PrayForMH 17
1. „I love Amsterdam“
Gleich neben dem Lonely Planet Reiseführer, wird eine Armbanduhr gezeigt, sie liegt im Staub, irgendwo im trockenen Sommergras. Ein niederländischer Reporter berichtet aus der Ukraine: Er fährt durch den Sommer, Vögel singen, die Ernte bewegt sich leicht im Sommerwind und plötzlich sieht er die Leichen am Wegesrand, Flugzeugteile, einige Koffer, erstaunlich unversehrt auf einem Feld verstreut, als würde gleich eine Reisegruppe vorbeikommen und die Koffer holen. Reste von Menschen, von Kindern, Frauen, Männern sind zu sehen. Sie saßen alle in dem Flieger, viele von ihnen auf dem Weg in den Urlaub, einige Forscher auf der Hinreise zu einem Fachkongress. Sie wollten beraten, um AIDS weiter zu bekämpfen. Nur wenige Sekunden trennte deren Leben von dem plötzlichen Tod. Daran können sich viele Angehörige trösten: Es war kein langes Sterben, es war ein schneller Tod. Doch solcher Trost trägt nicht weit.
Die Boeing 777 der Malaysia Airlines war auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur, als sie am 17. Juli über dem von prorussischen Einheiten kontrollierten Teil der Ukraine abstürzte. Auf Twitter und in den Nachrichtensendungen habe ich viele Bilder gesehen: Ein „I love Amsterdam“ T-Shirt im Staub neben einem leicht geöffneten Koffer. Blütenweiß ist das Shirt, ein rotes Herz strahlt auf der Brust, gleich neben dem „I love“. Tot sind sie vom Himmel gefallen, das Herz schlägt nicht mehr.
Es wirkt so, als sollte unser heutiger Predigttext von dem, was wir in den Medien verfolgen können, in sein Gegenteil verkehrt werden. Mit einen Schlag vom Himmel geholt: Menschenleben, aufgeladen mit unverwechselbaren Hoffnungen, die diesem wunderbaren Geschöpf innewohnen. Die Familie und die Freunde, die sie erwarten, ihre wunderbaren Freundschaften: Ein jähes Ende. Lebendige Menschen abzuschießen, ein abscheuliches Attentat, auch ein Anschlag auf Gottes Wort. Grauenhafte Bilder, die alles untermalen, werden getwittert und gepostet. Sie bringen mir nah, was eigentlich weit weg ist.
2. „RIP“ – Ruhe in Frieden
MH17 – die Nummer des Fluges – wird zum Synonym für das Entsetzen. Es ist immer auch eine gewisse Ironie, die solche Katastrophen begleitet. In der Erschütterung über die Katastrophe wird deutlich, dass der Wert eines jeden einzelnen Menschen unvergleichbar hoch ist. Man spürt deutlich, was man eigentlich schon immer weiß. Plötzlich lernt man Schicksale kennen und spürt, wie nah einem diese Menschen sind. Da ist ein junger Holländer. Der fotografiert das Flugzeug der Malaysia Airlines kurz vor dem Start: „Für den Fall, dass sie verschwindet, so sieht sie aus“ postet er auf Facebook. Natürlich, auf dem Hintergrund des vor Monaten verlorenen Flugzeugs der Airline, das noch immer nicht gefunden worden ist. Er macht natürlich einen schlechten Scherz, aber der Mann hat offenbar Humor. Wir lernen ihn besser kennen: Er ist der Besitzer eines kleinen Blumenladens in einer Seitenstraße von Amsterdam, er war mit seiner Freundin unterwegs. Und Joep Lange, ein Forscher, der sein Leben dem Kampf gegen AIDS gewidmet hatte, ist auch unter den Toten. Er trug, so hofften viele Betroffene, einen Baustein für den Sieg über diese Krankheit mit sich. Ein neues Konzept sollte er auf dem Kongress in Melbourne zur Diskussion stellen.
Es sind eben nicht nur 300 tote Menschen, die unbekannt bleiben werden, um die die engsten Angehörigen, die Kunden eines Blumenladens, die AIDS Kranken in aller Welt trauern. Der Tod schlägt nicht anonym zu. Auf den Socialmediaplattformen wird deutlich: Es sind Menschen wie du und ich, um die geht es hier. Das sind nicht Leichen, die in grauen Säcken beiseite geschafft werden, es war Leben. Und Leben gehört nicht uns selber, ist von Gott gegeben. Über die neuen Medien bekommen die Toten heute ein Gesicht und ihr Leben und ihre Geschichte wird öffentlich. Die Anteilnahme, die sich bis vor wenigen Jahren, nur auf die nahen Angehörigen der Opfer solcher Katastrophen beschränkte, wird um öffentliche Mittrauer ergänzt. Heute wissen alle viel mehr über einzelne Leben, manchmal erfahren wir auch viel zu viel über sie. „RIP“ – „Ruhe in Frieden“ ist das Zeichen der Anteilnahme, mit dem sich viele auch von dem Amsterdamer Blumenhändler verabschieden. RIP – das ist der letzte Wunsch, den die Lebenden den Toten mit auf den Weg geben. Auf vielen Facebook Konten der letzte Eintrag, danach wird das Konto gelöscht.
