Liebe Gemeinde!
Wir Menschen sind notorisch vergesslich und oft ist das gut, weil es uns hilft zu leben. Hätten wir alles Schlimme, das wir erlebt, und alles Böse, das wir getan haben, ständig vor Augen, könnten wir wohl kaum unseren Alltag bewältigen. Manchmal allerdings geschehen Dinge, die den Panzer unserer Vergesslichkeit durchbrechen und bis in unser Alltagsbewusstsein vordringen.
Die derzeitige Flüchtlingskrise, die unsere Stadt und unser Land in Atem halten, gehört zu diesen Ereignissen. Wenn wir die Zeitung aufschlagen oder den Fernseher einschalten, lesen wir Nachrichten oder sehen Bilder, die wohl niemanden kalt lassen. Manche Bilder sind so unerträglich, dass darüber diskutiert wird, ob sie überhaupt veröffentlicht werden sollten. (Das Bild des toten Kindes Aylan Kurdi am Strand von Bodrum in der Türkei war ein solches Bild.)
Es sind Bilder, die in vielen von uns Erinnerungen an eigene Fluchterfahrungen wachrufen. Knapp ein Sechstel der Mitglieder unserer Kirchengemeinde sind zwischen 70 und 80 Jahre alt. Viele von ihnen stammen aus dem ehemaligen Ost- oder Westpreußen, aus Pommern oder Schlesien und erinnern sich noch gut daran, wie sie von dort gen Westen geflohen sind. Als Kinder kamen sie mit ein paar Habseligkeiten nach einer gefährlichen Reise in irgendeinem Lager an. Wer gut dran war, hatte noch einen Elternteil dabei, meist die Mutter, der Vater war noch im Krieg oder schon in Gefangenschaft, nicht wenige aber kamen allein.
Menschen wie Frau S., die heute sagen: „Ich weiß genau, wie sich das anfühlt. Darum kann ich nicht so tun, als ginge mich das Schicksal der Flüchtlinge heute nichts an. Ich möchte helfen.“[1]
Auf genau dieses Einfühlungsvermögen zielt auch das Gebot aus dem biblischen Buch Exodus im Alten Testament:
„Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“ (Ex 22,20)
So beginnt eine Reihe von Geboten, die Rechtsschutz für die Schwachen in der Gesellschaft gewährleisten sollen. Es ist ein Gebot, das sich ursprünglich an die im Land sesshaft gewordenen Israeliten wandte; an diejenigen, die sich noch erinnerten oder erinnert werden konnten, wie es gewesen war, fremd in Ägypten zu sein.
Die Postkarten, die sie am Eingang bekommen haben, zitieren dieses Gebot und sie zeigen Motive einer Plakataktion der Evangelischen Kirche im Rheinland.[2]
Die drei Bilder verbinden sich mit drei Orten und drei Jahreszahlen:
1) Walternienburg in Sachsen-Anhalt. Im Jahr 1945 zogen Flüchtlingstrecks aus dem Osten hier hindurch. Das Bild zeigt Menschen, die ihre Habseligkeiten auf Planwagen transportieren und zu Fuß unterwegs sind.
2) Wipperfürth im Bergischen Land. In den Jahren 1946 bis 1952 standen am Rangierbahnhof fünf hölzerne Baracken, die als Durchgangslager für Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten dienten. Im ersten Jahr kamen täglich zwischen 1000 und 1800 Flüchtlinge hier an. Sie sollten maximal 24 Stunden bleiben. Daraus wurden oft Monate, weil die Behörden dem immensen Ansturm nicht gewachsen waren. Das Bild zeigt Kinder, die auf einem Baumstamm balancieren und sich so gut es eben geht die Zeit vertreiben.
3) Prag. Im Jahr 1989 flüchteten ausreisewillige DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft in der tschechischen Hauptstadt. Bis zu 4000 Menschen hielten sich zeitweise im Hof des Gebäudes auf und harrten bei Regen und in knöcheltiefem Schlamm dort aus. Das Bild zeigt einen Mann, der ein Kind über den Zaun der Botschaft hebt.
Die Bilder zeigen vor allem:
Gottes Gebot hat auch uns im Blick. „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge … gewesen.“
Das gilt auch für uns Deutsche!
Wir sollen uns angesichts der Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, an die eigenen Erfahrungen des Fremdseins inmitten von sesshaften Menschen erinnern, die ihre angestammten Plätze und Rechte verteidigten.
Und wir sollen darum solidarisch sein mit den Flüchtlingen heute!
