Liedpredigt zu EG 97 (mit Psalm 98,1f.) von Jochen Arnold
98,1
I. Das Jaulen der Trauerklöße!?
Liebe Gemeinde!
Im ICE von Stuttgart nach Hamburg sind alle Passagiere in ihre Laptops und Zeitungen vertieft oder blicken stumm aus dem Fenster. Zu hören ist nur ein ungefähr 5 Jahre altes Mädchen. Es malt mit seinen Buntstiften und singt dazu: „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unsrem Haus herum, fidebum.” Anfangs singt sie eher leise, mit der Zeit wird das Singen immer lauter und kraftvoller. Das Mädchen malt und singt vom Bi-Ba-Butzemann, bis die anderen Passagiere sich genervt zu ihr und ihrer Mutter umdrehen. Schließlich sagt die Mutter: “Mensch, sei doch mal leiser!” Das Kind fragt natürlich zurück: “Warum denn?” Darauf die Mutter: “Was würdest du denn machen, wenn die anderen Leute im Zug plötzlich alle anfangen würden, hier laut rumzusingen?” Worauf das Mädchen begeistert antwortet: “Na dann würde ich natürlich mitsingen!”
Warum singen wir eigentlich? Warum ist uns Christen das Singen wichtig?
  Weil es halt irgendwie dazu gehört? Weil es angesagt oder chic ist?
Wohl kaum. Wir hören zwar in allen Lebenslagen Musik. Ja, unser Leben ist ohne Musik kaum denkbar… Sie ist Bestandteil der Hochkultur, der Popkultur, der Subkultur. Keine Party ohne anständige „Mucke“, kein Kino ohne spannende oder rührende Filmmusik, aber selbst singen? „Och nö“, sagen viele Jugendliche, sie finden – trotz DSDS - Singen meistens „uncool“. „Papa, du singst immer so laut“, sagt meine große Tochter…  
Und schon vor Jahren titelte der Spiegel: Das Jaulen der Trauerklöße – oder warum die Deutschen nicht mehr singen…
Folgen wir mit unserem kirchlichen Singprogramm also einem längst überholten Auslaufmodell?
II. Singet dem Herrn ein neues Lied…
Martin Luther schreibt in einer Gesangbuchvorrede: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn Gott hat uns Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, den er uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann es nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es auch andere hören und herzukommen.“
Das klingt nicht nach Jaulen der Trauerklöße. Dafür muss man sich anscheinend nicht genieren oder gar entschuldigen. Im Gegenteil: „Damit es auch andere hören und herzukommen.“ Ein neues, ein anderes Lied soll es also sein als das dröge „Gejaier“ der Schwarzmaler. Ein Lied von der Freiheit, von der Rettung dieser Welt. Gegen das unheilige Dreierpack von Sünde, Tod und Teufel, kraftvoll und einladend. Ja sogar fröhlich und mit Lust darf es zugehen, ihr Protestantinnen und Protestanten.
Freut euch, freu dich. Singen und sagen sollst du, denn das Evangelium ist kein papiernes Lesewort, sondern ein sinnliches Klangereignis.
Das passt zum heutigen Sonntag Laetare, dem kleinen Ostern in der Passionszeit. Ein bisschen rosa im dunklen Violett auch schon liturgisch. Freu dich, freu dich, Jerusalem, freu dich du Stadt Gottes, ja ich meine, wir dürfen sagen: freu dich Christenheit! Denn dein Glaube baut auf eine große Verheißung. Freu dich, du darfst singen, es soll dir nicht wie ein Kloß im Hals stecken bleiben.
Sing ein Lied von dem, was dich trägt, was dein Leben in dieser Welt beschreibt und dir und anderen neue Hoffnung gibt. Ein Protestlied, ein Gegenprogramm. Da ist so viel Syrien, so viel Fukushima, so viel Gewalt und so viel Hilflosigkeit. Da sind Staatspleiten und Politikerabgänge. So viel Frust… Habt ihr nicht ein Gegengift?
