Kein Open End - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Manfred Wussow
25,31-46

Kein Open End
 

Kunstgenuss

Ich gehe gerne ins Museum. In bunten Farben gemalt, ist selbst das große Weltgericht ein Kunstgenuss. Es gibt tolle Bilder von dem großen Weltgericht, eins gewaltiger als das andere! In den bedeutendsten Museen! Da stehen wir dann davor, mit großen Augen. Wir schauen, rätseln, staunen. Wir sehen:  Menschen, die von Engeln geleitet, schwerelos nach oben gleiten und von den Heiligen in Empfang genommen werden - dann Menschen, mit Erschrecken auf den Gesichtern, von Dämonen und Teufeln gejagt, im Rachen eines Ungeheuers verschwinden.

Wir blicken nach oben, nach unten. Oder von rechts nach links. Einerseits könnte die Welt jetzt in Ordnung sein – „gut“ und „böse“  endlich und endgültig säuberlich und fein voneinander geschieden  – andererseits beschleicht uns ein Unbehagen, weil die Grautöne fehlen. Und die Farben dazwischen. Die Entschuldigungen, die Gründe, die Erklärungen. Alles schwarz und weiß - unheimlich. Wir spüren das Grauen.  

Im Museum stellt sich die Frage nicht, zu welcher Gruppe ich gehöre. Gehören werde. Habe ich alles gesehen, trinke ich einen Kaffee. Satt von den vielen Eindrücken. Ein Stückchen Kuchen gönn‘ ich mir auch. Ich blättere im Katalog. Ein ziemlich teures, dickes Ding. Was für ein Kunstwerk! Wie gut: Es ist alles weit weg. Hängt an der Wand – und läuft mir nicht nach.

Evangelium

Das große Weltgericht.
Jesus hat dazu eine Geschichte erzählt. Matthäus überliefert sie. Nachlesen können Sie sie im 25. Kapitel – schon fast am Ende des Evangeliums.

Jesus sagt:
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet,  und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten:
Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!
Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben.
 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.
 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet.
Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht.
Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.

Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?
Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet?
Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.
Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet.
Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.

Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.

Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Höllenschlund
Der Höllenschlund geht mir nicht aus dem Sinn. Ich sehe ihn weit geöffnet. Doch die Teufel haben menschliche Gesichter - oder unmenschliche. Vor 100 Jahren, 1914 hatte der Erste Weltkrieg begonnen. Wie viele Opfer waren schon zu beklagen? Werden noch zu beklagen sein? Der Krieg macht unschuldige Menschen obdachlos, reißt Familien auseinander, bringt Vertreibungen und Flucht. Auf den Koppeln der Soldaten steht: Gott mit uns. Aber die Erde blutet. Wie die Menschen - Ein Jahr später, 1915, sind die Illusionen längst geplatzt. Aber die Menschen wussten nicht aufzuhören. Wer schuldig ist, wird bis heute diskutiert. Wer hat angefangen, wer mitgemacht, wer Geschäfte gemacht?

100 Jahre später kommen Menschen von weit her - ich kann die Länder nicht einmal alle aufzählen  -zu uns. Sie werden Flüchtlinge genannt, Asylanten oder einfach auch nur „die“ Ausländer. Sie haben ihre Heimat verlassen, um überhaupt noch eine Zukunft zu haben. Unter ihnen sind viele sogar minderjährig. Mit jedem Gesicht verbindet sich eine eigene Geschichte.  Eine Leidensgeschichte. Weltweit - und doch zum Teil unbemerkt - sind Menschen auf der Flucht. Die Nachrichten platzen - wir können nicht einmal mehr alles wahrnehmen. Von dem Hunger, der immer noch nicht besiegt ist, reden wir kaum noch.

Höllenschlund. Wie viele Menschen werden in ihn getrieben - ohne Urteil, ohne Schuld, ohne Spielraum. Aber das sind doch nicht die Verdammten - schreie ich...

Weltgericht
Jesus erzählt uns ein Gleichnis. Ein Thron, ein Richterstuhl ist aufgestellt, in Licht getaucht. Herrlichkeit ist das Zauberwort. Aber was sich dann abspielt, gleicht einem Traum, vielleicht mehr noch einem Albtraum. Säuberlich getrennt erstehen vor unseren Augen und Ohren zwei Lager - getrennt wie Schafe und Böcke. Die einen werden das Reich Gottes in Besitz nehmen, das von Anfang an für sie bestimmt ist - die anderen werden in ewiges Feuer geworfen, das den Teufeln und Dämonen zukommt. Selbst farbig gemalt ist es alles "schwarz - weiß". Keine Frage: hier ist alles eindeutig! Hier wird alles eindeutig gemacht!

