"Menschen gerecht werden", Predigt zu Amos 5, 21-24 von Wolfgang v. Wartenberg
5,21
Menschen gerecht werden
5,21 Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. 22 Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. 23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Liebe Gemeinde,
was für harsche Worte gegen die Feiertage und die Gottesdienste damals! „Ich bin gram, ich verachte, ich habe keinen Gefallen, ich mag nicht ansehen“, gipfelnd in dem Ruf: „Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder.“ Und dann dieser beeindruckende Satz: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Was bedeutet das alles? Wer ist Amos und was meint er? In welche Situation spricht er hinein?
1. Amos kommt aus dem Städtchen Tekoa, vier Wegstunden südlich von Jerusalem gelegen. Er lebte in der Mitte des 8. Jahrhunderts vor Christi Geburt, also vor etwa 2750 Jahren. Er war ein Bauer, heute würden wir sagen: ein Landwirt, ein Vieh- und Maulbeerzüchter. Gott hat ihn zum Propheten berufen. Er ist in den Norden nach Israel gezogen, um dort zu verkündigen, was Gott ihm aufgetragen hat.
Er war ein aufmerksamer Beobachter der politischen Ereignisse seiner Zeit. Im Namen Gottes empörte er sich über die sozialen Verhältnisse in Israel. Auf der einen Seite stellte er fest, dass es dem Land gut ging. Die Wirtschaft blühte, Häuser wurden gebaut, es gab einen erfolgreichen Weinbau, Viehzucht war verbreitet. Auch der religiöse Kult profitierte von der Wohlhabenheit. Rauschende Feste wurden gefeiert. Die Zahl der Opfergaben wuchs. Auf der anderen Seite aber sah Amos allzu deutlich, wie die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer wurden. Amos sagt es unverblümt: Da gibt es Mächtige, die unschuldige Menschen für Geld in die Sklaverei und Arme „für ein Paar Schuhe“( (wörtlich! 2,6f) verkaufen. „Sie treten den Kopf der Armen in den Staub und drängen die Elenden vom Wege“ (ebd.). „Ihr unterdrückt die Armen und nehmt von ihnen hohe Abgaben an Korn. Ihr bedrängt die Gerechten, nehmt Bestechungsgelder und unterdrückt diejenigen, die kein Geld haben“ (5,11f).
Gott tritt im Zeugnis des Amos als ein Fürsprecher der Armen und Schwachen auf. Denen, die da so selbstsicher leben, wird das Gericht Gottes angedroht. Er vermisst bei ihnen ein solidarisches Zusammenleben und ein Mitleiden mit den Frauen und Männern, denen es schlecht geht, die Hunger haben, die vielleicht kein Dach über dem Kopf und keine Arbeit haben, mit der sie ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie bestreiten könnten.
Damit, liebe Gemeinde, geschieht in Israel etwas Neues, noch nie Gehörtes. Der Prophet Amos verkündigt nicht einen selbstgefälligen Gott der Heiligtümer und Wallfahrten, sondern einen Gott, der sich nicht länger abfinden will mit dem Unrecht im Land. Gott sagt Nein zum Unrecht und deshalb auch Nein zu den rauschenden Kultfesten. Darum ist er ihren Feiertagen gram und verachtet ihre Versammlungen. Darum hat er an ihren Opfern keinen Gefallen.Darum ruft er: „Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder!“
Die soziale Situation im Land passte einfach nicht zu diesen Gottesdiensten. Amos spürte vermutlich: Da ging es gar nicht mehr um Gott und darum, ihm zu danken und zu loben dafür, dass er sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit, sie in dieses ihr Land geführt und sie bis heute bewahrt hat. In den Worten des Amos spiegelt sich die Enttäuschung Gottes, dass die Menschen so gar nicht bereit waren, dann auch im Alltag zu leben, was sie in den Gottesdiensten gelobt und versprochen hatten, nämlich: sich an die Gebote Gottes zu halten und Mitmenschlichkeit im guten Sinne zu leben.
Wenn Amos der Kritik an den Gottesdiensten beschwörend den Satz anschließt: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“, dann erinnert er an jene alte, immer noch gültige Rechtstradition.
