageszeitung [Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 4. Mai 2012, S. 3] die Geschichte von Karl-Heinz Pantke las. Locked-In-Syndrom. Eingeschlossenheits- oder Gefangenheits-Syndrom.
Ihn ereilte dieses Schicksal im Alter von 39 Jahren, zwei Jahre jünger als ich. Damals war er Assistenzprofessor für Physik. Das Leben ging seiner Wege.
Sie können sich vorstellen, da bekommt man schon einen Schreck. Und es beschleicht einen das ungute Gefühl: Das könnte mir ja auch passieren und dann wäre ich nicht in der Lage, mich irgendwohin zu bewegen oder mich irgendwie mitzuteilen, meine Empfindungen, meine tiefe Not, meine Sorgen und Ängste. Und das alles wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel. Zack und aus. Selten war mir die luthersche Bitte um Behütung vor bösem schnellem Tod näher als hier.
In den Artikeln, die ich nach der Reportage in der Zeitung gelesen habe, wird dieses Locked-In-Syndrom als ein Schlaganfall des Stammhirns beschrieben, der dazu führt das der Mensch eingeschlossen ist in sich selbst [Quelle: http://www.locked-in-syndrom.org/] . Die Krankheit sei wohl so alt wie die Menschheit selbst, schreiben die Autoren. Eingeschlossen, bewegungsunfähig, aber mit voller Wahrnehmungskraft.
In der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte, liebe Gemeinde, hatte ich so manches mal das Gefühl, dass ich dieses Gefangensein, dieses Eingeschlossensein ohne Entrinnen sehr genau allerdings auf einer ganz anderen Ebene kenne. Ich will mich da mit den Patienten des Locked-In-Syndroms körperlich nicht vergleichen, aber das Gebundensein an mich selbst, ja, diese Gefangenschaft kenne ich. Sie nicht auch?
Es sind diese Momente des Lebens, in der jede Kommunikation nach außen kaputt geht oder eine ungeheure Last darauf liegt, dass ich darunter eher zerbreche, als dass ich mich mitteile oder mitteilen kann. Das passiert in tiefen persönlichen Krisen und Nöten, in denen keine Bindung mehr hält, sondern das Leben zerfasert und zerfleddert wie ein alter Schnürsenkel und ich endlich vor den Scherben meiner Existenz stehe und mich frage, wie konnte das nur so werden.
Wenn wir Menschen so auf uns selbst zurückgeworfen sind, wenn wir uns nur noch um uns selbst drehen können und wir in dieser Not leben oder leben müssen, weil wir sie uns selbst oder sie uns von außen aufgezwungen wird, dann bekommt das Leben einen ungeheuren Schlag, weil ich in keiner Weise mehr fähig bin, selbst zu bestimmen und zu entscheiden, wohin mich meine Wege nun führen sollen und wie ich da hinkomme, weil ich auch niemandem meine Not, meine Angst mitteilen kann, weil ich damit abends ins Bett gehe und morgens damit wieder aufwache und ich den Weg nicht finde, aus mir heraus zu den anderen, um etwas von mir mitzuteilen.
Liebe Gemeinde, ich vermute, Sie kennen alle das eine oder andere Stück davon. Und Sie wissen, auch darunter droht das Leben irgendwann zu versterben, wenn es nicht neu beatmet und belebt wird.
Nicht viel anders wird das wohl dem Volk Israel ergangen sein, als es sich zur Zeit des Propheten Jeremia im Exil zu Babel wiederfand. Die alte Verlässlichkeit und Heimat zerstört, das Leben des Volkes beherrscht von allen möglichen Feinden außen herum, und die Zukunft leuchtete nicht mehr, sondern war einzig und allein verhüllt von einem dunklen und grauen Schleier. Gefangen und eingeschlossen. Nein, da wird kein Leben mehr sein.