Wenn vieles, was wir sehen und selber erleben in eine ganz andere Richtung weist, als der Glaube, dann müssen wir innehalten. Denn die unglaubliche Irritation, die solche Katastrophen verursacht, kann nur dann erträglich werden, wenn wir die Richtung erblicken, in die die Bibel uns den Blick weist. Wir geben unsere Lebendigkeit, unsere Hoffnung unseren Glauben ja nicht einfach auf. Glaube bleibt lebendig und lässt sich nicht vom Himmel holen. Wir haben gesehen und geschmeckt, dass der Herr freundlich ist und unsere Ohren, Lippen und unsere Herzen saugen jedes Zeichen der Gegenwart des unzerstörbaren Lebens begierig in uns auf. Weil wir wissen, dass Gott das Tote zum Leben erwecken kann, lässt die Sehnsucht, die sich in uns festgemacht hat, nicht locker. Weil wir von dem Wärmestrom, der von Jesu Liebe ausgeht, selber durchflutet werden, sind wir in die Hoffnung verliebt. Darum lassen sich viele Nichtchristinnen auch vom christlichen Glauben irritieren, weil Christinnen und Christen auch in den ganz dunklen Zeiten lebendig bleiben und an der Hoffnung festhalten.
3. #PrayForMH17
In die Anteilnahme, sogar in die voyeuristische Neugier der Medien, mischt sich etwas anderes, überraschend Neues, ein. Es wird heute öffentlich gebetet für die Opfer, für deren Familien, für die, die Hilfe leisten und für die, die für die Medien Berichte verfassen. Auch bei Twitter treffen, mit dem Hashtag #PrayForMH17 versehen, Tweeds im Sekundentakt ein. Frauen, Männer und Kinder beten für die Opfer, für Aufklärung, bitten um Frieden. Der Papst hat sein Gebet zum Nachsprechen bereitgestellt. Ein Journalist, der von der Unglücksstelle berichtet, kniete auf dem Acker nieder und betete für die Opfer. Andere Christinnen und Christen machen mit. Auch Menschen aus vielen anderen Religionen beten für die MH17 Opfer und die Angehörigen. Manche fordern nur auf: „Betet! Betet! Betet!“ Andere nennen die Namen der Menschen, um die sie trauern. Man sieht Bilder und Fotos von denen, die ihre Gebete sprechen.
Dieses Beten überbrückt Gräben, sogar Abgründe lassen sich so schließen. Gebete sind so etwas wie die Muttersprache der Religion, eine Weltsprache, die alle verstehen. Es reichen wenige Worte und die Religionen sind wie siamesische Zwillinge verbunden. Das Beten ist die Lebensader, an der es Kraft zu schöpfen gilt. Alle sind sich einig: Keins der Gebet sucht nach Rache, es ist wie ein friedlicher Strom, der sich durch die Tage der letzten Woche zieht: Keine Aufforderungen zur Gewalt, kein Apell für Frieden. Aber eine Art Verzweiflung über die Menschheit, die lese ich mit: „Ich fragte: Wer tut das? … Meine Mutter antwortete: Menschen. Menschen töten Menschen.“ Und die Bitte zweier Muslima: „Gib mir Dank. Mache mich nicht undankbar.“
Das ist es: In diesen Gebeten deutet sich an, dass das Nüchterne „Menschen töten Menschen“ niemals die volle Wahrheit über das Leben wiedergibt. Es wird erkennbar, was die Bibel mit dem Wort Gnade meint. Wer an etwas anderes glaubt, als an sich selber, wer auf mehr vertraut, als auf die eigenen Kräfte, wird immer auch um ein „Mehr“ wissen, das über einen selbst hinausweist. Ein Menschenleben verdient nur dann wirklich Leben genannt zu werden, wenn es anderen Menschen ihr Leben genauso gönnt, wie es für sich selber in Anspruch nimmt. Ich lese in diesem widersprüchlichen Bild von den lebendigen Steinen, die zu einem geistlichen Haus erbaut sind, dass der Bauplan Gottes etwas anders ist, als der, den ich in diesen Tagen vor Augen habe. Wenn das Bild stimmt und der leblosen Materie, sogar einem Stein, Lebendigkeit zugetraut wird, dann steckt in diesen Situationen mehr Zukunft, als ich selber weiß. Ein Widerspruch steckt im christlichen Glauben: Einerseits sehen wir die Realität, andererseits bleibt dieser Reflex, den wir schon in die Wiege gelegt bekommen haben, dass uns mit dem Glauben keine Steine in den Weg gelegt sind, sondern der christliche Glaube zum Weitergehen auffordert. Denn, wenn wir die leblosen Steine sind, die zum Leben erweckt werden, dann sind wir auch die, die aufstehen und weitergehen werden.