2. Liebe Gemeinde, es wäre nicht schwer, die sozialen Anklagen des Amos in unsere Zeit zu übertragen. Vielleicht ist die soziale Not in vielen Ländern dieser Welt sogar noch größer als in Israel damals vor etwa 2700 Jahren. Was wir auf jeden Fall sagen können ist dies: Es ist komplizierter geworden, soziale Missstände zu beheben. Ich habe den Eindruck, dass wir leicht versucht sind, den Mangel an Recht und Gerechtigkeit immer allzu schnell nur bei anderen, den „oberen Zehntausend“ wahrzunehmen, bei den Politikern, den Regierungen, bei denen, die in der Wirtschaft und bei den Banken das Sagen haben. Das ist in gewisser Weise richtig und berechtigt. Aber diese einseitigen Schuldzuweisungen sind dann gefährlich, wenn wir entmutigt werden bei dem Bemühen, uns selbst dafür einzusetzen, dass es etwas gerechter zugeht. Wenigstens in dem Bereich, in dem wir leben. Die Worte „Recht“ und „Gerechtigkeit“ greifen dann vielleicht zu hoch, wenn wir an unsere eigenen Möglichkeiten denken. Was wir aber können, das ist dies, dass wir anderen Menschen, mit denen wir zu tun haben, „gerecht“ werden.
Ich möchte von zwei Beispielen erzählen, die mich beeindruckt haben.
Die Großmutter liegt in der Klinik. Nach einer Operation. Schwach. Pflegebedürftig. Ich erinnere mich an einen besonderen Pfleger. Wie er die alte Frau ansprach, obwohl sie gar nicht antworten konnte. Ob sie es gehört hat, weiß ich nicht. Er untersuchte und verband ihre Operationsnarbe. Ich war berührt davon, wie besonnen er an das Bett trat, wie behutsam er die Decke fortnahm, die Frau vorsichtig an der Hüfte berührte und sie zur Seite drehte. Ein junger Mann, in sich ruhend, die alte Frau, bedürftig. Welch ein Gegensatz! Er könnte seine Arbeit ja auch oberflächlich, geschäftsmäßig tun und so, als wäre er schon wieder auf dem Sprung zu anderen Patienten. Nein, er behandelte die Frau, als wäre sie seine Großmutter, aufmerksam, mit Bedacht und – wie ich fand – auch mit Liebe.
Solche Pfleger, liebe Gemeinde, nehmen mir die Angst davor, selbst einmal krank oder pflegebedürftig zu werden. Dieser Pfleger wurde der alten Frau gerecht. Er steht für mich für viele andere. Ich denke an Eltern, die über Jahre ihre kranken Kinder versorgen. Ich denke an die Ehepartner, die ihre pflegebedürftigen Partner im Alter pflegen, an die Töchter, an die Söhne, die ihrer kranken Mutter, dem kranken Vater, an die Enkel, die ihren Großeltern zur Seite stehen. Über Jahre. Bewundernswert. Da ist eine Liebe, die ganz selbstverständlich beim anderen aushält.
Ein anderes Beispiel. Eine Frau, Vera Bohle, war Mitarbeiterin in einem Fernsehteam. Das Fernsehteam hatte den Auftrag, in Somalia, in Mogadischu über den Bürgerkrieg zu berichten. Während ihrer Arbeit in einem Hochhaus schaut sie immer wieder hinunter auf ein Flüchtlingslager. Sie sieht die Leute an den Wasserhähnen Schlange stehen. Sie sieht auch, wie Tote hinaus getragen werden. Da sagt sie sich: „Was tue ich hier? Ich möchte etwas Sinnvolles tun.“ Sie gibt ihre Stelle auf und beschließt, eine Ausbildung als Minenräumerin zu machen, also zu lernen, kleine Streubomben, die im Erdreich versteckt sind, zu entschärfen. Sie macht die Ausbildung und ist daraufhin in vielen Kriegsgebieten tätig. Auf dem Balkan, im Irak, in Afghanistan. Warum übt sie diesen gefährlichen Beruf aus? Sie sagt: „Weil dieser Beruf so notwendig ist. Ich weiß, dass ich die Welt nicht retten kann, aber ich kann durch mein Tun einem Bauern sein Stück Land wieder zurückgeben und einem Kind das gefahrlose Spielen auf der Wiese ermöglichen.“
Liebe Gemeinde, auch diese Frau steht für mich beispielhaft für die vielen anderen, die in der Mehrzahl zwar nicht so einen gefährlichen Beruf ausüben, aber sich genauso verantwortlich fühlen, ihre Arbeit gut und verantwortungsvoll zu tun. So werden wir Menschen gerecht, wo immer wir tätig sind: als Verkäuferin, als Verwaltungsangestellter, als Pharmazeutin, als Elektroniker oder anderswo. So üben „kleine, normale Leute“ Gerechtigkeit, indem sie ihre Arbeit freundlich und zuverlässig tun. Sie alle, wir alle können die Welt nicht retten, aber wir können unseren Anteil dazu beitragen, dass Recht und Gerechtigkeit geschehen – und wir können Gott darum bitten, dass er uns bei unserem Bemühen, das Rechte zu tun, unterstützt und zur Seite steht.