In der Geschichte des Volkes Israel hatte es solch eine Situation schon einmal gegeben. Sie wissen das, liebe Gemeinde. Die Gefangenschaft in Ägypten, die unentrinnbare Arbeit, das Sterben unter der Last der Bedränger. All das war schon einmal vorhanden und die Erinnerung daran war natürlich in das Gedächtnis des Volkes eingebrannt. In der Bedrohung herrschte abermals nur noch Stummheit und Stille. Da war nichts mehr, was noch irgendwie halten und retten, schützen und bewahren konnte.
Die Bundesgeschichte Gottes mit seinen Menschen am Ende. „Da ist kein Gott!“, sagt meine Seele, sagt mir die einflüsternde Welt. Du bist allein, verloren, ausgeliefert und verlassen. In unendlicher Starre und Dunkelheit. Angstvoll schlägt das Herz. Gebunden in der Höll.
Wenn ich das nun aber von Gottes Anfängen mit seinen Menschen her beschaue, ist das nun gerade nicht sein Ziel gewesen. Waren Mensch und Gott, Gott und Mensch nicht immer direkt aufeinander bezogen? Das geht doch von der kunstvollen Erschaffung des Menschen aus einem Klumpen Erde über die innige Partnerschaft bei der Frage nach den Namen der Tiere und was denn die richtige Gemeinschaft für den Menschen sei, das geht über Noahs Bogen und den Segen Abrahams, über Isaaks Rettung und Jakobs Kampf hin zu Mose.
Liebe Gemeinde, all diese Begegnungen waren Teil des Urbundes Gottes mit seinen Menschen, in denen er gesprochen hat: Sei mein Mensch. Sei mein Partner in dieser Welt. Und sei mein Mensch, heißt dann eben auch, sei frei, sei der ungebundene Herr deines Lebens, sei geliebt und liebe selbst, Dich und andere, und also bleibe mein Geschöpf, als das ich Dich gewollt habe, Partner meines Handelns in der Welt.
Wie oft hat er es versucht und wie oft musste Gott wieder von vorne anfangen, weil der Mensch versucht hat, sich selbst über das Leben zu erheben, weil lieben so schwer fällt in einer lieblosen Welt, weil Friede und Vernunft so unnütz erscheinen, wenn ich auf die Gewalt der anderen schaue und die meine, weil der Grund meines Lebens vielleicht doch eher in mir selbst zu finden ist als bei irgendwem sonst. Die Welt ist voll davon. Ich bin voll davon. Vom Urbund Gottes entbunden, Ihr Lieben, und gebunden an das eigene Leben.
Das hat übrigens in der Verkehrung des Bundes einen schlimmen Haken, so finde ich. Wie sehr nämlich kommen Menschen dadurch auch heute unter Druck, wenn sie lieber leben statt sterben wollen, auch wenn nach unseren kleinen menschlichen Maßstäben dieses Leben nicht mehr als lebenswert gilt. Wie sehr wird heute wie selbstverständlich davon gesprochen, dem eigenen Leben ein Ende zu machen, wenn Bewegung nicht mehr möglich ist, nur das Herz sich noch regt. „Lieber tot als gelähmt.“ Das habe ich auch immer mal gedacht.
Wie sehr müssen manche gesellschaftlichen Gruppen um Anerkennung und Zuwendung kämpfen, um Nähe und Liebe buhlen. Wie sehr werden manche eingeschlossen in sich selbst ohne die Chance nach außen zu treten, ohne das wahrgenommen wird, wie fest da die Herzen schlagen und bereit sind, sich in das Leben zu stellen. Manche Behindertenverbände können da sicher ein Lied von singen.
Wie sehr befördern wir heute den Eindruck, bevor ich jemandem zur Last falle, bevor ich meine Lebenskrise jemand anderem aufbürde, möchte ich lieber sterben.
Liebe Gemeinde, ein schneller, gesegneter Tod kann ungeheuer befreiend sein für den Sterbenden wie für seine Angehörigen. Aber ein verordneter Tod ist das nicht. Der ist und bleibt falsch, weil er das Leben des Menschen nicht mehr als Leben anerkennt, solange es währt, sondern sich selbst darüber erhebt und meint, er könne entscheiden. Diesen verordneten Tod aber, den gibt es eben auch im Leben.
