Grazie - Predigt zu ERNTEDANK über 1. Timotheus 4, 4-5 von Matthias Loerbroks
4,4

Grazie - Predigt zu ERNTEDANK über 1. Timotheus 4, 4-5 von Matthias Loerbroks

Grazie
4  Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
  und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.
  5  Denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und durch Bitten.
Da gibt es Menschen in der Gemeinde, die halten es für besonders fromm, auf etwas zu verzichten, sich zu enthalten, sich was zu verbieten. Es geht um Essen und Trinken und es geht um Sexualität. Es geht also überhaupt ums leibliche Leben und vor allem darum, ob wir es genießen. Die sich da für besonders fromm halten, lehnen es ab zu genießen und können es vielleicht inzwischen auch nicht mehr, weil sie sich körperliche Genüsse ausgeredet, das Verzichten eingeredet haben. Vielleicht empfinden sie inzwischen gar nicht mehr als reizvoll, was andere durchaus reizt, wovon andere Glück erwarten – durchaus nicht ohne Anhaltspunkt. Aber diese ernsten und frommen Christen empfehlen ihren Verzicht auch anderen, machen ihnen ihr leibliches irdisches Leben madig. Dahinter steckt weniger das Ideal der Mäßigung und Mäßigkeit, nach dem kleinbürgerlichen Motto: allzu viel – von was auch immer – ist ungesund. Wichtiger ist, dass das frühe Christentum sich ausgebreitet hat in einer Gegend, die von Jahrhunderten griechischer Philosophie, und sei es in verdünnter und verflachter Form, geprägt war mit dem Ergebnis, dass viele es nicht für ein großes Glück hielten, leiblich und sinnlich zu leben, sondern für ein großes Unglück, ein Verhängnis, eine Strafe: die Seele wäre ideal, wäre vollkommen, fast göttlich, wäre sie nicht in diesen Körper gezwängt und gesperrt, durch ihn belastet, beschwert, behindert. Das, worauf es wirklich ankommt, das eigentlich Wahre, das Ideale, ist nicht das Sichtbare und Spürbare, sondern das Unsichtbare. Und so haben sie auch die christliche Botschaft verstanden: als sollten wir unser hiesiges und physisches, unser irdisches, leibliches Leben gering achten, sogar verachten zugunsten eines wahren, eines höheren, nämlich jenseitigen Lebens. Was so bescheiden und demütig wirkt – Verzicht, Entsagung, Enthaltsamkeit –, ist also ganz was anderes, nämlich Hochmut: mögen sich doch irgendwelche Primitive und Unaufgeklärte an körperlichen Gelüsten, am irdischen Vergnügen erfreuen, wir streben nach Höherem, nämlich Geistigem, kleben nicht am Materiellen.
Der Apostel findet diese Haltung nicht etwa besonders fromm, sondern höchst undankbar – und er findet auch, es sei höchste Zeit für einen kleinen Einführungskurs in Bibelkunde: Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Er erinnert damit an den Anfang der Bibel, wo von der Schöpfung erzählt wird. Wie ein Refrain heißt es da immer wieder: und Gott sah, dass es gut war, am Schluss sogar: es war sehr gut. Nach biblischer Auffassung kann gar keine Rede davon sein, dass es irgendwie nicht gut ist, irdisch zu sein und auf der Erde, leiblich zu leben – und dieses Leben zu genießen, als Geschöpf und mit anderen Geschöpfen. Was nicht gut ist, erfährt man im zweiten Kapitel: es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Schöpfung – das ist ganz und gar eine gute Gabe Gottes, eine Wohltat. Auch in der übrigen Bibel wird deutlich, dass da von einem Gott erzählt wird, der sich leidenschaftlich für Irdisches interessiert, sich dafür einsetzt, kämpft und wirbt, dass möglichst alle ein gutes Leben leben, und nicht von einem missgelaunten Tyrannen, der seinen Geschöpfen nichts gönnt, alles verbietet oder kritisiert, was Spaß macht und Lust. Darum findet der Apostel es höchst unverständlich und wohl auch etwas unanständig, dass ausgerechnet Christen das Leben verachten und schlecht machen. Er kann dem Prediger Salomo nur beipflichten: ein Mensch, der isst und trinkt und Gutes sieht bei allen seinen Mühen, das ist eine Gabe Gottes.
