Gotteserfahrungen
„Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ (Psalm 73,28)
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Unbeschwert ließen sich die beiden durch die Tage am Meer treiben. Ihr Lebensrhythmus ergab sich von selbst: Schweigen und wenig reden, lesen und träumen, miteinander essen, und schlafen, die Verschmelzung ihrer Körper und das sich wieder lösen. Als die Zeit zu Ende ging, fragte Nik sich wo sie geblieben war: „Wir waren ganz im Diesseits, ganz in der Wirklichkeit und doch war das alles überwirklich, blau wie der Himmel und das Meer, grün wie die Olivenbäume, bunt wie die Blumen, wohlriechend wie der Lavendel, der Thymian, die Pinien, das Meer, der Wind, strahlend wie die Sonne, wie sie Herz und Körper wärmt und alle Ängste und Grenzen weg schmelzen lässt. Ewigkeit in der Zeit. Du merkst es nicht im Vollzug. Erst wenn es vorüber ist, begreifst du es als gelebtes Glück - im Rückblick in der Erinnerung. Und dir wird klar, dass solche Liebe ein Geschenk ist, ein Abglanz göttlicher Liebe, die du nicht wirst festhalten können.“
Schlaftrunken richtete sich Sophie auf. Draußen begann es zu dämmern. Verblüfft nahm sie durch das geöffnete Fenster das ohrenbetäubende Schreien der Vögel wahr. Zu Hause war sie gewohnt, von Autolärm geweckt zu werden. Hier auf der Insel holten sie die Vögel aus dem Schlaf. Wie laut die ihr vorkamen ohne das gewohnte Grundrauschen des in der Stadt allezeit gegenwärtigen Verkehrslärms. Behutsam ließ sie sich wieder zurück sinken und lauschte dem vielstimmigen Chor. Bald konnte sie verschiedene Stimmen unterscheiden, stakkatoartige und schrill trompetende Töne, langgezogene tiefe Schreie großer Vögel und dazwischen feine, filigrane Melodiesequenzen der kleinen. Über Vögel wusste sie wenig und außer den langgezogenen Schreien der Möwen konnte sie die gehörten Stimmen keinen einzelnen Vogelarten zuordnen. Aber in diesem Moment begriff sie etwas von der Faszination, die Vogelgesänge auf den Komponisten Olivier Messiaen ausgeübt hatten. Für diesen legten die Gesänge der Vögel Zeugnis ab für die Herrlichkeit und Vielfalt der Schöpfung Gottes. Vogelgesang verstand er als Prototyp des von Freude und Dankbarkeit erfüllten Lobgesangs. Deshalb sammelte und notierte er Vogelstimmen und komponierte sie in seine Musik ein – in diese Musik voller wechselnder Klangfarben, flächiger Akkorde und überraschender Rhythmen, die nichts anderes bewirken wollte als die Hörerinnen und Hörer in einen Abglanz der blendenden Herrlichkeit Gottes zu tauchen. Eingehüllt in den Gesang der Vögel wurde Sophie überwältigt von einem kaum je gekanntes Gefühl der Freude und der Leichtigkeit.
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„Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ Für den Beter des 73. Psalms war sein Glück - die Gottesnähe – erreichbar und zu spüren im Jerusalemer Tempel. Dort, ganz besonders im innersten Zentrum - im „Allerheiligsten“ - wohnte Gott. Hier war seine Schechina, war der „Glanz Gottes“ präsent, und wer in den Tempel kam und darin verweilte, der spürte seine Kraft und wurde erfüllt mit Glück.
Diesen Tempel gibt es nicht mehr. Er und mit ihm das Allerheiligste wurden zerstört und die Schechina, so wird erzählt, zog mit dem Volk Gottes ins Exil. Die Glück spendende Gegenwart Gottes aber, sein Glanz, ist nach wie vor gegenwärtig in dieser Welt. Aber er ist nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden.
Wo fühle ich mich Gott nahe? Was ist mein Glück?
Es gibt heutzutage keine allgemeine und für alle Glaubenden gültige Antwort auf diese Fragen. Die Gestalt, in der wir Christinnen und Christen den in unsere Welt gekommenen „Glanz Gottes“ (Ps. 50,2) verkörpert sehen, hat uns verheißen, dass er bei uns sein werde „bis an der Welt Ende“ (Mt. 28,20). Anzutreffen, wahrzunehmen, spürbar bleibt Gott demnach in dieser Welt - an allen möglichen Orten, zu allen möglichen Zeiten, in allen möglichen Gestalten, Begegnungen und Erfahrungen. Es hängt von uns, den Glaubenden ab, ob wir Gottes Glanz in manchmal alltäglichen oder gelegentlich auch herausragenden Erfahrungen spüren, erkennen und als solchen begreifen. Insofern muss jeder und jede für sich selbst immer wieder diese Fragen beantworten: Wo fühle ich mich Gott nahe? Was ist mein Glück? Was dem einen eine Gotteserfahrung ist, mag für die andere eine profane Begebenheit sein. Was der einen ihr Glück bedeutet, mag dem anderen gleichgültig sein.