Es sind die Zeitzeugen, die sich an die Kriegs- und Nachkriegszeit noch aus eigenem Erleben erinnern, die von den aktuellen und den historischen Bildern von Flüchtlingen leichter und vielleicht auch intensiver als wir Jüngere angesprochen werden.
Doch Gottes Gebot gilt nicht alleine ihnen!
Dieses Wort Gottes wurde ja deshalb in die biblischen Schriften aufgenommen, damit es jede Generation neu erreicht, damit jede Generation neu lernt:
Auch wir sind Fremdlinge in Ägyptenland – oder wo auch immer – gewesen.
Es gehört zu den Grunderfahrungen unseres Glaubens, dass wir immer wieder in Situationen kommen, in denen wir uns fremd fühlen. Gott erspart uns solche Situationen nicht. Im Gegenteil: Gott mutet uns solche Erfahrungen von Fremdheit zu, damit wir lernen, wie es ist, als Menschen aufeinander angewiesen zu sein, damit wir Solidarität lernen.
Heute sind wir die Sesshaften und die anderen die Fremden.
Schon morgen kann es anders sein!
Schon morgen können wir diejenigen sein, die wieder auf die Hilfe anderer angewiesen sind.
Wenn wir in Frieden und Sicherheit leben, dann ist das ein Grund zu großer Dankbarkeit – und ein Anlass, die Früchte dieser langen Friedensperiode zu teilen!
In einer Erklärung der Leitenden Geistlichen der Evangelischen Kirchen in Deutschland heißt es:
„Uns in Deutschland ist aufgrund unserer Geschichte in besonderer Weise bewusst, welches Geschenkt es ist, Hilfe in der Not und offene Türen zu finden. Ohne die Hilfe, die uns selber zu Teil geworden ist, wären wir heute nicht in der Lage, mit unseren Kräften anderen zu helfen.“[3]
Und da wir in der Lage sind, es zu tun, sollen wir es auch tun!
Wie das geht? Ich sehe drei Möglichkeiten:
1) Wir heißen Flüchtlinge willkommen. Es kommt auf unsere Haltung an. Wenn wir Flüchtlinge in unserer Stadt und in unserer Gemeinde willkommen heißen, dann werden andere sich an uns ein Beispiel nehmen. Dazu gehört auch, jeder Form von Rassismus und Fremdenhass entschieden entgegenzutreten.
Auch unter Arbeitskollegen oder im Verein! Die Brandstifter, auch die geistigen Brandstifter, dürfen nicht länger das Gefühl haben, im Namen der schweigenden Mehrheit zu handeln. Das tun sie nämlich nicht!
2) Wir tun vor Ort, was wir tun können. Das Presbyterium stellt der Diakonie Düsseldorf das leerstehende Pfarrhaus nebenan als Wohnraum für Flüchtlinge zur Verfügung. Zurzeit wird geprüft, ob dies möglich ist. Wir hoffen, es gelingt!
3) Wir sind politisch Anwälte der Flüchtlinge. Die Ursachen, warum Menschen gegen ihren Willen ihre Heimat verlassen, sind vielfältig: Klimawandel, extreme Armut, Krieg und Gewalt gehören dazu. Lösungen gibt es nur gemeinsam, europäisch und international. Aber auch wir sind nicht machtlos. Wir können unsere demokratischen Rechte ausüben, z.B. mal wieder wählen gehen und so dafür sorgen, dass es legale Wege der Einwanderung nach Deutschland und Europa gibt, die Schleusern das Wasser abgraben.
Liebe Gemeinde!
Es ist wahr: Die Herausforderung, vor der wir hier stehen, ist groß.
Aber die Verheißung auch!
Wenn es uns gelingt, denen beizustehen, die heute unsere Hilfe brauchen, dann wird uns das verändern, dann wird es bessere Menschen aus uns machen.
Und wir werden selbst beschenkt werden in einem Ausmaß, das wir uns heute noch nicht vorstellen können!
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Predigtlied: Sonne der Gerechtigkeit (EG 262,1.4-6)
[1] Frau S. ist eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Kirchengemeinde, die seit Jahren hobbymäßig malt und einen Teil ihrer Werke nun zugunsten der Flüchtlingshilfe der Diakonie verkauft.
[2] Die Fotomotive der Plakataktion sind zu sehen unter www.fremdling.eu (abgerufen am 18.09.2015).
[3] Zur aktuellen Situation der Flüchtlinge. Eine Erklärung der Leitenden Geistlichen der evangelischen Landeskirchen Deutschlands vom 10.09.2015.
Quelle: http://www.ekd.de/download/20150910_gemeinsame_erklaerung_fluechtlinge.pdf (abgerufen am 18.09.2015).