Wir sollten uns nicht einreden, nicht einbilden, das sei bloß eine antike Kontroverse, längst erledigt und überwunden. Diese Neigung zur Lebensverneinung statt zur Lebensbejahung, zur Verachtung und Verächtlichmachung leiblich irdischen Lebens, diese Unfähigkeit und Unwilligkeit zum Genießen zieht sich durch die ganze Kirchengeschichte, gibt es auch heute. Es gibt kirchliche Kreise, die neigen eher zu Grautönen als zum bunten Leben, halten Lebenslust und Lebensfreude für mindestens verdächtig. Was einfach nur schön ist, ohne praktischen Zweck und Nutzen, gilt als Luxus, als überflüssig – was es ja auch ist, was aber in den Augen biblischer Lebensgenießer eher dafür als dagegen spricht. Nicht einmal für Kirchenmusik genügt es, einfach schön zu sein – meist wird beflissen betont, auch sie sei Verkündigung. Für Bach war es genug, dass sie dem Lob Gottes und der Recreation des Gemüts diente, was für ihn nicht nur zusammenhing, sondern geradezu zusammenfiel. Es mag sein, dass manche Christen ablehnen, genussvoll zu essen und zu trinken, weil und solange anderswo gehungert wird, das Leben in vollen Zügen zu genießen, während andere gefoltert und ermordet werden. Doch damit, dass wir ohne Genuss, sauertöpfisch, sozusagen nur der Not gehorchend essen und trinken, helfen wir niemandem, und es wirkt auch für andere nicht befreiend, wenn wir aus allen zugeknöpften Knopflöchern Enge, Missmut, Unlust ausstrahlen. Die Prognose des Paulus: wer kärglich sät, wird kärglich ernten, hat sich an der Kirche oft bewahrheitet. Und wenn man ganz frommen Menschen zuhört, hat man manchmal den Eindruck, sie seien bei aller Liebe Gott doch ein wenig gram, dass ihm für die Entstehung von Kindern keine anderen Mittel eingefallen sind als ausgerechnet sexuelle. Doch es geht bei diesem Kampf zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung nicht nur um Innerkirchliches. Wir leben in einer Zeit, in der erschreckend viele junge Leute sich buchstäblich zu Tode hungern oder, was aufs selbe hinausläuft, das Gegessene nicht behalten können. Lebensverweigerung, Selbstverneinung und -bekämpfung bis zur Selbstvernichtung.
Vorhin haben wir aus Psalm 104 gehört, wie ein Dichter voller Entdeckerfreude und Entdeckerstolz preist, was alles wunderbar ist an der Schöpfung, lauter Gründe, das Leben zu genießen. Dass der Wein das Herz des Menschen fröhlich macht und Öl sein Antlitz schön, erwähnt er ausdrücklich, aber ich habe keine Zweifel, dass er auch Tabak, auch Hanf als gute Gabe des Schöpfers gepriesen hätte, wenn er davon gewusst hätte. Und in einem anderen Psalm heißt es: ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke. Es gehört zur Schöpfungserkenntnis, auch sich selbst als gute Gabe Gottes zu erkennen, sich selbst gut zu finden.