Gottes Bund, liebe Gemeinde, der ist ein anderer. Er weiß, und das gibt er seinem in der neuerlichen Gefangenschaft liegendem Volk in Babel weiter, er weiß darum, dass uns das Leben manchmal so sehr bindet, dass wir bewegungsunfähig sind, dieses Gesetz Gottes, sei mein Mensch, diesen Urbund mit ihm, zu erfüllen und als gleichwertiger Partner an seiner Seite zu sein. Er weiß, wie kräftig unser Herz noch schlägt darin. Und so nimmt er es in seine Obhut und gib sein eigenes Herz da hinein, er schreibt es endlich mit seinem eigen Fleisch und Blut.
Weswegen er, damit wir da wirklich ganz sicher sind, weswegen er sich also aufgemacht hat, diesen Bund neu und ewig zu schließen, ihn unverbrüchlich zu machen, mit seiner Liebe, mit seiner Gegenwart in den bittersten Stunden, die das Leben für einen bereit halten kann, endlich mit seinem Dasein für uns alle hier und heute.
Sie wissen alle, wie sehr Gottes Volk diesen Bund, in die Herzen geschrieben, in seiner Geschichte gebraucht hat, ja, das wissen Sie alle miteinander, da brauche ich nicht viel davon zu erzählen. Sie wissen auch alle, wie sehr die Missetat der Väter unser Leben auch heute noch begleitet. Dabei sind wir doch seit 2000 Jahren Bundesgenossen, Ihr Lieben, oder etwa nicht?
Dass Gott diesen Bund nämlich über sein altes Volk hinaus geweitet hat, haben wir in Jesus Christus erfahren. Durch ihn sind auch wir geheilt und gehalten, durch ihn haben auch wir eine Sicherheit ins Herz gegeben. Die Errichtung des Kreuzes auf Golgatha ist Gottes Bundeszeichen an uns. In den Tiefen des Lebens ist er da und gegenwärtig und lässt sich nicht vertreiben auch nicht durch unser noch so heftiges Drängen und Drücken.
Nur der Vollendung dieses Bundes in unseren Herzen, dass wir eben nicht mehr hadern und zweifeln, sondern uns mutig daran machen, diesen Weg zu gehen, dieser Vollendung harren wir. Geschrieben, Ihr Lieben, ist der Bund. Lesen müssen wir ihn noch.
Deswegen will ich Sie gerne noch erinnern, dass einer wie der Liederdichter Jochen Klepper diesen Bundesschluss Gottes in seine ganz persönliche Biographie mit genau dieser Spannung von Zusage und Erfüllung hinein genommen hat; als Ehemann einer Christin mit jüdischen Wurzeln hat er in dunkelster Zeit der Missetat der Väter ein wunderbares Lied geschrieben, eigentlich ein Hochzeitslied, aber er hat darin verarbeitet all die Dinge, die auch uns als Kinder des Glaubens so tief betreffen, dass wir von Liebe und Huld und Barmherzigkeit, von der Lindigkeit der Gegenwart Gottes etwas erleben können. Das singen wir jetzt gleich miteinander.
Davor aber muss ich Ihnen noch eines zu Ende erzählen. Es gibt einen Vorschein auf die Erfüllung des Bundes in Gott an vielen verschiedenen Stellen des Lebens. Auch heute und mitten unter uns.
Karl-Heinz Pantke, Sie wissen noch, der in sich selbst eingeschlossene und gefangene Mann, Karl-Heinz Pantke nämlich ist solch ein Vorschein, ein medizinisches Wunder, sage manchen, getragen von der Liebe seiner Frau, von der Kunst der Ärzte und einem festen Willen, nicht aufzugeben. Nach mehreren Jahren ist er heute wieder in der Lage, am Tisch zu sitzen, zu lesen, sich normal zu unterhalten und ein auch nach unseren kleinen menschlichen Maßstäben lebenswertes Leben zu begehen. Aber was sind schon unsere Maßstäbe, die wir ganz anderen Bindungen unterliegen, als die Locked-In-Patienten.