Schlagen wir dazu EG 97 auf. Ein niederländisches Lied, ins Deutsche übertragen von Jürgen Henkys, einem der großen Poeten unserer Zeit.
Ein Passionslied. Ob das mit der Hoffnung und Freude damit funktioniert?
Viele meinen ja, Passionslieder solle man am besten komplett verbieten und abschaffen, zu blutrünstig seien sie und deprimierend. Keinesfalls einladend. Von wegen: Damit es auch andere hören und herzukommen. Zum Weglaufen klingt das…
Ich oute mich gerne, liebe Gemeinde. Je länger ich in unserer Kirche Dienst tue, desto lieber werden mir -neben den Osterliedern, die Passionslieder. Ja, auch die, die mich vor persönliche und theologische Herausforderungen stellen.
Lieder wie dieses, dessen  kraftvoller Text mit einer eingängigen Melodie gepaart ist und das hervorragend in unsere Zeit passt, auch fast 50 Jahre nach seiner Entstehung.
Singen wir gemeinsam Str.1
III. Holz auf Jesu Schulter – Baum des Lebens
IIIa Holz auf seiner Schulter
Der Aufbau des Liedes  ist kunstvoll. Da gibt es – typisch für das 20 Jahrhundert - einen  Kehrvers, der sich durch die sechs Strophen durchzieht. Ursprünglich war er eine eigene Strophe in der Mitte des Liedes (7 Strophen). Jetzt drückt er dem Ganzen kraftvoll seinen Stempel auf. Macht das Lied zu einem Kyrielied. Ein Lied, das sich ausstreckt nach Gottes Erbarmen, nach dem Macht- und Kraftwort von Ostern. Ja, mit seiner aufsteigenden Melodie bringt es uns schon jetzt etwas Österliches. Laetare, freu dich, du wirst auferstehen, auferstehen mit ihm!
Doch noch ist es nicht soweit. Schauen wir weiter auf die Komposition. Da gibt es Stichwortverbindungen zwischen Strophe 1 und 6, aber auch zwischen den Strophen 2 und 4 (Wollen wir) und 3 und 5 (Denn die Erde).
Wir haben gleichsam zwei Kreuzstrophen 1 und 6, zwei Gottstrophen 2 und 4 und zwei Erdenstrophen 3 und 5, aber alles natürlich wunderbar aufeinander bezogen und verschränkt….
Schauen wir auf Str. 1: Das Bild vom Baum finden wir hier, aber auch von Frucht oder Früchten ist die Rede und natürlich, wie könnte es anders sein: von Jesus, genauer gesagt von der Schulter Jesu. Die Kamera des Poeten schwenkt also auf ein Körperteil; nicht auf das Haupt voll Blut und Wunden, auch nicht auf die durchbohrte Seite, der Schulter gilt die Aufmerksamkeit.
Eine Schulter kann kraftvoll und muskulös, aber auch knochig, ja zerbrechlich sein.
Breite Schultern können etwas aushalten, kleine Schultern will man lieber nicht belasten.
Wie sah sie aus, die Schulter Jesu? War sie noch bedeckt vom königlichen Purpurmantel oder nackt und bloß? Schwer lastend auf ihr das Kreuz, das Folter- und Todesinstrument, das man ihn selbst tragen ließ?
Was wird aus dem Holz auf Jesu Schulter? Ist es einfach nur hart und gnadenlos? Schneidet es ein in die Haut? Hinterlässt es bei ihm Spuren, Abrieb sozusagen, blaue Flecken? Oder bietet das Holz eine Perspektive der Hoffnung?  
Schon sind wir mitten drin in der Passionsgeschichte. Aber, horcht hin!
