Die Gnade Gottes, die Liebe Jesu Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Liebe Gemeinde,
"Arbeit ist nicht alles", titelte vor einigen Wochen meine heimische Lokalzeitung in ihrer Wochenendbeilage. Untertitel: "Beruf und Freizeit in Balance bringen." Da fanden sich allerlei nützliche Ratschläge für das Wohlbefinden an Leib und Seele: Beweg dich mehr; mach ab und zu Termine mit dir selbst; gib Verantwortung an andere ab; unterscheide zwischen wichtig und weniger wichtig. Außerdem wird mir geraten, ich solle einen Kreis malen und darauf wie Tortenstücke die unterschiedlichen Bereiche meines Lebens einzeichnen: Familie, Freizeit, Beruf, Körper usw. Dieses – so lese ich – "führt Ihnen sehr genau vor Augen, ob Ihr Leben mit Ihren Bedürfnissen übereinstimmt." (Neue Westfälische, 7./8. März 2015)
Mir wird unbehaglich. Was habe ich nicht alles für Bedürfnisse! Nach ihnen mein ganzes Leben ausrichten? Was nicht stimmt im Blick auf die Arbeit und das Leben und die Missverhältnisse zwischen beiden – das hat mit persönlicher Zeiteinteilung nur begrenzt zu tun. Es liegt auf einer tieferen Ebene. Da gibt es angeordnete Doppelschichten. Unbezahlte Überstunden. Leiharbeit mit sittenwidrigen Verträgen. Menschenverachtenden Zeitdruck. Hinweise zu einer ausgewogenen Balance zwischen Beruf und Freizeit helfen hier nicht weiter. Manchem könnten sie wie Hohn erscheinen.
Viel wichtiger und buchstäblich lebensnot-wendiger als mein persönliches Wohlbefinden ist die grundsätzliche Frage, wie wir bei der Arbeit und in der Freizeit so leben können, dass deutlich wird: Unser Leben ist kostbar. Ein einmaliges Gottesgeschenk. Voller Würde und ungeahnter Möglichkeiten.
Wenn Menschen sagen müssen: "Der Druck ist so groß, dass viele, die in der Krankenpflege arbeiten, selber krank werden", dann geschieht Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen. Damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Wenn Menschen sagen können: "Gefährlich war's. Ich hatte oft Angst. Wirklich Angst. Aber da hat einer gut auf mich aufgepasst. Und wir haben aufeinander aufgepasst", dann wird eine Dimension von Leben und Arbeit deutlich, die alles übersteigt, was ich als Mensch planen und machen kann.
Im Lukasevangelium lesen wir von einer Begebenheit, die auf unser Thema ein ganz eigenes Licht wirft. Wir sehen Jesus, wie er unterwegs einkehrt bei Maria und Martha.
Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm in auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zur ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden. (Lukas 10, 38-42)
Liebe Gemeinde, "Arbeit ist nicht alles": Die Versuchung liegt nahe, den Titel aus meiner Lokalzeitung auch über diese biblische Geschichte zu setzen. Dann wäre deren Aussage ebenso klar wie banal. Martha deckt den Tisch, schafft etwas zu essen herbei und bewirtet den Gast, damit es ihm an nichts fehlt. Maria hört zu. "Jesus, findest du das in Ordnung?", will Martha wissen. "Stört es dich nicht, dass sie sich´s bequem macht auf meine Kosten?". "Arbeit ist nicht alles", scheint Jesu zu sagen. "Maria hat entschieden, was ihr jetzt wichtiger ist. Und das ist gut." So ähnlich hatte es mein Wochenend-Ratgeber empfohlen. Sollte die Botschaft wirklich so schlicht sein?
Aus Maria und Martha wurden in der Auslegungsgeschichte zwei Frauentypen gemacht, die für gegensätzliche Lebensweisen stehen: Hier der aktive, tätige Typ, der sieht, was getan werden muss, die Ärmel hochkrempelt und handelt. Dort der eher passive, betrachtende Typ, der zuhört, nachdenkt, die Eindrücke im Herzen bewegt und vertieft. Manche treten entschieden für Maria ein; andere nicht minder vehement für Martha. Und weil das Leben – wie unsere Erfahrung lehrt – weder ohne das eine noch ohne das andere auskommt; weil wir arbeiten müssen und ruhen, weil wir handeln müssen und hören, einigt man sich in der Regel auf ein ausgewogenes "Sowohl als auch".
Das ist wenig aufregend. Und dazu müsste die Geschichte nicht in der Bibel stehen. Ihr springender Punkt liegt ganz woanders. Am Ende. Da, wo vom "guten Teil" die Rede ist. Das erinnert mich an einen Satz meiner Oma. "Kinder, das kann uns keiner mehr nehmen", sagte sie gern, wenn wir etwas besonders Schönes erlebt hatten und jammerten, dass es schon wieder vorbei war. Dieser Satz kommt mir noch heute in den Sinn, wenn ich die Zeit anhalten möchte; mich an ein seliges Glücksgefühl klammern will; einen wunderbaren Moment zur Ewigkeit machen.
Festhalten geht nicht. Aber: "Das kann dir keiner mehr nehmen." Die Erfahrung wirkt, auch wenn sie nicht andauert. Das Glücksgefühl verändert mich, auch wenn es wieder vergeht. Den schönen Moment habe ich erlebt, auch wenn er vorbei ist. "Das kann dir keiner mehr nehmen." Mit diesem Satz meiner Oma habe ich angefangen, mir eine innere Schatztruhe anzulegen. Da kommt alles hinein, was kostbar und wertvoll bleibt.
