Lobpreis der Wunderwege Gottes
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13)
Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? (Hiob 41,3)
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Liebe Gemeinde,
zufällig war die junge Frau an einem Abend im Juni mit einer Freundin auf Rollerblades unterwegs auf der Promenade, als die Kräfte nach einiger Zeit langsam sie verließen. Zufällig war ein junger Mann an diesem Abend mit seinem Fahrrad unterwegs und zufällig gerade an dieser Stelle angelangt, als die Frau mit Ihrer Freundin Ausschau hielt nach jemand, der sie für eine Strecke zurückziehen würde. Zufällig hatte er an diesem Abend etwas Zeit und nichts dagegen, den beiden Damen auf der schwierigsten Strecke etwas behilflich zu sein. Zurück am Ausgangspunkte bedankte man sich und ging auseinander. Zufällig nahm er am folgenden Tag sein Mittag nicht wie gewohnt in der alten sondern der neuen Mensa der Universität ein. Zufällig hatte sie an diesem Tag ein wenig früher Schluss und war bereits um 12:00 statt wie gewohnt um 13:30 in der Mensa. Man kann sich denken, wie der Zufall diese Geschichte weiter geschrieben hat. Jedenfalls saßen beide ein gutes Jahr später vor mir auf den Traustühlen in der Kirche.
Zufälle – haben Sie mitgezählt, es waren sieben Zufälle in dieser Begegnungsgeschichte, sieben, eine vollkommene Zahl. Was wir Zufälle nennen, nennt die Sprache des Glaubens anders. Sie nennt es ein Wunder, und sie erzählt von dem, der solche Wunder zu wirken vermag. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es: „Meine Gedanken sind nicht Eure Gedanken und meine Wege nicht eure Wege“, spricht der Herr. „Denn so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege, und meine Gedanken höher als eure Gedanken...“
Die Begegnung zweier Menschen, die einander zum Schicksal werden, rührt an die Grunddimensionen unseres Lebens. Ist alles wirklich so zufällig? Oder gibt es nicht doch einen heimlichen Autor in der Geschichte unseres Lebens. Einen Autor, der für die Geschöpfe seines Wirkens nur den Wunsch kennt, dass sie ihr Glück machen, in Freuden aus ziehen und im Frieden geleitet werden. Auch wenn seine Gedanken höher sind als unsere Gedanken und seine Wege höher sind als unsere Wege, so heißt das doch ganz und gar nicht, dass seine Wege entfernt seien von unseren Wegen. Vielmehr erzählen die Geschichten der Bibel von Gott so, dass er sich mit auf den Weg macht und dabei das eine, wesentliche, Elementare vermitteln will: Segen.
Wer vom Geheimnis Gottes redet, redet zugleich auch vom Geheimnis des Lebens. Davon schreibt der Apostel Paulus in seinem Text, über den wir heute für einen Augenblick nachdenken wollen.
„O, welch eine Tiefe des Reichtums…“, so beginnt der Text, holt uns ab und führt und in die Tiefe.
Wer schon einmal im Meer getaucht ist, weiß, was für eine Faszination von diesem Weg in die Tiefe ausgeht. Hinab zu tauchen aus der Unruhe der Oberfläche, die Bewegungen der Wellen hinter sich lassen und die Ruhe spüren, die einen umgibt.
Von der Tiefe schreibt der Apostel Paulus. Von der Tiefe, in der die Wahrheit liegt. Von der Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wer diese Tiefe entdeckt hat, der hat auch Gott entdeckt. Der hat seinen Ort gefunden, weg von der Oberfläche, dem Schein und Auf und Ab und ist hinabgedrungen, um die Töne aus der Tiefe zu hören.
Was wir erfahren, entzieht sich unserem Begreifen. Wir erleben Tiefe in den Momenten des Glücks, das Staunen, dass wir in der anscheinenden Unendlichkeit des Universums wirklich gemeint sind vom Guten. Dass unter den zahlreichen Möglichkeiten die eine sich für uns ergeben hat, in der wir wirkliche Einheit spüren mit uns selbst, mit unserem Hier und Jetzt, mit Gott.
Alle gute Gabe, schreibt Matthias Claudius, in seinem Erntelied, kommt her von Gott, dem Herrn.
Alle gute Gabe, ja – aber was ist mit den Schlägen, die uns genauso treffen. Mit einem Unglück, das uns einen geliebten Menschen aus der Mitte reißt, mit Krankheit, mit Verlust von Arbeit. Gerade die Erfahrungen des Leidens stoßen uns doch hinab in die Abgründe, in die Schluchten der Tiefe, in deren Finsternis kein Licht zu scheinen scheint.