So also Ihr Lieben, habt Vertrauen in Gottes Schaffen an uns, freuet euch in dem Herrn, dass sein Bund fest für uns steht und ergreift die Hand, die er uns ausgestreckt hat, dass wir gemeinsam wohl in mancher Furcht, mit schwummerigen Augen, manchmal hart daniederliegend, aber dass wir gemeinsam in sein Licht gehen der Vollendung entgegen und dort das Wort unseres Heilands und Erlösers hören, der uns ruft und spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben! Amen.
Gemeindelied EG 239
31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR;
33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Liebe Gemeinde,
eigentlich war ihm nur unglaublich übel, möglicherweise auch schwummerig vor den Augen. Er wollte sich eben noch hinlegen. Danach stand er nicht mehr auf, nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht mehr konnte. Nichts war mehr möglich, kein Schreien, kein Laufen, kein Armheben oder auch nur den kleinen Finger zu krümmen. Es war wie ein bitterböser Alptraum, aus dem es aber kein Erwachen gab, weil auch die Augen den Befehlen zum Öffnen nicht mehr gehorchten. „Es war die Hölle.“ Das Leben schien aus seinem Körper entschwunden zu sein. Jegliche Bindung war weg. Der Bund des Lebens hing pochend bis zum Hals bestenfalls noch an einem seidenen Faden.
Als später der Arzt kam, hörte er alles. Seinen vermuteten Tod. „Und Exitus!“, sagt der. Trotzdem die schnelle Fahrt in das nächstgelegenen Krankenhaus. Notaufnahme. Offensichtlich aufgeregte, sich schnell bemühende Menschen, Ärzte, Schwestern und Pfleger. Und dann die Diagnose: Locked-In-Syndrom.
Vielleicht, liebe Gemeinde, haben Sie schon einmal etwas von diesem Locked-In-Syndrom gehört? Ein lebendiger Tod. Vielleicht auch ein totes Leben. Je nachdem.
Nichts funktioniert mehr im Körper. Keine Bewegung, wirklich keine. Nicht einmal die Augen lassen sich mehr öffnen, auch die Atmung setzt aus. Totaler Stillstand. So jedenfalls habe ich das verstanden.
Die Wahrnehmung aber, die läuft auf vollen Touren. Berührungen sind zu spüren, das Gehör ist intakt. Das Herz schlägt. Ansonsten ist der Mensch vollkommen heruntergefahren, als ob jemand den Standby-Schalter gedrückt hätte. Ein Geist gefangen in sich selbst ohne Aussicht auf Befreiung. Jeder Schrei bleibt stecken, jede Regung starr. Die Betroffenen versterben in aller Regel nach kurzer, quälender Zeit auf den Intensivstationen der Krankenhäuser.
Es war tatsächlich eine Höllenvorstellung, die sich zumindest in meinem Kopf breit machte, als ich neulich in einer großen deutschen Tageszeitung [Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 4. Mai 2012, S. 3] die Geschichte von Karl-Heinz Pantke las. Locked-In-Syndrom. Eingeschlossenheits- oder Gefangenheits-Syndrom.
Ihn ereilte dieses Schicksal im Alter von 39 Jahren, zwei Jahre jünger als ich. Damals war er Assistenzprofessor für Physik. Das Leben ging seiner Wege.
Sie können sich vorstellen, da bekommt man schon einen Schreck. Und es beschleicht einen das ungute Gefühl: Das könnte mir ja auch passieren und dann wäre ich nicht in der Lage, mich irgendwohin zu bewegen oder mich irgendwie mitzuteilen, meine Empfindungen, meine tiefe Not, meine Sorgen und Ängste. Und das alles wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel. Zack und aus. Selten war mir die luthersche Bitte um Behütung vor bösem schnellem Tod näher als hier.
