Konfirmation 1989 – 2019: Gertrude grenzenlos von Margot Runge

Gertrudes Engel brauchte immer Luft, viel Luft. Hinter dicken Mauern fühlte er sich eingesperrt, und eingesperrt sein, das mochte er nicht. Das machte ihn krank. Natürlich unterstützte er die Engelchöre und die himmlischen Heerscharen beim Singen. Das war Ehrensache. Und die Posaunenengel an der Orgel flößten ihm eine angemessene Portion Respekt ein. Einer von ihnen würde schließlich beim Jüngsten Gericht die Posaune blasen. Manchmal traf er sich auch mit den Engeln, die ihren Platz bei den Grabsteinen hatten. Sie guckten immer so traurig. Aber sie beweinten ja auch die Toten. Sie erinnerten nicht nur an alte, sondern oftmals junge Menschen, halbe Kinder noch, die Kriege oder Krankheiten dahingerafft hatten. Oder die so verzweifelt waren, dass sie ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatten. Diese Engel knieten meistens. Wenn Gertrudes Engel sie besuchte, rollte ihm selbst eine Träne über das Engelsgesicht und die Flügel wurden ihm schwer.
Da spielte er lieber ein Weilchen mit den niedlichen Putten, den pummeligen Engelskindern mit Pausbäckchen, die in allen Ecken der Kirchen herumturnten, schwirrten und flatterten. Manchmal schluckte er freilich, wenn er sah, was manche in den Händen trugen, bevorzugt die, die über den Kanzeln saßen: Spieße, Speerspitzen oder Zangen. Damit war Jesus gepeinigt worden, bevor er starb. Waffen und Folterinstrumente gehörten weder in die Hände von Kindern noch von Engeln, fand er. Bei so viel Gewalt in der Welt sollte es nicht auch noch Todes-Engel geben. Mit Waffen spielt man nicht. Was würde wohl Michael dazu sagen, der ehrwürdige Erzengel, der sich nur leicht räuspern musste, um alles zum Schweigen zu bringen. Michael mit seinem Schwert in der Rechten hatte es sogar als Wandgemälde über die Empore geschafft. Er hielt die Waage in der Hand und wog am Ende des Lebens sorgsam ab. Und dann geleitete er die Seelen in das Paradies. Seelenwäger, tuschelten die Putten hinter seinem Rücken.

Michael, die himmlischen Heerscharen oder der Posaunenengel – so sehr Gertrudes Engel es mochte, unter seinesgleichen zu sein, so zog es ihn aus den Kirchenmauern doch immer wieder ins Freie. Seine Gertrude liebt die Freiheit, ebenso wie er selbst. Gertrude ließ sich nie ihre Gedanken verbieten und eckte damit an. Das bereitete ihm allzu oft Kopfzerbrechen. Aber niemand ahnte, dass er selbst es war, der ihr viele dieser Ideen in den Kopf gesetzt hatte.

Gertrude stammte aus einer Zeit, in der sich eine Mauer quer durch Deutschland zog. Alle Kinder gingen zu den Pionieren. Nur Gertrude nicht. Als einzige in der Klasse. Sie passte nicht ins Schema. Ihre Lehrerin hatte sie deshalb auf dem Kieker. Sie kreidete ihr jeden Fehler doppelt an. Und sie verfolgte missfällig, dass sich andere in der Klasse nicht zu eng mit Gertrude befreundeten. Sie hatte Angst, dass Gertrude solche Sätze sagen könnte wie: „Ich möchte gern meinen Onkel besuchen.“ Der Onkel wohnte zwar nur ein paar Stunden mit dem Zug entfernt, in Berlin. Aber er wohnte auf der anderen Seite der Grenze, in Westberlin. Da durfte niemand hin, kein Kind, keine Lehrerin. Und im Urlaub einfach mal so nach Österreich oder Spanien, nach Frankreich oder Dänemark zu fahren, diese Idee wäre niemandem auch nur in den Sinn gekommen.
Schon das Wort „Mauer“ war verboten. Die Lehrerin achtete streng darauf, dass die Kinder stattdessen sagten: „antifaschistischer Schutzwall“. Gertrudes Eltern waren in ihren Augen höchst gefährlich, denn sie wollten die DDR verlassen und in den Westen übersiedeln, und die Lehrerin argwohnte, daß in dieser Familie keineswegs sozialistisches Gedankengut gepflegt wurde, sondern daß sich hier eine Brutstätte freien Geistes entwickelte. Damit  lag sie durchaus richtig.