3. Liebe Gemeinde, Amos ist davon überzeugt, dass Gott unsere Gebete, das Seufzen und das Rufen hört. Es ist auffallend und erstaunlich, dass schon in den ältesten Zeugnissen der Bibel davon geredet wird. Gott habe ein großes Interesse am Weltgeschehen und an unserem ganz persönlichen Erleben, worüber wir uns freuen und worunter wir leiden. Gott habe ein Herz für bedrängte und verängstigte Menschen.
Die Gottesdienste, die wir feiern, können zu einem Ort werden, in dem wir mit all dem, was wir in der Woche erlebt haben, Schönes und Schweres, vor ihn treten können. Wir erleben dann vielleicht, bildlich gesprochen, wie Gott zu uns kommt, in unsere Kirche, zu einem jeden von uns, und die Lasten, die uns beschweren, mitzutragen bereit ist.
Im Rahmen einer Fernsehreportage wurde aus einem Elendsviertel in Brasilien über einen Gottesdienst berichtet. In dem Elendsviertel gab es nicht einmal einen einfachen Kirchenraum. Da kam einkatholischer Priester in Jeans und Hemd, er „zog sich inmitten der Gemeinde ein ganz einfaches, weißes Gottesdienstgewand an. Dann machte er eine ausgewaschene Öltonne zum Altar, indem er ein weißes Tuch über diese Tonne ausbreitete, darauf legte er eine Bibel und er stellte Kelch und Patene dazu.
Inmitten allen Drecks und Elends, inmitten der sozialen Fragen und Probleme, inmitten der Drogendealer, Prostituierten, der Gewaltkriminellen“, so meditierte der Berichterstatter, „wurde für einen Augenblick die Welt angehalten, wurde in einfachen Liedern, Gebeten, in den Worten des Evangeliums und der Feier des Heiligen Abendmahls, der Eucharistie, Gottes Gegenwart, der Vorglanz seines ewigen Reiches deutlich.“
Der Bericht über diese Reportage endet mit den Worten: „Gottesdienst – ein Fest Gottes bei den Menschen, ein Fest der Hoffnung und der Würde für die Namenlosen. Gottesdienst – Raum in der Zeit. Freut euch, dass eure Namen aufgeschrieben sind im Himmel! (Lk 10,20b)“ (aus dem Bischofsbericht 2011, Raum in der Zeit, von Landesbischof Frank July).
Liebe Gemeinde, ich finde diesen Bericht sehr beeindruckend. Gottesdienste müssen nicht großartig sein. Kirchen übrigens auch nicht. Entscheidend ist doch, dass sich die Gewissheit einstellen kann, dass Gott nahe ist und wir zu ihm dürfen, unverstellt mit unseren persönlichen und mit unseren sozialen Anliegen und Sorgen.
4. Liebe Gemeinde, ich möchte noch einen Schritt mit Ihnen gehen, der mir wichtig zu sein scheint. „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Dieser beeindruckende Satz – ist er ein Auftrag an uns Menschen? Gewiss. Manchmal aber denke ich, der Auftrag, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen, überfordert uns.
Kann es sein, so frage ich mich, dass wir noch genauer hinhören müssen? In diesem Satz schwingt nämlich, so ist mein Eindruck, noch etwas anderes mit: eine Verheißung, eine Zusage. Es ist, als sähe es Gott als seine eigene Sache an, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Ohne unsere Verantwortung schmälern zu wollen – ich finde es unendlich tröstlich, darauf bauen zu können, dass Gott selbst für Recht und Gerechtigkeit einsteht. Nicht nur in den Gottesdiensten kann ein Vorglanz des ewigen Reiches deutlich werden, sondern immer auch dann, wenn Gerechtigkeit geschieht und wir anderen Menschen gerecht werden. So bedrohlich Manches zusammen kommen mag in unserer Gegenwart – es gibt einen, der, davon ist Amos überzeugt, die Zukunft in seinen Händen hat: Gott. Bei ihm sind wir alle und unsere Kinder und Kindeskinder gut aufgehoben. Amen.