In den Artikeln, die ich nach der Reportage in der Zeitung gelesen habe, wird dieses Locked-In-Syndrom als ein Schlaganfall des Stammhirns beschrieben, der dazu führt das der Mensch eingeschlossen ist in sich selbst [Quelle: http://www.locked-in-syndrom.org/] . Die Krankheit sei wohl so alt wie die Menschheit selbst, schreiben die Autoren. Eingeschlossen, bewegungsunfähig, aber mit voller Wahrnehmungskraft.
In der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte, liebe Gemeinde, hatte ich so manches mal das Gefühl, dass ich dieses Gefangensein, dieses Eingeschlossensein ohne Entrinnen sehr genau allerdings auf einer ganz anderen Ebene kenne. Ich will mich da mit den Patienten des Locked-In-Syndroms körperlich nicht vergleichen, aber das Gebundensein an mich selbst, ja, diese Gefangenschaft kenne ich. Sie nicht auch?
Es sind diese Momente des Lebens, in der jede Kommunikation nach außen kaputt geht oder eine ungeheure Last darauf liegt, dass ich darunter eher zerbreche, als dass ich mich mitteile oder mitteilen kann. Das passiert in tiefen persönlichen Krisen und Nöten, in denen keine Bindung mehr hält, sondern das Leben zerfasert und zerfleddert wie ein alter Schnürsenkel und ich endlich vor den Scherben meiner Existenz stehe und mich frage, wie konnte das nur so werden.
Wenn wir Menschen so auf uns selbst zurückgeworfen sind, wenn wir uns nur noch um uns selbst drehen können und wir in dieser Not leben oder leben müssen, weil wir sie uns selbst oder sie uns von außen aufgezwungen wird, dann bekommt das Leben einen ungeheuren Schlag, weil ich in keiner Weise mehr fähig bin, selbst zu bestimmen und zu entscheiden, wohin mich meine Wege nun führen sollen und wie ich da hinkomme, weil ich auch niemandem meine Not, meine Angst mitteilen kann, weil ich damit abends ins Bett gehe und morgens damit wieder aufwache und ich den Weg nicht finde, aus mir heraus zu den anderen, um etwas von mir mitzuteilen.
Liebe Gemeinde, ich vermute, Sie kennen alle das eine oder andere Stück davon. Und Sie wissen, auch darunter droht das Leben irgendwann zu versterben, wenn es nicht neu beatmet und belebt wird.
Nicht viel anders wird das wohl dem Volk Israel ergangen sein, als es sich zur Zeit des Propheten Jeremia im Exil zu Babel wiederfand. Die alte Verlässlichkeit und Heimat zerstört, das Leben des Volkes beherrscht von allen möglichen Feinden außen herum, und die Zukunft leuchtete nicht mehr, sondern war einzig und allein verhüllt von einem dunklen und grauen Schleier. Gefangen und eingeschlossen. Nein, da wird kein Leben mehr sein.
In der Geschichte des Volkes Israel hatte es solch eine Situation schon einmal gegeben. Sie wissen das, liebe Gemeinde. Die Gefangenschaft in Ägypten, die unentrinnbare Arbeit, das Sterben unter der Last der Bedränger. All das war schon einmal vorhanden und die Erinnerung daran war natürlich in das Gedächtnis des Volkes eingebrannt. In der Bedrohung herrschte abermals nur noch Stummheit und Stille. Da war nichts mehr, was noch irgendwie halten und retten, schützen und bewahren konnte.
Die Bundesgeschichte Gottes mit seinen Menschen am Ende. „Da ist kein Gott!“, sagt meine Seele, sagt mir die einflüsternde Welt. Du bist allein, verloren, ausgeliefert und verlassen. In unendlicher Starre und Dunkelheit. Angstvoll schlägt das Herz. Gebunden in der Höll.