Es gehört zu den Regeln biblischer Poesie, alles zweimal, in etwas anderen Worten zu sagen. Das ist auch hier so. Der Verfasser schreibt uns einen Merkvers, schreibt oder zitiert ein Lied – ein Loblied, ein Danklied. Alles ist gut, ruft er aus und sagt es noch mal andersrum: nichts ist verwerflich. Alles ist gut, was Gott geschaffen hat – man würde entsprechend erwarten: nichts ist verwerflich, was er gemacht hat, hört aber stattdessen: was mit Dankbarkeit empfangen wird. Gottes Schöpfung, das ist nicht einfach die Natur, zu der gewiss viel Schönes, aber auch viel Schreckliches gehört; der man nicht ansieht, dass sie Gottes Schöpfung ist; der es, soweit wir wissen, egal ist, ob ihr irgendjemand dankbar ist. Zur Schöpfung wird alles erst durch dankbaren Empfang. Alles ist gut – wird aber nicht gut, wenn es nicht mit Dankbarkeit empfangen wird; mäkelnder Missmut kontaminiert alles Gute. Der Briefschreiber rückt so Schöpfung und Dankbarkeit ganz eng, unzertrennlich zusammen. Natur gibt es einfach so – ob wir sie wahrnehmen und würdigen oder bloß als einen Vorrat von Rohstoffen nutzen. Schöpfung ist aber erst dadurch Schöpfung, dass sie mit Dankbarkeit empfangen wird – so wie Gottes Wort erst dann wirklich Gottes Wort ist, wenn es einen Adressaten erreicht, das Wort Antwort findet.
Dankbarkeit macht uns zu Geschöpfen, gibt uns die Würde, die Auszeichnung Geschöpf, gute Gabe dieses Gottes zu sein. Während viele heutige Menschen stolz darauf sind, auf niemanden angewiesen, also auch von niemandem abhängig zu sein, alles nur sich selbst zu verdanken (und dieses Ideal wird ja auch eifrig propagiert), feiert die Bibel die Entdeckung, dass wir nicht Schöpfer sind, sondern Geschöpf, als Befreiung, sieht darin keinen Mangel, sondern die Fülle. Uns etwas weniger biblisch geprägten Menschen wird das deutlicher, wenn wir auf Italienisch danken: grazie. Wer dankbar ist, hat Grazie, lebt und bewegt sich frei, anmutig, schön.
Diesen engen Zusammenhang und Zusammenklang zwischen Schöpfung und Dank, zwischen Wort und Antwort drückt der Apostel noch einmal anders aus: es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Bitten. Er umschreibt also Schöpfung mit Wort Gottes und erinnert damit wiederum an das erste Kapitel der Bibel, in dem die Schöpfung als ein Sprachgeschehen dargestellt wird. Auch der Satz: Gott sprach durchzieht dieses Kapitel wie ein Refrain. Und er fügt zum Danken das Bitten hinzu. Auch darin sieht er eine Würdigung, eine Hervorhebung und Auszeichnung unseres Lebens: seine Heiligung. Diese Heiligung ist in der jüdischen religiösen Praxis deutlicher ausgeprägt als in der christlichen, weil es da für praktisch alle ganz alltäglichen Tätigkeiten und Lebensvollzüge, nicht nur Essen und Trinken, Segenssprüche gibt, durch die sie mit Gott verbunden werden und damit nicht mehr nur alltäglich sind. Jesus hat gesagt: euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet. Und doch schlägt er gleich darauf ein Gebet vor, das die Bitte enthält: unser tägliches Brot gib uns heute. Nicht weil Gott an unseren Bedarf erinnert werden müsste, sondern weil es für uns gut und befreiend ist zu bitten und zu danken, es unserem Essen und Trinken Würde gibt, unser Leben heiligt, unseren Alltag mit Gott verbindet, uns reicher macht.
Wer unfähig oder unwillig ist, das Leben zu genießen, hat wenig Grund zum Dankbarsein. Und wer weder Danken noch Bitten kann, hat es schwer zu genießen. Darum empfiehlt der Apostel beides: genieß dein Leben in vollen Zügen, mit Haut und Haaren, denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Und sei dankbar, denn alles, was mit Dankbarkeit empfangen wird, hat Gott geschaffen.
Amen.
Als erstes Lied, nach Begrüßung mit Wochenspruch, schlage ich 512,1-4 vor; da der Predigttext in den Briefen steht, könnte statt der Epistel die AT-Lesung Jes 58,7-12 genommen werden; an sie würde sich 412,2.7.8 gut anschließen. Nach dem Evangelium aus Lk 12 schlage ich 449,3-6.10 vor; nach der Predigt 325,1-2.6-7 oder 508; nach den Abkündigungen das Wochenlied 324,1.2.8.13-15; als Schlussstrophe zwischen Gebet und Segen 512,6.