5,21 Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. 22 Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. 23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Liebe Gemeinde,
was für harsche Worte gegen die Feiertage und die Gottesdienste damals! „Ich bin gram, ich verachte, ich habe keinen Gefallen, ich mag nicht ansehen“, gipfelnd in dem Ruf: „Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder.“ Und dann dieser beeindruckende Satz: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Was bedeutet das alles? Wer ist Amos und was meint er? In welche Situation spricht er hinein?
1. Amos kommt aus dem Städtchen Tekoa, vier Wegstunden südlich von Jerusalem gelegen. Er lebte in der Mitte des 8. Jahrhunderts vor Christi Geburt, also vor etwa 2750 Jahren. Er war ein Bauer, heute würden wir sagen: ein Landwirt, ein Vieh- und Maulbeerzüchter. Gott hat ihn zum Propheten berufen. Er ist in den Norden nach Israel gezogen, um dort zu verkündigen, was Gott ihm aufgetragen hat.
Er war ein aufmerksamer Beobachter der politischen Ereignisse seiner Zeit. Im Namen Gottes empörte er sich über die sozialen Verhältnisse in Israel. Auf der einen Seite stellte er fest, dass es dem Land gut ging. Die Wirtschaft blühte, Häuser wurden gebaut, es gab einen erfolgreichen Weinbau, Viehzucht war verbreitet. Auch der religiöse Kult profitierte von der Wohlhabenheit. Rauschende Feste wurden gefeiert. Die Zahl der Opfergaben wuchs. Auf der anderen Seite aber sah Amos allzu deutlich, wie die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer wurden. Amos sagt es unverblümt: Da gibt es Mächtige, die unschuldige Menschen für Geld in die Sklaverei und Arme „für ein Paar Schuhe“( (wörtlich! 2,6f) verkaufen. „Sie treten den Kopf der Armen in den Staub und drängen die Elenden vom Wege“ (ebd.). „Ihr unterdrückt die Armen und nehmt von ihnen hohe Abgaben an Korn. Ihr bedrängt die Gerechten, nehmt Bestechungsgelder und unterdrückt diejenigen, die kein Geld haben“ (5,11f).
Gott tritt im Zeugnis des Amos als ein Fürsprecher der Armen und Schwachen auf. Denen, die da so selbstsicher leben, wird das Gericht Gottes angedroht. Er vermisst bei ihnen ein solidarisches Zusammenleben und ein Mitleiden mit den Frauen und Männern, denen es schlecht geht, die Hunger haben, die vielleicht kein Dach über dem Kopf und keine Arbeit haben, mit der sie ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie bestreiten könnten.
Damit, liebe Gemeinde, geschieht in Israel etwas Neues, noch nie Gehörtes. Der Prophet Amos verkündigt nicht einen selbstgefälligen Gott der Heiligtümer und Wallfahrten, sondern einen Gott, der sich nicht länger abfinden will mit dem Unrecht im Land. Gott sagt Nein zum Unrecht und deshalb auch Nein zu den rauschenden Kultfesten. Darum ist er ihren Feiertagen gram und verachtet ihre Versammlungen. Darum hat er an ihren Opfern keinen Gefallen.Darum ruft er: „Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder!“
Die soziale Situation im Land passte einfach nicht zu diesen Gottesdiensten. Amos spürte vermutlich: Da ging es gar nicht mehr um Gott und darum, ihm zu danken und zu loben dafür, dass er sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit, sie in dieses ihr Land geführt und sie bis heute bewahrt hat. In den Worten des Amos spiegelt sich die Enttäuschung Gottes, dass die Menschen so gar nicht bereit waren, dann auch im Alltag zu leben, was sie in den Gottesdiensten gelobt und versprochen hatten, nämlich: sich an die Gebote Gottes zu halten und Mitmenschlichkeit im guten Sinne zu leben.
Wenn Amos der Kritik an den Gottesdiensten beschwörend den Satz anschließt: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“, dann erinnert er an jene alte, immer noch gültige Rechtstradition.