IIIb Baum des Lebens
Bereits die erste Strophe hält eine Überraschung, eine Pointe parat. Holz und Baum werden in Verbindung gebracht. Das ist doch banal, denkt man. Vor dem Holz war der Baum…
Doch nein, falsch: Das verfluchte Holz des Kreuzes wird wieder zum Baum! Zu einem neuen Baum, zu einem Baum der Leben in sich trägt. All das, was die Welt Jesus an Bösem wünscht, was sie an Verwünschungen und Flüchen gegenüber Gott ausgesprochen hat, aber auch all das, was Jesus an Schuld und Leid auf sich genommen und hinauf ans Holz getragen hat, das verwandelt sich, das wendet sich zu neuem Leben: ward zum Baum des Lebens…
Immer wieder ist in der Bibel von Bäumen die Rede. Schon auf den ersten Seiten heißt es:
 Da ließ Gott aus der Erde aufwachsen allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, auch den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens. Gottes Lebensbaum, ist schon von der Schöpfung her für die Menschen da. Welch eine große Perspektive. Sie reicht auch bis ins letzte Buch der Bibel, ja in das letzte Kapitel, wo der Seher Johannes vom Himmel und der Ewigkeit spricht:  Und er zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, mitten auf dem Platz und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens.
In manchen Kirchen finden wir dieses Bild unmittelbar sichtbar. In meiner Lieblingskirche in Rom, San Clemente, zum Beispiel: Da ist das Kreuz umrankt von den Zweigen und Blüten des Paradiesbaumes, auf denen Vögel nisten können und einen Ort finden, als Vorzeichen des Lebens (vgl. Psalm 84!).
Aber halt, ihr Männer und Frauen, lasst ihr euch nicht zu schnell in den Himmel, ins Paradies hinein heben? Da ist doch all das Schwere noch, das auch in diesem Lied steckt…
Richtig! Passion heißt Leiden, Mitleiden, heißt aber auch Leidenschaft für diese Erde und ihre Menschen und das von Gott her und mit ihm.
So sind die Strophen 2-5 kunstvoll aufeinander zugeschnitten.
Wir singen die Strophen 2-5
IV Kontrapunkt des Himmels
Bitte und Lob, Kyrie und Gloria stehen einander gegenüber in Str. 2 und 4. Es ist die dringende Bitte um Frieden für unsere Herzen und für unsere Welt. Es ist aber auch das Lob des ewigen Gottes selbst. Hat das Letztere in unserer Welt noch einen Ort? Gerade in der Passion ist das Geheimnis von Gottes Güte und Gericht, von Gesetz und Gnade enthalten, dem wir auch heute nachspüren. In der Passion Jesu spiegelt sich Gottes Liebe für seine Welt, aber auch sein kraftvoller Widerspruch gegen das Unrecht und die Sünde der Menschen. In diesem heiligen und rettenden Akt Gottes nur kann die Welt genesen, eine Welt, von der es in Str. 3 und 5 sehr realistisch heißt, dass sie uns, gerade uns Christen anklagt. Weil wir tief verstrickt sind in das Unrecht zwischen Nord und Süd, in den Hass unter den Religionen, in die Brutalität der Herrschaft des Geldes.
In Str. 3 klagt sie uns an, in Str. 5 jagt sie uns gar auf den Abgrund zu. Ja, liebe Schwestern und Brüder, ich gebe zu, das ist auch manchmal mein Lebensgefühl… Der Sturz ins Bodenlose. Wohin alte Welt?
Bisweilen geht es gar noch weiter: da klagt die Erde nicht nur uns, da klagen wir mit ihr Gott an: Warum hast du uns verlassen, warum lässt du dich nicht mehr hören?
 Doch da erklingt die andere Stimme, der Kontrapunkt des Lebens vom Himmel: Eine leise Stimme:
Warum zweifelst du? Warum hast Du Angst? Ich bin doch da. Ich schaffe euch Recht. Ich halte euch in meiner Hand. Ich trage euch durch.
