Predigt am Altjahrsabend 2018 – Text: Johannes 8,31 f von Rudolf Rengstorf
Liebe Leserin, lieber Leser!
2018. Ungewohnt war die Zahl zunächst bei der Datierung von Briefen und Schriftstücken. 2018. So stand es über meinem neuen Taschenkalender. Die schon feststehenden Termine hatte ich schon eingetragen, auch die Geburtstage von Verwandten und Freunden. Alles war noch Zukunft. So manches Ereignis war darunter, auf das ich mich freute. Manches stand mir bevor. Wieder anderes machte mich neugierig: Wie das wohl wird? Inzwischen ist das alles Vergangenheit. Mit dem Ablauf des heutigen Tages ist der Kalender, der mich ein ganzes Jahr begleitet hat und oft genug verzweifelt gesucht wurde, Makulatur. Er verschwindet tief in einer Schublade mit all seinen Vorgängern. Ab morgen muss ich mich an eine neue Jahreszahl gewöhnen,
Doch bevor ich ihn wegpacke, blättere ich ihn noch einmal durch. So wie ich in Jahresrückblicken mir die weltbewegenden Ereignisse des vergehenden Jahres noch in Erinnerung rufen ließ, so möchte ich noch einmal auf das schauen, was mir dieses Jahr persönlich gebracht hat.
Vieles war dabei, wofür ich einfach nur dankbar sein kann: Höhepunkte im familiären Leben, anregende Reisen, Arbeiten, die gelungen sind, Krankheiten, die ich überstanden habe, viele Begegnungen mit alten Freunden und mit Menschen, die noch Freunde werden können, beglückende Konzerte und Gottesdienste.
Und dann die Tage, die schwer waren, weil die in sie gesetzten Erwartungen bitter enttäuscht wurden. Das lag oft an anderen, aber nicht nur. Warum habe ich mich bei dieser oder jener Gelegenheit zum Streit reizen lassen? Warum bin ich im Umgang mit Menschen, an denen mir liegt, viel zu unaufmerksam gewesen, sodass ich sie – ohne es zu wollen – tief verletzt habe? Und manche Tage waren dadurch verdunkelt, dass ich Menschen in ihrer Not nicht wirksam helfen konnte, wobei die psychischen Krankheiten mich besonders hilflos machen. Ja, und dann die Kreuze, die eine ganze Reihe von Tagen dieses Jahres markieren. Die Geburtstage standen immer schon fest und waren im vorhinein lange eingetragen. Die Sterbetage aber kamen oft ganz plötzlich, und wir brauchten lange, das Geschehene zu begreifen, und noch länger, es zu akzeptieren. Und auch da, wo ein Tod sich lange angekündigt hatte, ist der Abschied enorm schwer gefallen. Ich erlebe es viel zu selten, dass ein Mensch mit seinem Leben wirklich abschließen, alles ordnen und ganz in Frieden gehen kann. Meist bleibt da so viel Unausgesprochenes, Ungeklärtes, noch Ausstehendes und Unversöhntes. Und das tut weh und hängt nach. Am schlimmsten aber war, dass ich oft nicht die Zeit gefunden habe, die Besuche zu machen, die nötig gewesen wären und wohl auch erwartet wurden, nicht nur bei den Gestorbenen. Überhaupt – das Gefühl, keine Zeit zu haben, von der Zeit getrieben zu werden und mit dem, was ich mir vorgenommen habe, nicht nachzukommen – das hat dieses Jahr ebenso geprägt wie seine Vorgänger
Was wird mit diesem Jahr, das jetzt zu Ende geht? Was wird aus dem, was es mit mir gemacht hat? Was wird aus abgebrochenen Beziehungen, aus dem, was ich schuldig geblieben bin? Und was wird aus meinem Leben, wenn dieses Treiben und Getriebenwerden von der Zeit – wie ja anzunehmen – weitergeht und sich bei allen guten Vorsätzen, von denen es in all den zurückliegenden Jahren ja genug gegeben hat, nichts ändern wird?