2. Liebe Gemeinde, es wäre nicht schwer, die sozialen Anklagen des Amos in unsere Zeit zu übertragen. Vielleicht ist die soziale Not in vielen Ländern dieser Welt sogar noch größer als in Israel damals vor etwa 2700 Jahren. Was wir auf jeden Fall sagen können ist dies: Es ist komplizierter geworden, soziale Missstände zu beheben. Ich habe den Eindruck, dass wir leicht versucht sind, den Mangel an Recht und Gerechtigkeit immer allzu schnell nur bei anderen, den „oberen Zehntausend“ wahrzunehmen, bei den Politikern, den Regierungen, bei denen, die in der Wirtschaft und bei den Banken das Sagen haben. Das ist in gewisser Weise richtig und berechtigt. Aber diese einseitigen Schuldzuweisungen sind dann gefährlich, wenn wir entmutigt werden bei dem Bemühen, uns selbst dafür einzusetzen, dass es etwas gerechter zugeht. Wenigstens in dem Bereich, in dem wir leben. Die Worte „Recht“ und „Gerechtigkeit“ greifen dann vielleicht zu hoch, wenn wir an unsere eigenen Möglichkeiten denken. Was wir aber können, das ist dies, dass wir anderen Menschen, mit denen wir zu tun haben, „gerecht“ werden.
Ich möchte von zwei Beispielen erzählen, die mich beeindruckt haben.
Die Großmutter liegt in der Klinik. Nach einer Operation. Schwach. Pflegebedürftig. Ich erinnere mich an einen besonderen Pfleger. Wie er die alte Frau ansprach, obwohl sie gar nicht antworten konnte. Ob sie es gehört hat, weiß ich nicht. Er untersuchte und verband ihre Operationsnarbe. Ich war berührt davon, wie besonnen er an das Bett trat, wie behutsam er die Decke fortnahm, die Frau vorsichtig an der Hüfte berührte und sie zur Seite drehte. Ein junger Mann, in sich ruhend, die alte Frau, bedürftig. Welch ein Gegensatz! Er könnte seine Arbeit ja auch oberflächlich, geschäftsmäßig tun und so, als wäre er schon wieder auf dem Sprung zu anderen Patienten. Nein, er behandelte die Frau, als wäre sie seine Großmutter, aufmerksam, mit Bedacht und – wie ich fand – auch mit Liebe.
Solche Pfleger, liebe Gemeinde, nehmen mir die Angst davor, selbst einmal krank oder pflegebedürftig zu werden. Dieser Pfleger wurde der alten Frau gerecht. Er steht für mich für viele andere. Ich denke an Eltern, die über Jahre ihre kranken Kinder versorgen. Ich denke an die Ehepartner, die ihre pflegebedürftigen Partner im Alter pflegen, an die Töchter, an die Söhne, die ihrer kranken Mutter, dem kranken Vater, an die Enkel, die ihren Großeltern zur Seite stehen. Über Jahre. Bewundernswert. Da ist eine Liebe, die ganz selbstverständlich beim anderen aushält.
Ein anderes Beispiel. Eine Frau, Vera Bohle, war Mitarbeiterin in einem Fernsehteam. Das Fernsehteam hatte den Auftrag, in Somalia, in Mogadischu über den Bürgerkrieg zu berichten. Während ihrer Arbeit in einem Hochhaus schaut sie immer wieder hinunter auf ein Flüchtlingslager. Sie sieht die Leute an den Wasserhähnen Schlange stehen. Sie sieht auch, wie Tote hinaus getragen werden. Da sagt sie sich: „Was tue ich hier? Ich möchte etwas Sinnvolles tun.“ Sie gibt ihre Stelle auf und beschließt, eine Ausbildung als Minenräumerin zu machen, also zu lernen, kleine Streubomben, die im Erdreich versteckt sind, zu entschärfen. Sie macht die Ausbildung und ist daraufhin in vielen Kriegsgebieten tätig. Auf dem Balkan, im Irak, in Afghanistan. Warum übt sie diesen gefährlichen Beruf aus? Sie sagt: „Weil dieser Beruf so notwendig ist. Ich weiß, dass ich die Welt nicht retten kann, aber ich kann durch mein Tun einem Bauern sein Stück Land wieder zurückgeben und einem Kind das gefahrlose Spielen auf der Wiese ermöglichen.“
Liebe Gemeinde, auch diese Frau steht für mich beispielhaft für die vielen anderen, die in der Mehrzahl zwar nicht so einen gefährlichen Beruf ausüben, aber sich genauso verantwortlich fühlen, ihre Arbeit gut und verantwortungsvoll zu tun. So werden wir Menschen gerecht, wo immer wir tätig sind: als Verkäuferin, als Verwaltungsangestellter, als Pharmazeutin, als Elektroniker oder anderswo. So üben „kleine, normale Leute“ Gerechtigkeit, indem sie ihre Arbeit freundlich und zuverlässig tun. Sie alle, wir alle können die Welt nicht retten, aber wir können unseren Anteil dazu beitragen, dass Recht und Gerechtigkeit geschehen – und wir können Gott darum bitten, dass er uns bei unserem Bemühen, das Rechte zu tun, unterstützt und zur Seite steht.
