"Heimat in Christus" - ZDF-Predigt zu Markus 10, 46-52
10, 46-52

Bibeltext: Die Heilung eines Blinden bei Jericho (Markus 10, 46-52)

Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich! Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Liebe Gemeinde!

Von Portugiesen lernen, heißt: Sich erinnern lernen. Etwa durch den Fado, diese schmerzlich-süße Musik. Beim ersten Hören klingt jedes Lied nostalgisch. Wie ein Ausflug in die Zeit, als die Liebe noch jung, die Taschen noch voll und die Sonne viel goldener war.

Warum singen die Portugiesen diese melancholischen Lieder so gern? Vielleicht, weil sie damit ihre schönen Erinnerungen in die Gegenwart holen. Wir Menschen blühen ja auf, wenn wir von früher reden dürfen!

Aber: Erinnerung kann auch das zementieren, was schon längst überholt ist: Weltbilder, Vorurteile, Stereotypen. Vor 75 Jahren begann der 2. Weltkrieg, vor 100 Jahren der erste – es war die Zeit des aufkommenden Nationalismus und die Zeit der Klischees. Von Menschen in anderen Ländern wurde oft nur im Singular gesprochen. Der Opa einer Freundin redet immer noch  so: "Der Italiener" schreit, "der Grieche" ist faul,  "der Russe" ist ein Rüpel. In wie vielen Köpfen – in wie vielen Zeitungen, gerade jetzt in der Ukrainekrise – tummeln sich solche Gedanken bis heute!  Und flüstern dazu: "Aber wir, wir sind anders, wir sind besser …."

Hier in unserer Auslandsgemeinde ist den meisten dieses Denken fremd.  Denn viele leben in deutsch-portugiesischen Familien. Manche schon seit mehreren Generationen. Sie sind selbst halbe Portugiesen geworden. Essen Bacalhao, also Stockfisch und schmücken ihre Häuser mit Azulejos, den typisch portugiesischen Kacheln. Ihnen ist es weniger wichtig, ob am man Deutscher oder Portugiese ist – da geht es um die Gestaltung des ganz normalen Alltags.

Auch für die Studenten, die für ein Jahr nach Lissabon kommen und hier viele Freundschaften schließen, ist nicht die Nationalität eines Menschen entscheidend, sondern ob er sympathisch ist und ob man zusammen Spaß hat.

Statement von Andreas Müller

Genau! Mein Sohn Hans ist hier in Portugal aufgewachsen und lebt zurzeit in England. Er hätte sich genauso gut für Deutschland, Polen oder ein anderes Land entschieden haben können. Er lebt eher als Europäer, wie viele junge Menschen heute.

Früher war das anders: Ich bin zur Zeit des 'Kalten Krieges' groß geworden, da herrschte noch tiefes Misstrauen. Ich erinnere mich noch an die Landkarten in unseren Geschichtsbüchern. Was östlich der BRD lag und auch die ehemaligen deutschen Gebiete waren weiß, einfach leer… Als ob da keine Menschen leben würden. Ich kann mich auch noch an dieses Gefühl erinnern, mich im Ausland lieber nicht als Deutscher zu erkennen zu geben.

Da spielte sich im Hinterkopf die ganze deutsche Vergangenheit mit ab. Darum verstehe ich auch nicht, wie manche  Christen in Europa rechtsradikalen Parteien oder Bewegungen folgen können. So nach dem Motto: Als erstes kommt mein Dorf, meine Region, mein Land! Was wird werden aus der großartigen Idee von der Europäischen Gemeinschaft? 

Pfarrerin Anke Stalling

Ja, was wird aus Europa? Darüber wird heute entschieden. Auch von den mehr als 400 Millionen Christinnen und Christen, die in allen europäischen Ländern leben und viele Werte miteinander teilen. Folgen wir unserer Fadosängerin, dann lohnt es sich, dass wir Christen  auf die Suche nach unseren Wurzeln und Werten begeben. Denn Erinnern trägt uns in die Zukunft, so haben wir es eben sinngemäß gehört. Was also hält uns Christen in Europa zusammen? Welches sind unsere Werte?

Wir haben eben von Bartimäus gehört – die Geschichte erzählt uns von den Grundlagen unseres Miteinanders. Da sitzt dieser blinde Bettler am Straßenrand. Als Jesus vorbeikommt, ergreift er lautstark seine Chance. Er spürt, dass er ihm helfen kann. Die Jünger reagieren so, wie wir Menschen eben reagieren, wenn jemand laut wird. Wir mögen nicht, wenn jemand schreit. Er soll sich bitte zusammenreißen und wenn überhaupt, sein Anliegen in einer angemessenen Art und Weise vorbringen. Mach hier nicht so ein Theater! Die Welt dreht sich schließlich nicht nur um Dich!

Aber für Bartimäus ist sein Geschrei kein Theater, es ist bittere Wahrheit. Jesus merkt das - und er lässt sich stören. Er beobachtet aber auch die anderen, die Bartimäus abweisen. Sie sollen ihn aus ihrem toten Winkel holen. In dem Moment  geschieht das Wunder: Als Bartimäus von anderen Menschen wahrgenommen wird, erwachsen  ihm scheinbar ungeahnte Kräfte. Er springt auf, wirft seinen Mantel weg und steht vor Jesus. Sein Schreien und Rufen hat geholfen, sein Sehnen und Hoffen auf ein neues Leben erfüllt sich. Er wird gesehen und kann wieder sehen – dank Jesus.

Genaugenommen hat Jesus damals alle gemeinsam geheilt: Bartimäus von Krankheit und Einsamkeit, die Umstehenden von ihrem kalten Herzen. Sie alle erfahren, dass in einer lebendigen Gemeinschaft schwache und starke Menschen gleichermaßen ihren Platz haben.