Wenn ich das nun aber von Gottes Anfängen mit seinen Menschen her beschaue, ist das nun gerade nicht sein Ziel gewesen. Waren Mensch und Gott, Gott und Mensch nicht immer direkt aufeinander bezogen? Das geht doch von der kunstvollen Erschaffung des Menschen aus einem Klumpen Erde über die innige Partnerschaft bei der Frage nach den Namen der Tiere und was denn die richtige Gemeinschaft für den Menschen sei, das geht über Noahs Bogen und den Segen Abrahams, über Isaaks Rettung und Jakobs Kampf hin zu Mose.
Liebe Gemeinde, all diese Begegnungen waren Teil des Urbundes Gottes mit seinen Menschen, in denen er gesprochen hat: Sei mein Mensch. Sei mein Partner in dieser Welt. Und sei mein Mensch, heißt dann eben auch, sei frei, sei der ungebundene Herr deines Lebens, sei geliebt und liebe selbst, Dich und andere, und also bleibe mein Geschöpf, als das ich Dich gewollt habe, Partner meines Handelns in der Welt.
Wie oft hat er es versucht und wie oft musste Gott wieder von vorne anfangen, weil der Mensch versucht hat, sich selbst über das Leben zu erheben, weil lieben so schwer fällt in einer lieblosen Welt, weil Friede und Vernunft so unnütz erscheinen, wenn ich auf die Gewalt der anderen schaue und die meine, weil der Grund meines Lebens vielleicht doch eher in mir selbst zu finden ist als bei irgendwem sonst. Die Welt ist voll davon. Ich bin voll davon. Vom Urbund Gottes entbunden, Ihr Lieben, und gebunden an das eigene Leben.
Das hat übrigens in der Verkehrung des Bundes einen schlimmen Haken, so finde ich. Wie sehr nämlich kommen Menschen dadurch auch heute unter Druck, wenn sie lieber leben statt sterben wollen, auch wenn nach unseren kleinen menschlichen Maßstäben dieses Leben nicht mehr als lebenswert gilt. Wie sehr wird heute wie selbstverständlich davon gesprochen, dem eigenen Leben ein Ende zu machen, wenn Bewegung nicht mehr möglich ist, nur das Herz sich noch regt. „Lieber tot als gelähmt.“ Das habe ich auch immer mal gedacht.
Wie sehr müssen manche gesellschaftlichen Gruppen um Anerkennung und Zuwendung kämpfen, um Nähe und Liebe buhlen. Wie sehr werden manche eingeschlossen in sich selbst ohne die Chance nach außen zu treten, ohne das wahrgenommen wird, wie fest da die Herzen schlagen und bereit sind, sich in das Leben zu stellen. Manche Behindertenverbände können da sicher ein Lied von singen.
Wie sehr befördern wir heute den Eindruck, bevor ich jemandem zur Last falle, bevor ich meine Lebenskrise jemand anderem aufbürde, möchte ich lieber sterben.
Liebe Gemeinde, ein schneller, gesegneter Tod kann ungeheuer befreiend sein für den Sterbenden wie für seine Angehörigen. Aber ein verordneter Tod ist das nicht. Der ist und bleibt falsch, weil er das Leben des Menschen nicht mehr als Leben anerkennt, solange es währt, sondern sich selbst darüber erhebt und meint, er könne entscheiden. Diesen verordneten Tod aber, den gibt es eben auch im Leben.
Gottes Bund, liebe Gemeinde, der ist ein anderer. Er weiß, und das gibt er seinem in der neuerlichen Gefangenschaft liegendem Volk in Babel weiter, er weiß darum, dass uns das Leben manchmal so sehr bindet, dass wir bewegungsunfähig sind, dieses Gesetz Gottes, sei mein Mensch, diesen Urbund mit ihm, zu erfüllen und als gleichwertiger Partner an seiner Seite zu sein. Er weiß, wie kräftig unser Herz noch schlägt darin. Und so nimmt er es in seine Obhut und gib sein eigenes Herz da hinein, er schreibt es endlich mit seinem eigen Fleisch und Blut.