Der Richter hält sich auch nicht lange mit Zeugenvernehmungen und Plädoyers auf. Sein Urteil ist wohl begründet: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Oder: "Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan."

Aufgezählt werden sieben Erfahrungen, die Menschen machen, wenn sie aus der geordneten Welt herausfallen: Hunger und Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit und Flucht, Krankheit und Gefangenschaft. Die Worte reichen nicht, auszudrücken, was es heißt, wenn Menschen hungern, verdursten, nackt und schutzlos sind, ohne Heimat, ohne ein Zuhause, krank und gefangen. Wie klein, abgehängt, verloren sie sind! Jesus nennt sie "meine geringsten Brüder (und Schwestern)". Der Richter kennt keine Distanz mehr - und Neutralität auch nicht. Das ist schon ein besonderes Verfahren, dem wir beiwohnen - ungewollt.

Ich horche auf. Ich sehe Jesu Verwandtschaft! Brüder! Schwestern! Als ob ich das vorher hätte wissen müssen - ganz selbstverständlich. Die Herrlichkeit, von der im Evangelium die Rede ist, legt sich über die Szene. Menschen, die Jesus als seine geringsten Brüder und Schwestern ansieht, werden in ein Licht getaucht, das sonst - und anderswo - nur denen zukommt, die groß, bedeutend, klug, reich und herrschaftlich zu punkten wissen. Hier wird die Welt auf den Kopf gestellt. So passt sie nicht einmal mehr in mein Weltbild. Ich  sehe eine andere Welt. Ich kneife ein wenig die Augen zu: Sind denn diese "geringsten" Brüder und Schwestern per se besser? Aber: besser als "wer"? Besser als "ich"? Jesus wägt nicht ab. Hier ist alles auf eine Karte gesetzt!

Liebe
Weltgericht! Die ganze Welt ist versammelt. Und Jesus solidarisiert sich - vor den Augen aller Menschen und Völker - mit „seinen“ geringsten Brüdern und Schwestern! Sind es auch meine? Jesus fragt nicht einmal nach Schuld, nach Hintergründen, nach Erklärungen. Er stellt sich auf ihre Seite. Er ist einer von ihnen! Er wird auch bei ihnen bleiben! Der Weltenrichter ! Der Weltenrichter auch hungrig, heimatlos, auf der Flucht. Ist das – womöglich – die Herrlichkeit, die von diesem Thron ausgeht? Ist das – endlich – das Licht, dass auch die Schatten leuchtend macht?

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit …

Ich muss zugeben, diese Geschichte zu kennen! Oft schon habe ich sie gehört – und überhört,
oft habe ich sie schon auf farbenprächtigen Bildern gesehen – und meine Augen vor ihr geschlossen. Dabei ist ihre Pointe so einfach wie glücklich. Es geht um Liebe!

In der Zeitung lese ich von vielen Menschen, die nicht satt werden, die ihre Kinder nicht oder nur schlecht ernähren können, die in Lagern kampieren. Kaum auszumalen, wenn sie alle zu uns kämen – mit dem Mut der Verzweifelten.
Im Fernsehen sehe ich viele Menschen, die auf der Flucht sind. In Nussschalen bringen Schlepper sie übers Mittelmeer an die Küsten Europas. Viele überleben das Abenteuer nicht. In der Statistik, die geführt wird, gehen sie in Zahlen unter. Sie haben alle einen Namen – ich kenne sie nicht. Wenn aber ihre Gesichter bei uns auftauchen, stoßen sie zum Teil auf Vorbehalte und Vorurteile. Ich habe ja nichts gegen Fremde, aber … so heißt es dann. Vielsagend. Und nichtssagend. Dass sich unsere Gesellschaft ändern wird, überrascht nicht,  versetzt manche aber  in Angst. Selbst das Geld ist oft nur vorgeschoben. Für viele Fragen haben wir auch noch keine Lösung. Aber ein Weg beginnt mit einem ersten Schritt.
In meiner unmittelbaren Nachbarschaft, dem Viertel, in dem ich wohne, weiß ich auch von Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben. Sie haben zu essen, können sich kleiden, wohnen bescheiden – und gehören nicht dazu. Am gesellschaftlichen Leben nehmen sie nicht teil. Gerne gesehen sind sie auch nicht. Sie werden auch nicht mithalten können.  Ihre Angst, noch weiter herunterzufallen, verstehe ich wohl – aber die Rechnung geht nicht auf, Not und Elend zu verrechnen. Aufzurechnen. Die Hoffnung, wir könnten eine gerechte Gesellschaft schaffen, ist schon sehr klein geworden. Wir geben den Sachzwängen die Schuld – und überhaupt den Verhältnissen. Als ob wir mit ihnen nichts zu tun hätten.