Diese Botschaft, liebe Gemeinde, ist es, die uns nicht vergehen lässt, nicht zugrunde gehen lässt. Und jetzt kommt die zweite Überraschung: Gott lässt sie hören, wenn wir singen.
In unserem Lied, in den manchmal sehr bescheidenen Klängen seiner Gemeinde tut sich Gott selbst der Welt als der Liebende und der Gegenwärtige kund.
Warum zweifelst du also noch? Alles ist vollbracht, das Entscheidende ist bereits passiert. Über der Welt liegt nicht eine unheilvolle Götterdämmerung, sondern das aufgehende Licht von Ostern bricht sich Bahn und erhellt den Kosmos.
Singen wir gemeinsam Str. (4+5)6.
V Schulterschluss mit dem Gekreuzigten
Am Ende verlassen wir die kosmische Perspektive. Es wird leise um uns, geradezu intim. Wir wenden uns ihm selbst zu. Dem Mann mit dem Kreuz, dem Mann am Kreuz. Auf seine Frage: Warum zweifelst du? antworten wir dankbar, ein bisschen beklommen und zugleich staunend: Hart auf deiner Schulter, liegt das Kreuz o Herr. So kommt es zum Schulterschluss mit ihm. Wir legen ihm gleichsam unsere Hand auf die zitternde Schulter und spüren in allem Leiden seine Nähe, fühlen seine göttliche Kraft und sehen: Das schwere Kreuz ist bereits reich an Früchten. Nein, die Welt darf uns nicht mehr anklagen und runterziehen. Im Kreuz – welch ein Paradox! - blüht neues Leben auf schon hier und jetzt. Ach ja, möchte ich beten, ach ja, in deinem Ruf, Jesus ist das Leben. In deinem Kreuz ist meine Rettung, ich danke dir.
VI Aufgesang für die Völker
Warum singen wir in der Kirche? Habe ich eingangs gefragt.
Ganz einfach. Wo Gott den Aufschlag gemacht hat, liegt der Ball bei uns. Der liebende Gott freut sich, wenn sein Anruf auf Gegenliebe stößt, wenn seine Anrede Widerhall findet.
Deshalb gilt die uralte Devise weiterhin, ja mehr denn je: „Singet! Singt dem Herrn!“ Singt für Gott alle Welt.“
Ihr Christen dürft die Kantoren sein und die Völker  - alle Völker dieser Erde – mit hinein nehmen und zum Lob Gottes animieren. Wer einmal beim Schlussgottesdienst auf dem Kirchentag  100 000 Menschen singen gehört hat, weiß wie solch ein Völkerchor sich anhört. Und dann sollen es gar einmal 8 oder 10 Milliarden sein!? Ich freue mich darauf!
Ja auch zur Passion gehört also der Festpsalm:
  Singet dem HERRN ein  neues Lied!
  Singet dem Herrn ein  neues  Lied! Ein Lied, das es so bisher nicht gab.
Ein Lied, das vielleicht noch alte Melodien und Worte nutzt, das aber doch un-erhört neu klingt:  Neu und immer wieder neu ist die Botschaft, und sie ist wirklich Welt bewegend…
Gott wird Mensch, Gott schreibt Geschichte, Gott ist nicht zu schade für dich und für mich. Seine Liebe macht nicht halt, wenn es brenzlig wird. Sie geht voll rein ins Leben, ja mehr noch  in den Tod, ja sogar in den gewaltsamen Tod. Sie ist dort, wo Menschen leiden. Gott ruft dir diese Nachricht zu und sagt:
Freu dich daran, das ist die Hoffnung, die dein Leben trägt, deshalb sing mit, lass es auch andere hören. Singet dem Herrn ein neues Lied! Passt auf und hört zu ihr Menschen in nah und fern! Gottes Klänge der neuen Welt sind schon da. Der Freudenmeister selbst spielt uns auf. Amen.
Perikope
18.03.2012
98,1