Der Apostel Paulus hat dafür  das Bild von dem einen Leib Christi geprägt. So stellte er sich die  Kirche vor: Als lebendige Gemeinschaft, in der sich jeder Einzelne als Teil eines großen Ganzen versteht. In diesen Leib Christi werden wir als Kinder Gottes hineingetauft. Das ist großartig. Denn so gehöre ich nicht nur zur Familie Stalling. Ich bin nicht nur Deutsche oder Norddeutsche – oder gehöre zu meinem Chor, weil ich gerne singe. Ich bin auch Mitglied in der großen Gemeinschaft der getauften Menschen. Diese Gemeinschaft wird von Gott begründet. Ohne Schlagbaum oder Grenzzaun. Und ich gehöre dazu – egal wo ich wohne.

Diese große Verbundenheit erlebe ich oft, wenn Menschen hier in Lissabon zum ersten Mal in unsere Gemeinde kommen und sich hier sofort zu Hause fühlen. Sie beten mit uns und singen mit uns und verspüren so in der Fremde ein Gefühl von Heimat. Umgekehrt geht es uns genauso, wenn wir gemeinsam  das Vater unser auf deutsch, portugiesisch oder auf englisch beten: niemals sonst spüre ich eine so große Zusammengehörigkeit unter uns Christen. Und ich erlebe: Wir sind tatsächlich eine Gemeinschaft, eine, die nicht wir selbst machen, sondern eine, die Gott schenkt.

So ist es für den Apostel Paulus nur folgerichtig, zu sagen: Wenn in einer Gemeinschaft ein Mitglied leidet, leiden andere mit. Wenn es einem schlecht geht, kann es den anderen nicht gut gehen. Das  erleben wir im Kleinen in unserer Gemeinde in Lissabon. Wenn jemand im Krankenhaus operiert wurde, und  – wie es hier üblich ist – schon nach zwei Tagen wieder entlassen wird, überlegen wir, wie wir die Betreuung und Pflege untereinander regeln können.

Wenn ein Mitglied leidet, dann leiden alle mit. Das gilt im Kleinen und im Großen. Darum geht uns als  Christen  auch unsere große Völkergemeinschaft Europa etwas an. Es besorgt uns, wenn Europas kostbarer Frieden gefährdet ist und Menschen umgebracht werden, weil sie nicht dem "richtigen" Volk angehören oder die "richtige" Meinung haben. Es beunruhigt uns, wenn Menschen oder ganze Länder aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden sollen, weil sie angeblich wirtschaftlich nicht mithalten können und den Reichtum anderer gefährden. Es verletzt auch uns, wenn andere als faul oder arbeitsscheu oder noch schlimmer bezeichnet werden, nur weil es so den bekannten Vorurteilen und Klischees entspricht. In solchen Situationen sollte Bartimäus uns zum Vorbild werden, der Ungerechtigkeit und Not laut heraus geschrien hat.

Wer durch Christus verbunden ist, findet Heimat und kann Heimat geben. Wer durch Christus verbunden ist, spürt Mitleid und kann sich für andere stark machen. Wer durch Christus verbunden ist, erlebt, wie sich Welten öffnen. In unsere Gemeinde ist es uns wichtig, dass wir das auch ganz praktisch erleben. Unter Erwachsenen und Kindern.

Statement Lucas Kimelmann

Ich bin Lucas und ich bin gerne in unserer Gemeinde.  Bei uns im Pfarrgarten spielen wir oft Fußball. Ich durfte schon mitmachen, als ich noch klein war und nie das Tor getroffen habe. Wenn wir spielen, geht es in der Sprache ständig hin und her. Meine Eltern haben mir Portugiesisch und Deutsch beigebracht. In der Schule lerne ich Englisch und Französisch. Ich fühle mich als Portugiese, ein bisschen als Brasilianer und auch ein bisschen als Österreicher. Die Sprachen helfen mir sehr. Ich finde es toll, wenn ich mit Austauschschülern aus Spanien reden kann, oder zum Beispiel im Flugzeug mit einem Sitznachbarn auf Englisch. Mit verschiedenen Sprachen kann man sich viel besser kennenlernen und verstehen.

Pfarrerin Anke Stalling

Portugiesen sind Meister der Erinnerung. In ihren Liedern üben Sie den Blick zurück nach vorn. Denn in der Erinnerung steckt immer auch die Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt hier und jetzt. Im  Europa der vielen Sprachen und Nationen kann diese Sehnsucht Wirklichkeit werden. Wenn wir Grenzen abbauen statt aufrichten und uns unbedingt dem Frieden verpflichten. Denn Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Wir Christen können dazu beitragen, wenn wir uns an unsere eigenen Werte erinnern.

Und an den, der sie vorgelebt hat: Für Jesus war es nicht wichtig, woher ein Mensch kommt. Zu seinen Anhängern gehörten Reiche und Arme, Menschen aus unterschiedlichen Nationen. Manche von ihnen hatten hohes Ansehen, andere lebten wie Bartimäus am Straßenrand. Als er ihn heilte, holte er ihn vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zurück. Für Bartimäus ging an diesem Tag zum ersten Mal die Sonne auf. Und ein wenig bestimmt auch für die anderen, die neben ihm standen.

Seine Geschichte soll uns heute daran erinnern, wo wir zuhause sind: In der Kirche Jesu Christi. Hier ist es nicht wichtig, woher wir kommen, oder welche Sprache wir sprechen, ob wir viel haben oder wenig. Hier zählt allein, dass wir einander und Gott nicht aus den Augen verlieren.

Amen

 

Perikope
25.05.2014
10, 46-52