Und doch gibt es eine Erfahrung, die über diese eingangs geschilderten akzidentiellen und episodischen als Gotteserfahrungen begriffenen Glücksmomente in der Liebe oder in der Natur hinausgeht – eine Erfahrung, die so tief und nachhaltig sein kann, dass sie bleibt. Was bleibt ist das Gefühl: ich bin geliebt über den Moment hinaus, in einem tieferen Sinne als mich ein Mensch überhaupt lieben könnte. Es ist das Vertrauen, akzeptiert zu sein wie ich bin: lustig und traurig, beseelt und bedrückt, im-perfekt und begabt, in-valide und voller Lebenslust. Es ist die innere Gewissheit: ich bin gehalten als ganze Person mit meinen multiplen Identitäten, so fragmentiert sie auch sein mögen - und zwar von je her und dauerhaft, nicht nur bis am mein persönliches Weltende sondern sogar darüber hinaus. Ich bin - ich muss nichts sein. Ich bin gehalten – in allem was mir geschieht. In allem! Das ist mein Glück!
In der gewaltigen romanischen Kirche
drängten sich die Touristen im
Halbdunkel.
Gewölbe klaffend um Gewölbe
und kein Überblick.
Kerzenflammen flackerten.
Ein Engel ohne Gesicht umarmte
mich
und flüsterte durch den
ganzen Körper:
"Schäm dich nicht, Mensch zu sein,
sei stolz!
In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe,
endlos.
Du wirst nie fertig, und es ist,
wie es sein soll."
Ich war blind vor Tränen
und wurde auf die sommersiedende
Piazza hinausgeschoben
zusammen mit Mr und Mrs Jones,
Herrn Tanaka und Signora Sabatini
und in ihnen allen öffnete sich Gewölbe
um Gewölbe, endlos.
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Solche Glückserfahrungen, die anhaltende Gottesgewissheit zurück lassen, immunisieren gegen das Trommelfeuer der „Glücksverheißungen“, mit denen wir Großstadtbewohner/-innen vor allem im Dezember geradezu bombardiert wurden. Sich solch einem Trommelfeuer aus Werbung, Angebot und Rummel zu entziehen ist gar nicht so leicht. Erich Fromms Bestandsaufnahme von vor fast sechzig Jahren trifft unwesentlich modifiziert noch immer gerade großstädtische Lebenswirklichkeit präzise: „Das Glück des Menschen besteht heute darin, sich zu vergnügen. Vergnügen liegt in der Befriedigung des Konsumierens und ‚Einverleibens‘: von Waren, Bildern, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, (elektronischen Geräten und allen verfügbaren Medien). Alles wird konsumiert, wird geschluckt.“ Je mehr, je billiger/je teurer, je öfter, desto besser.
Dahinter steht die gar nicht so neue Ideologie, die eine wesentliche Grundlage unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen (und leider oft auch kirchlichen) Kultur ist: Die Ideologie, dass das größte Glück in der größten Zahl liegt, im permanenten immer mehr, im ständigen Wachstum. Fast jedes Moment unseres individuellen wie sozialen Lebens, unser gesamtes Denken, Handeln und selbst unser Glauben ist durchdrungen und wird geprägt vom Diktat dieser Art von Ökonomie. Ja, noch unser Körper und unser Verhältnis zu unserem Leib ist davon kolonisiert. Selbst dem kritischsten Geist fällt es schwer, sich dem Sog dieser Ideologie zu entziehen. Biographie-Coaches versprechen Hilfe zu einer glücklichen Symbiose von arbeitsmarktkompatiblem Lebenslauf und gefühlter Individualität. „Sie sind gestresst? In unserem Wellness-Paradies erleben Sie glückliche Stunden“ „Wir beraten Sie und verhelfen Ihnen zu einem gut abgestimmten Lebensrhythmus zwischen Erholung und Spaß!“ (auf neudeutsch LORAF: „Lifestyle of Relief and Fun“). „Machen Sie Ihr Glück bei der Schnäppchenjagd in unserem neuesten Preisvergleichsportal, das Sie als App auf Ihr Smartphone laden können.“ Als „Glücksoasen“ werden die in unseren Städten an allen Ecken aus dem Boden sprießenden Shopping-Zentren gepriesen (die Harald Welzer erhellend „Shopping-Gulags“ nennt).