Gertrude pendelte zwischen zwei Welten: der ihrer Eltern, in der frei gedacht und diskutiert wurde, und der Enge, die sie überall umgab. Der Engel wunderte sich, wie wenig sich die meisten Leute an dieser Enge störten. Sie sahen nicht, dass Gertrude schlechtere Zensuren bekam. Sie bekamen nicht mit, wie Gertrude systematisch ausgeschlossen wurde. Den Engel empörte das jedes Mal so sehr, daß er das Flügelflattern bekam. So verpasste er fast den nächsten Auftrag von Gott: Gertrude brauchte eine Freundin. Eine mit Herz. Selbständig sollte sie sein und einen unerschütterlichen Sinn für Gerechtigkeit haben. Ein bißchen frech musste sie auch sein, damit sie sich nicht sofort einschüchtern ließ.
Der Engel seufzte. Jemanden mit großer Klappe suchen, das zählte nicht gerade zu den klassischen Aufgaben für Wesen, die eher in den himmlischen Sphären unterwegs sind. Mit Geduld und Geschick widmete er sich der Zusammenführung und beobachtete staunend, wie nicht nur Gertrude aufblühte. Auch die Freundin wurde immer mutiger. Ein Junge, der immer zurückhaltend war, solidarisiert sich mit beiden. Die drei brachten fast schon einen Hauch Hauch von Freiheit in den Schulflur mit der Wandzeitung zum Republikgeburtstag. Ein Mädchen sammelte Fakten zur Umweltverschmutzung in der DDR und ein Junge weigerte sich, in der Armee zu dienen.
Der Engel fächelte ihnen mit seinem Flügel unaufhörlich frischen Wind zu für einen klaren Kopf und eine schlagfertige Antwort.

1989 fiel die Mauer. Noch heute fliegt der Engel am liebsten auf Nordhausen zu und danach ein paar Kilometer weiter Richtung Westen, dorthin, wo die Wachttürme standen. Er erinnert sich genau, wo sich der Stacheldraht entlangzog. Aus dem Todesstreifen ist ein grünes Band geworden. Wenn er hoch oben darüber hinweggleitet, werden ihm die Flügel unendlich leicht.
Eigentlich hatte er sich damals auf einer bequemen Wolkenbank zur Ruhe setzen wollen. Aber dann fiel ihm auf, wie stickig es an manchen Orten war, wo Gertrudes Freund*innen lebten. Leute, die anders aussahen, wurden angepöbelt. Dann fühlt er, er wird gebraucht. Genauso wie der Engel von Kim, von Chris, von Kay, Alex und Franzi.
Gertrudes Engel braucht viel Luft. 30 Jahre ist das jetzt her, murmelte er neulich, aber ich habe noch viel zu tun. Amen.

 Konfirmationspredigt 2019 zum Buch
Judith Burger: Gertrude grenzenlos. Gerstenberg Verlag 2018, ISBN 978-3-8369-5957-5

„Gertrude grenzenlos“ schildert den Alltag einer Familie, die in der DDR gegen den Strom lebt und einen Ausreiseantrag gestellt hat. Der Vater, ein Schriftsteller, darf nicht mehr veröffentlichen und arbeitet bei der Kirche. Die Staatssicherheit überwacht die Wohnung. Und Gertrude freundet sich mit Ina an, deren Mutter systemkonform lebt und die von all dem genausowenig Ahnung hat wie viele Jugendlichen und ihre Eltern heute, 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution.

Die Konfirmand*innen bekommen dieses Buch als Geschenk von der Kirchengemeinde. Die Eltern singen ein Lied über Engel. Die Predigt soll den Jugendlichen Lust machen, das Buch zu lesen, und gleichzeitig den Wunsch der Eltern nach einem Engel für ihre Kinder aufgreifen.

Perikope