Es gibt Dinge auf dieser Erde, die wir niemals verstehen werden. Warum für das fröhliche Mädchen ihr Leben nach elf Jahren zu Ende sein musste, warum für sie die Hälfte ihres Lebens von einer Krankheit gezeichnet war, werden wir nicht ergründen können. Wir sind bis aufs Mark getroffen. Dann erleben wir, dass die Antworten, die einmal Halt hatten, ihre Klarheit verlieren. Dass sich der Abgrund auftut und wir erschrecken, weil auch wir verloren gehen könnten, weil uns nichts mehr trägt und birgt. „Wer hat den Sinn des Herrn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen“, fragt Paulus, als wüsste er genau, welche Beklemmungen im Leben uns verfolgen können.
Die Größe Gottes misst der Apostel Paulus aus, wenn er von der Tiefe der Gottheit schreibt. Unbegreiflich und unerforschlich sind seine Wege. Kein Rätsel ist gemeint, sondern ein Geheimnis. Ein Rätsel verlangt nach Lösung. Es rechnet damit, dass es auf Fragen eine Antwort gibt. Ein Geheimnis aber gibt keine Antwort, es entzieht sich einer Berechnung. Ein Geheimnis ist darauf angelegt, dass man zu ihm hervordringt, dass nicht wir es lösen, sondern es sich uns erschließt.
Was das Geheimnis des Lebens von uns verlangt, ist, dass wir uns zum ihm verhalten. Dass wir es nicht abtun und beiseite tun, sondern uns zu ihm aufmachen.
Genau dahin möchte uns der Apostel führen, dass wir von diesem Geheimnis angezogen, in dieses Geheimnis hineingezogen werden. Indem wir uns zu unserem Geheimnis des Lebens verhalten, nähern wir uns auch dem Geheimnis Gottes an. Denn zwischen uns und Gott besteht eine Schnittmenge, eine Übereinstimmung, sie besteht darin, dass Gott in seinem Sohn Jesus Christus unseren Weg auf der Ergründung unseres Geheimnisses mit geht bis in die Tiefen der Abgründe hinein. „Ich bin das Licht der Welt“, sagt Jesus. Wo von ihm erzählt wird, da soll diese Erde und alle Geschöpfe auf ihr belebt werden.
Aber sein Licht scheint auch in die Finsternis. Über die Finsternis macht die Bibel sich keine Illusion. Es gibt diese schweren Schatten der Last, Dunkelheiten wie Krankheit, wie Leid, wie Tod. In diese Dunkelheiten ist Jesus hineingegangen, Leid und Sterben hat er auf sich genommen im Kreuzestod, damit es keinen Ort gibt, in dem sein Licht nicht auch gewesen ist. „Ihn hat Gott auferweckt und hat aufgelöst die Schmerzen des Todes, wie es denn unmöglich war, dass er vom Tode festgehalten werden konnte“, das ist die Urbotschaft des Evangeliums, das erste Mal so verkündigt in der Predigt des Petrus zu Pfingsten vor gut 2.000 Jahren (Apg 2,24). Weil es bei Gott immer um alles geht, ist darum das Leben in Jesus durch den Tod hindurchgegangen, damit wirklich alles durch ihn geschehen ist. Gott zieht uns in sein Geheimnis, er zieht uns in das Leben hinein.
Wenn nun von ihm und durch ihn alle Dinge sind, wie werden dann alle Dinge zu ihm sein? Was ist damit gesagt? Mit dieser Frage setzen wir einen Schritt in die Zukunft. Diese Zukunft liegt nicht nur jenseits aller Dinge, also jenseits unserer Welt. Diese Zukunft beginnt in jedem Augenblick, sie ist schon nachher oder sie ist morgen. Sie kann uns verändern.
Für Menschen mit der Diagnose Demenz oder Alzheimer ist die Unsicherheit, wer wir in der Zukunft sein werden, eine der großen Ängste, die ihnen in dieser Krankheit begegnen.
Wie wird es sein, wenn ich mich meiner Liebsten nicht mehr erinnern, wenn ich mich vielleicht einmal nicht mehr meiner selbst erinnern kann. Wer bin ich dann, bin ich dann noch derselbe oder ein anderer oder ein Fremder in meinem Körper?
Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge, schreibt Paulus. Wenn Gott uns in sein Geheimnis und in das Leben hineinzieht, dann werden wir uns nicht verlieren. Wir haben unser Leben nicht von uns selbst. In allem, was sich ändert und wie wir uns verändern, bleibt Gott derselbe. Er bleibt uns zugewandt. Seine Beziehung bleibt, sie ist die Quelle des Lebens und sie wird sein, wo immer wir sind. Sie wird auch sein, wenn unser Geist sich verdunkelt, und sie wird auch sein, wenn Nacht um uns ist. „Bei ihm ist die Quelle des Lebens und in seinem Lichte sehen wir das Licht“ (Ps 36,10). Das ist der Schritt auf ihn zu, denn nicht nur von ihm und durch ihn, sondern auch zu ihm sind alle Dinge.
Paulus hat kein Klagelied angesichts der unerforschten Wege Gottes geschrieben. Er schrieb einen Lobgesang, dessen Finale aus der Tiefe in die Höhe klingt: Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit.
Amen.