Eine vergleichsweise neue Entwicklung ist, dass bei uns die alte Wunschwelt des „Alles immer“ weitgehend Realität geworden zu sein scheint. Die unsere gesamte Lebenswirklichkeit durchdringende expansive Wirtschaftskultur scheint sich in einem kleinen allgegenwärtigen Ding zum Symbol zu verdichten: im Smartphone. Darin scheint alle Lebensglücksverheißung konzentriert zu sein: jeder will und soll ständig erreichbar sein und jeden erreichen können und alles geht sofort und überall: „Sofortness“ und „Präsentismus“ sind die goldenen Kälber der Gegenwart. Wie bei fast allen technischen Entwicklungen ist dieses Ding per se weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie der Mensch es nutzt beziehungsweise sich von ihm benutzen lässt. Was der Anglizismus „smart“ eigentlich bedeutet, scheint den Wenigsten bewusst zu sein. Ein „smarter“ Mensch taugt kaum zum Glücksvermittler. „Smart“ nennt man im Amerikanischen jemanden dem man Bewunderung zollt obwohl man von ihm gelinkt wurde. „Smart“ begibt man sich, wenn man nicht achtsam ist, in eine sich in einem Gerät konzentrierende Vielfalt von Hörigkeiten und bringt seine Zeit und seine Freiheit als Opfergabe dar. Wem und zu wessen Glück auch immer.
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Wo fühle ich mich Gott nahe? Was ist mein Glück?
Aufgrund der Erkenntnis, dass manch tiefe Glückserfahrung im Leben erst im Rückblick als solche erkennbar wird könnte man die Fragestellung auch umkehren. In gewissen christlichen Frömmigkeitstraditionen stellte man sich die Frage: Wie möchte ich einmal vor meinen Herrn treten? Dahinter steckt die Vorstellung von sich selbst im Tempus Futur zwei. Jenseits solch einer bedrohlich-apokalyptisch-frommen Drohkulisse kann ich mich heute mit Blick auf meine nähere oder fernere Zukunft fragen: Was möchte ich erfahren haben? Wie werde ich gewesen sein? So formuliert und bedacht mögen diese Fragen dazu verhelfen, mich selbst und mein Leben in der kommenden Zeit an den Wertigkeiten echten Glücks auszurichten. Solche Futur-zwei-Imaginationen können tatsächlich Wirklichkeit verändern. Ich konzentriere mich auf das, was mir wirkliches Glück bringt. „Indem man sich Zukunft vorstellt, bereitet man Zukunft vor und ändert die Gegenwart“ (Robert Misrahi). Wünschen und Träumen – fokussiert auf das, wodurch der Glanz Gottes hindurch scheint - können mir helfen, gelegentlich die Schwelle zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit zu überschreiten.
Was möchte ich im Jahr 2014 erfahren haben? Wie werde ich darin gewesen sein? Vielleicht weniger „Habender“ als „Seiender“. Was brauche ich wirklich zum Leben und zum glücklich sein? Vielleicht lieber „Zeit statt Zeug“. Konzentration statt Zerstreuung. Entschleunigung statt Alles-immer-sofort. Ge-lassen-heit statt Anspannung - um „große Augenblicke“, Momente, in denen der Glanz Gottes mein Leben überblendet, überhaupt wahrnehmen zu können.
Vor allem ist mir das wichtig, worauf alle Glücks- und Gotteserfahrungen am Ende hinaus laufen: Liebe. Sie ist die Vermittlerin des allerhöchsten Glücks – und damit wichtiger noch als Glaube und Hoffnung (1. Korinther 13,13). (Dass Liebe auch wehtun kann, wissen wir alle. Aber in dieser Welt ist Glück ohne die Kehrseite, den Schmerz, gar nicht als solches begreifbar.) Aus ihr strömt und in sie fließt alles Wesentliche. Im Verlauf der Jahre und im Älterwerden dämmert mir vielleicht dass im Blick auf eine reife Lebenspraxis Liebe in erster Linie ein Geben ist. Lieben ist wichtiger als geliebt werden. Zu lieben ist höchster Ausdruck von Kraft, Erlebnis gesteigerter Vitalität. Ich möchte ein Liebender gewesen sein. Denn „Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4,16). Gott nahe zu sein heißt in der Liebe sein. In der Liebe bin ich eingehüllt in Gottes Glanz. Das ist mein höchstes Glück. Und es kann in mir die Freude auslösen, die mich singen lässt zum Lobe Gottes - frei wie ein Vogel am Himmel.
Literatur:
Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Frankfurt/M. 1976, S. 117
Robert Misrahi, Leviathan und der Garten. Der Utopie die Wirksamkeit zurückgeben – eine bessere Welt ist möglich, in: Lettre International 103/2013, S. 42
Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, München 1997, S. 216
Harald Welzer, Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt/Main 2013
www.zeit-statt-zeug.de
Gotteserfahrungen - Predigt zu Psalm 73,28 von Klaus Pantle
73,28
Perikope