Dann freue mich, dass sich viele Menschen große Mühe geben, Menschen zu begleiten, sie aufzufangen – und auch Flüchtlinge bei uns willkommen zu heißen!  Am Erntedankfest – lange ist es noch nicht her – haben manche Gemeinden nicht Erntegaben auf und an den Altar gelegt, sondern Kleidungsstücke, Lebensmittel, Spielzeug – für die, die neu zu uns gekommen sind. Mancher Altar hätte platzen können! Von hier geht Hoffnung aus – klein, gewiss, aber unübersehbar. An diesem Ort feiern wir auch das Abendmahl. Wir hören die Einsetzungsworte, wir teilen Brot und Wein. „Für dich gegeben“.

Dem Evangelium wird nachgesagt, eine Option für die Armen zu haben. Eine Option? Wenn Jesus von dem großen Weltgericht erzählt, erzählt er nicht von einer Option - er stellt die Welt nicht nur auf den Kopf, er gibt ihr ein Herz. Ab jetzt werden wir unsere Blicke, unsere Denkansätze, unsere Hoffnungen neu ausrichten müssen. Auf die Verwandtschaft Jesu, auf seine geringsten Brüder und Schwestern. Schwierig ist die Frage schon: Lässt sich "gering" steigern? Gering, geringer - am geringsten?

Ich möchte Jesus lieben. Ihm mein Herz, alles, öffnen. Ich möchte mich zu ihm ausstrecken. Aber ich kann ihn nicht in den Arm nehmen, ihn nicht streicheln: Jesus lieben heißt, ihn in seinen "geringsten Brüder und Schwestern" zu sehen. Aufzuheben. An den Tisch zu setzen. Das Leben, die Zukunft mit ihnen zu teilen. Das so vertraute, vielleicht sogar abgewetzte Evangelium, entpuppt sich in unserer Mitte als - Liebesgeschichte. Liebesgeschichten sind immer voller Überraschungen. Wer liebt, kann sich darüber freuen - wer nicht liebt, bekommt Angst.

Gottes Reich
Der Sonntag heute heißt „Volkstrauertag“. Über die Geschichte des Tages könnte ich viel erzählen, fürchte aber, schon genug geredet zu haben. Aber darf ich fragen: Worüber trauern wir? Unser Volk?

Trauern heißt nicht klagen, auch nicht Rechthaben wollen, schon gar nicht, über andere den Stab zu brechen. Trauern heißt auch nicht, in Sack und Asche zu gehen, mit gesenkten Häuptern und gesenkten Augenlidern. Trauern heißt, sich dem Schmerz zu stellen – und sich die Zeit zu geben, neu durchzustarten.

Ich gehe gerne ins Museum. In bunten Farben gemalt, ist selbst das große Weltgericht ein Kunstgenuss. Es gibt tolle Bilder von dem großen Weltgericht, eins gewaltiger als das andere! In den Farben des Lebens gemalt, ist das große Weltgericht eine Liebesgeschichte. Eine königliche! Wir schauen, rätseln, staunen. Es geht um Gottes Reich. Aber was sehen wir? Der Weltenrichter präsentiert uns: Hunger und Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit und Flucht, Krankheit und Gefangenschaft. Mehr noch: seine "geringsten Brüder und Schwestern".

"Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden von ihm zusammengerufen werden..."

Ist das Ende wirklich noch offen?

Übrigens: Ich bin nicht angeklagt und klage nicht an. Zeuge bin ich! Zeuge für die Wahrheit und das Leben. Damit ihr das nur wisst: Die Liebe vermag sogar, den Höllenschlund zu schließen. Auch wenn sich das wie eine Formel anhört: um Christi willen!

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
 

Perikope
15.11.2015
25,31-46