3. Liebe Gemeinde, Amos ist davon überzeugt, dass Gott unsere Gebete, das Seufzen und das Rufen hört. Es ist auffallend und erstaunlich, dass schon in den ältesten Zeugnissen der Bibel davon geredet wird. Gott habe ein großes Interesse am Weltgeschehen und an unserem ganz persönlichen Erleben, worüber wir uns freuen und worunter wir leiden. Gott habe ein Herz für bedrängte und verängstigte Menschen.
Die Gottesdienste, die wir feiern, können zu einem Ort werden, in dem wir mit all dem, was wir in der Woche erlebt haben, Schönes und Schweres, vor ihn treten können. Wir erleben dann vielleicht, bildlich gesprochen, wie Gott zu uns kommt, in unsere Kirche, zu einem jeden von uns, und die Lasten, die uns beschweren, mitzutragen bereit ist.
Im Rahmen einer Fernsehreportage wurde aus einem Elendsviertel in Brasilien über einen Gottesdienst berichtet. In dem Elendsviertel gab es nicht einmal einen einfachen Kirchenraum. Da kam einkatholischer Priester in Jeans und Hemd, er „zog sich inmitten der Gemeinde ein ganz einfaches, weißes Gottesdienstgewand an. Dann machte er eine ausgewaschene Öltonne zum Altar, indem er ein weißes Tuch über diese Tonne ausbreitete, darauf legte er eine Bibel und er stellte Kelch und Patene dazu.
Inmitten allen Drecks und Elends, inmitten der sozialen Fragen und Probleme, inmitten der Drogendealer, Prostituierten, der Gewaltkriminellen“, so meditierte der Berichterstatter, „wurde für einen Augenblick die Welt angehalten, wurde in einfachen Liedern, Gebeten, in den Worten des Evangeliums und der Feier des Heiligen Abendmahls, der Eucharistie, Gottes Gegenwart, der Vorglanz seines ewigen Reiches deutlich.“
Der Bericht über diese Reportage endet mit den Worten: „Gottesdienst – ein Fest Gottes bei den Menschen, ein Fest der Hoffnung und der Würde für die Namenlosen. Gottesdienst – Raum in der Zeit. Freut euch, dass eure Namen aufgeschrieben sind im Himmel! (Lk 10,20b)“ (aus dem Bischofsbericht 2011, Raum in der Zeit, von Landesbischof Frank July).
Liebe Gemeinde, ich finde diesen Bericht sehr beeindruckend. Gottesdienste müssen nicht großartig sein. Kirchen übrigens auch nicht. Entscheidend ist doch, dass sich die Gewissheit einstellen kann, dass Gott nahe ist und wir zu ihm dürfen, unverstellt mit unseren persönlichen und mit unseren sozialen Anliegen und Sorgen.
4. Liebe Gemeinde, ich möchte noch einen Schritt mit Ihnen gehen, der mir wichtig zu sein scheint. „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Dieser beeindruckende Satz – ist er ein Auftrag an uns Menschen? Gewiss. Manchmal aber denke ich, der Auftrag, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen, überfordert uns.
Kann es sein, so frage ich mich, dass wir noch genauer hinhören müssen? In diesem Satz schwingt nämlich, so ist mein Eindruck, noch etwas anderes mit: eine Verheißung, eine Zusage. Es ist, als sähe es Gott als seine eigene Sache an, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Ohne unsere Verantwortung schmälern zu wollen – ich finde es unendlich tröstlich, darauf bauen zu können, dass Gott selbst für Recht und Gerechtigkeit einsteht. Nicht nur in den Gottesdiensten kann ein Vorglanz des ewigen Reiches deutlich werden, sondern immer auch dann, wenn Gerechtigkeit geschieht und wir anderen Menschen gerecht werden. So bedrohlich Manches zusammen kommen mag in unserer Gegenwart – es gibt einen, der, davon ist Amos überzeugt, die Zukunft in seinen Händen hat: Gott. Bei ihm sind wir alle und unsere Kinder und Kindeskinder gut aufgehoben. Amen.
Perikope