Weswegen er, damit wir da wirklich ganz sicher sind, weswegen er sich also aufgemacht hat, diesen Bund neu und ewig zu schließen, ihn unverbrüchlich zu machen, mit seiner Liebe, mit seiner Gegenwart in den bittersten Stunden, die das Leben für einen bereit halten kann, endlich mit seinem Dasein für uns alle hier und heute.
Sie wissen alle, wie sehr Gottes Volk diesen Bund, in die Herzen geschrieben, in seiner Geschichte gebraucht hat, ja, das wissen Sie alle miteinander, da brauche ich nicht viel davon zu erzählen. Sie wissen auch alle, wie sehr die Missetat der Väter unser Leben auch heute noch begleitet. Dabei sind wir doch seit 2000 Jahren Bundesgenossen, Ihr Lieben, oder etwa nicht?
Dass Gott diesen Bund nämlich über sein altes Volk hinaus geweitet hat, haben wir in Jesus Christus erfahren. Durch ihn sind auch wir geheilt und gehalten, durch ihn haben auch wir eine Sicherheit ins Herz gegeben. Die Errichtung des Kreuzes auf Golgatha ist Gottes Bundeszeichen an uns. In den Tiefen des Lebens ist er da und gegenwärtig und lässt sich nicht vertreiben auch nicht durch unser noch so heftiges Drängen und Drücken.
Nur der Vollendung dieses Bundes in unseren Herzen, dass wir eben nicht mehr hadern und zweifeln, sondern uns mutig daran machen, diesen Weg zu gehen, dieser Vollendung harren wir. Geschrieben, Ihr Lieben, ist der Bund. Lesen müssen wir ihn noch.
Deswegen will ich Sie gerne noch erinnern, dass einer wie der Liederdichter Jochen Klepper diesen Bundesschluss Gottes in seine ganz persönliche Biographie mit genau dieser Spannung von Zusage und Erfüllung hinein genommen hat; als Ehemann einer Christin mit jüdischen Wurzeln hat er in dunkelster Zeit der Missetat der Väter ein wunderbares Lied geschrieben, eigentlich ein Hochzeitslied, aber er hat darin verarbeitet all die Dinge, die auch uns als Kinder des Glaubens so tief betreffen, dass wir von Liebe und Huld und Barmherzigkeit, von der Lindigkeit der Gegenwart Gottes etwas erleben können. Das singen wir jetzt gleich miteinander.
Davor aber muss ich Ihnen noch eines zu Ende erzählen. Es gibt einen Vorschein auf die Erfüllung des Bundes in Gott an vielen verschiedenen Stellen des Lebens. Auch heute und mitten unter uns.
Karl-Heinz Pantke, Sie wissen noch, der in sich selbst eingeschlossene und gefangene Mann, Karl-Heinz Pantke nämlich ist solch ein Vorschein, ein medizinisches Wunder, sage manchen, getragen von der Liebe seiner Frau, von der Kunst der Ärzte und einem festen Willen, nicht aufzugeben. Nach mehreren Jahren ist er heute wieder in der Lage, am Tisch zu sitzen, zu lesen, sich normal zu unterhalten und ein auch nach unseren kleinen menschlichen Maßstäben lebenswertes Leben zu begehen. Aber was sind schon unsere Maßstäbe, die wir ganz anderen Bindungen unterliegen, als die Locked-In-Patienten.
So also Ihr Lieben, habt Vertrauen in Gottes Schaffen an uns, freuet euch in dem Herrn, dass sein Bund fest für uns steht und ergreift die Hand, die er uns ausgestreckt hat, dass wir gemeinsam wohl in mancher Furcht, mit schwummerigen Augen, manchmal hart daniederliegend, aber dass wir gemeinsam in sein Licht gehen der Vollendung entgegen und dort das Wort unseres Heilands und Erlösers hören, der uns ruft und spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben! Amen.
Gemeindelied EG 239
Perikope