Erlebnisse und Erfahrungen bewahre ich darin auf. Worte und Gesten und Eindrücke, die mit Geld nicht zu bezahlen sind. Und auch nicht mit eigener Anstrengung zu erarbeiten. Da ist nur drin, was unabhängig ist von meiner Leistungskraft und von der Beurteilung anderer. Unverdientes. Geschenktes. Niemand hat Zugang zu dieser Kiste; niemand kann mir madig machen, was darin ist; erst recht kann niemand etwas daraus kleinreden oder wegnehmen.
Maria hat das gute Teil erwählt, das soll nicht von ihr genommen werden. Wir erfahren nicht, was Maria zu hören bekam, während sie Jesus zuhörte. Es wird ihr Geheimnis bleiben, welche seiner Worte und Gesten und Blicke sie aufbewahrte. Einen Schatz jedenfalls. Das gute Teil, wie Jesus sagt. Dem Zugriff und der Bewertung anderer entzogen. Auch vor den eigenen Zweifeln geschützt. Von Gott behütet.
In der Geschichte von Maria und Martha leuchtet wie ein helles und wärmendes Licht die Chance auf, das Leben als Gottesgeschenk zu erfahren. Während der Arbeit kann das geschehen. Und in der Freizeit. Beim Kochen und Tischdecken ist das möglich. Und beim Zuhören. Unter Tage kann das sein. Und am Krankenbett.
Das gute Teil. Da spürt einer: Hier hat Gott die Hand über mich gehalten. Da erfährt eine: Mir ist eine Kraft geschenkt, die nicht nur aus mir selber kommt. Da ahnt jemand: Dieses eine Wort wird mein ganzes Leben verändern. Und eine andere: Ich bin etwas wert, obwohl ich gerade nichts leisten kann. Das gute Teil.
Um das gute Teil, von dem Jesu spricht, sorgst und mühst du dich nicht. Es wird dir geschenkt. Von Gott, der dir das Leben gab. Das gute Teil bleibt nicht Maria vorbehalten. Das helle und wärmende Licht dieser Geschichte ist lebensnotwendig für uns alle. Deshalb dürfen wir nicht weghören, wenn Menschen sagen: "Der Druck ist so groß, dass meine Arbeit mich krank macht."
"Das Geld, was ich verdiene, reicht kaum aus, um meine vierköpfige Familie zu ernähren." Oder, wie mir kürzlich ein Mann sagte, der seit langer Zeit vergeblich Arbeit sucht: "Ich habe jedes Ansehen verloren, weil ich keine Arbeit habe." "Man behandelt mich wie den letzten Dreck, weil ich angeblich ein Schmarotzer bin."
Wo Arbeit so verteilt und organisiert ist, dass Menschen solche Extreme erfahren, da ist mehr durcheinander geraten als das persönliche Lebensgleichgewicht. Da treiben äußere Bedingungen Menschen durch die Tage. Keine Chance, das Pensum auch nur annähernd zu schaffen. Und so wird die Arbeit zum nimmersatten Monster. Gnadenlos frisst es Zeit und Lebensfreude.
(Martha zähmt den Drachen Tarasque, Martha-Altar in der St. Lorenz-Kirche in Nürnberg. Bildnachweis: Joachim Schäfer, Ökumenisches Heiligenlexikon.)
Ein Künstler hat im Mittelalter dieses "Arbeits"-Monster gemalt. In Nürnberg, in der St.Lorenz-Kirche, ist es zu besichtigen. Da steht es neben Martha. Martha wurde damals als Heilige verehrt, denn sie hat der Legende nach das Monster gezähmt. Vorbei die Zeit, in der es als bedrohliches, menschenfressendes Ungeheuer sein Unwesen trieb. Martha führt es wie ein braves Haustier an ihrem Gürtel. Wie ihr das wohl gelungen ist? frage ich mich. Was mag Martha zu dem Drachen gesagt haben? Wie hat es geklungen? Flüsternd? Gebieterisch? Vor allem: Woher wusste sie, wie man den Drachen zähmen konnte?
Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not, hatte Jesus zu Martha gesagt. Es blieb Marthas Sache, was sie mit diesen Worten anfing. Wer weiß – vielleicht hat die Legende recht, und die Worte Jesu haben damals Marthas ganzes Leben verändert? Vielleicht wurden es Worte für ihre innere Schatzkiste; ein gutes Teil, das ihr niemand mehr nehmen konnte?
Der Bergmann hat vorhin gesagt: "Wir sind in die Kirche gegangen, um Gott zu danken, dass wir heil wieder rausgekommen sind. Und dass wir Arbeit hatten." Und der Krankenpfleger: "Eigentlich ein schöner Beruf. Man bekommt Sachen von Menschen, die man nicht mit Geld bezahlen kann: Ein Händedruck, ein Lächeln."
Das gute Teil. Gott gebe uns wache Sinne dafür. Und den Mut der Martha in der Legende, die den Drachen zähmte. So, dass er selbst seinen eigenen Platz behielt und doch dem Leben Raum lassen musste. Dem Leben, wie Gott es gemeint hat.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.