Dazu die beiden Sätze aus dem für heute vorgegebenen Predigttext, die mir weiterhelfen:
Jesus sagt: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger. und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. (Johannes 8, 31 f)
Wie sehr Worte eine Bleibe, ein Zuhause zu bieten vermögen, ist mir vor langer Zeit zu Beginn eines Studienjahres im Ausland bewusst geworden. Wenn ich täglich von neuem, versuchte, mich unter meinen Kommilitonen in der noch ganz ungewohnten Sprache verständlich zu machen, mühsam nach den richtigen Worten und der korrekten Aussprache suchte und merkte, dass die Unterhaltung längst weitergegangen war und ich draußen vorblieb – wie sehr habe ich mich danach gesehnt, wie zu Hause reden zu können, wie mir der Schnabel gewachsen war und mit dazuzugehören! Und was für eine Freude, wenn ich Landsleute trag. Mit denen ich Deutsch sprechen konnte! Die zu Hause, die von Mutter und Vater übernommene Sprache verschafft in der Tat unter denen, die diese Sprache auch sprechen so etwas wie ein Zuhause, mögen sie dabei auch noch so weit von ihrer Heimat entfernt sein.
Auch bei Jesu Worten geht es um ein Zuhause, um das Zuhause, aus dem ich komme, in das ich gehöre und in dem ich willkommen bin mein Leben lang und darüber hinaus. Seine Worte erinnern mich daran, dass wir mit Jesus Gott zum Vater haben, der uns ins Leben gerufen hat, uns zutraut, in seinem Namen und nach seinem Willen zu leben und auf sein Reich zuzugehen, in dem alle Welt zum Frieden und zun Heil kommt. In jedem Vaterunser eröffnet und verbreitet sich dieses Zuhause, mag das Leben, in dem ich mich gerade vorfinde, auch noch so unwirtlich und bedrohlich sein
Das Schönste an dem Zuhause, das Jesu Worte mir, uns eröffnet, sind die offenen Türen und eine zu Herzen gehende Atmosphäre, die kein Wenn und Aber kennt. Wo es nicht heißt: Hier bekommt jeder, was er verdient. Und wer sich draußen nicht bewährt, wer sein Leben nicht in den Griff kriegt, es nicht meistert, braucht gar nicht wiederzukommen; für Versager machen wir uns hier nicht krumm. Nein, bevor Jesus in der Bergpredigt auf die Hausregeln Gottes zu sprechen kommt, heißt er alle willkommen, holt er alle mit den acht Seligpreisungen heim,. Alle, die in dieser Welt nicht zurechtkommen, weil sie arm sind an Leib und Seele, weil sie Leid tragen, mit ihrer Sanftmut als Weicheier verlacht werden, weil es sie nach Gerechtigkeit hungert und dürstet, und sie mit ihrer Barmherzigkeit auf taube Ohren und harte Herzen stoßen, weil sie mit ihrem reinen Herzen als Gutmenschen verhöhnt werden, ,weil sie in der Welt des Auf- und Wettrüstens zum Frieden fertig sind und mit ihrem Gerechtigkeitssinn verfolgt werden: Sie alle sind berufen zu Hausgenossen Gottes, Brüder und Schwestern Jesu, der dann in der Bergpredigt eine Hausordnung bekannt macht, die darauf angelegt ist, dass angeschlagene Menschen wieder heil werden.
Dieses Zuhause bei Gott nimmt mich auf mit dem Gepäck, das ich mit diesem vergehenden Jahr mit mir herumschleppe. Hier ist es gut aufgehoben, das Stückwerk, das ich zustandegebracht habe. Hier kommen sie zu Ehren – die Menschen, denen ich nicht gerecht geworden bin und die nicht zu Ende gekomen sind mit ihrem Leben.
Ja, bei Gott zu Hause zu sein – da kommt mein Leben zu dem Recht, das von vornherein in ihm angelegt war, da kommt sie ans Licht – die Wahrheit meines Lebens. Die besteht doch nicht in dem, was an genetischen Dispositionen da war, was meine Eltern und andere wichtige Bezugspersonen mir beizubringen versucht haben, auch nicht in dem, was ich zustande gebracht und versemmelt habe. All das hat mit mir zu tun, gewiss – aber darin gehe ich doch nicht auf. Die Wahrheit meines Lebens geht über das hinaus, was jetzt greifbar und konstatierbar ist, besteht darin, dass Gott mich hier haben will und er mir zutraut, dass ich mich von neuem von seinem Willen leiten lasse. Dazu gebe er uns allen für das neue Jahr Mut und Freiheit! Amen.