Predigt zu Hebräer 4,12-13 von Bernd Vogel
4,12-13

Liebe Gemeinde,

„Denn lebendig ist das Wort Gottes  und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert. Es dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Gelenke, und kann richten Gedanken und Vorstellungen des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles nackt und offen gelegt vor den Augen dessen, vor dem wir uns verantworten müssen.“ (Hebr. 4,12 f., eigene Übersetzung)

Die Lage spitzt sich zu. Bis zum Frühjahr – heißt es - muss innerhalb der Europäischen Union eine von einer Mehrheit getragene praktische Lösung der ‚Flüchtlingskrise‘ her. Danach drohe das Projekt der Europäischen Union zu implodieren. Auf die praktischen und politischen Schwierigkeiten oben drauf wird die Frage Köpfe und Gemüter besetzen, was eine Europäische Union sein soll, in der es in den wesentlichen Fragen der Zeit keine Einigkeit gibt, ob man das ganze Projekt nicht erledigen sollte, die Schlagbäume wieder hochzieht und Armee und Polizei an alle Grenzen.

Die Bürger und Bürgerinnen in Griechenland und Italien, in Polen, in Großbritannien, in Frankreich, Österreich und wohl auch in Deutschland werden – so ist zu befürchten – auf Dauer mit der Schizophrenie nicht leben können, einerseits für sich selber Freizügigkeit und Wohlstand zu bewahren und für andere als Werte und Lebensstil zu empfehlen, andererseits gewaltsam die Grenzen abzuriegeln und vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Flüchtlinge auf See ertrinken und in menschenunwürdigen Lagern verkommen zu lassen. Das hält niemand im Kopf aus, der noch bei Sinnen ist.

„Lebendig ist das Wort Gottes  und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert. Es dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Gelenke, und kann richten Gedanken und Vorstellungen des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles nackt und offen gelegt vor den Augen dessen, vor dem wir uns verantworten müssen.“

Ein Wort, schärfer als ein Schwert? Und lebendig?

Im Zusammenhang des Hebräerbriefes wird klar, was gemeint ist: Es ist der lebendige Gott, dessen Wort „kritikos“ ist, unterscheidet, scheidet, kritisiert. Seele und Geist. Mark und Gelenke (harmon). Der lebendige Gott zerteilt die Harmonie einer Person buchstäblich. Da bleibt keine Teilstück unbeachtet, keine Verbindung ungeprüft.

Wer kann so etwas hören? In den meisten Gottesdiensten und Gemeinden war es jahrzehntelang nicht angesagt, vom richtenden Gott zu sprechen. Zu viel Schindluder wurde damit getrieben von eitlen Predigern, die ihren Narzissmus pflegten, indem sie der Gemeinde die Hölle heiß zu predigen wussten. Nein, Gott ist die Liebe. Nichts sonst. Gott nimmt dich an, wie du bist. Gott ist immer auf deiner Seite. Gott rettet dich aus deinen Zwängen und von deinem Leistungsdruck. Glaube nur. Sei doch zufrieden mit dem, der du bist. So ungefähr jedenfalls.

Es  ist ein weites Feld der Gründe und der Diskussion. Nicht mit wenigen Worten zu fassen. Und doch: Einer der Hauptgründe dafür, dass der Gott der Kirche für die allermeisten unserer Zeitgenossen schlicht kein Thema mehr ist, liegt darin verborgen, dass wir in den Gemeinden nicht mehr gewohnt und fähig sind, die ganze Bibel zu lesen. Auch die erschreckenden Worte. Auch die Gewaltgeschichten nicht nur im sogenannten ‚Alten Testament‘. Die Liebespredigt der Prediger und Predigerinnen trifft möglicherweise noch auf Interesse bei Menschen, die ein Leben lang an ihrer Liebeswunde leiden; aber sie ist belanglos für eine Welt geworden, in der nicht die Sehnsucht nach Geliebtsein und Liebe das vorherrschende Thema ist und auch nicht der Stress des Alltags in einer Leistungsgesellschaft. Auch die sich nach Liebe, Wärme und Entlastung sehnen, ahnen mit allen Menschen, die nicht teilhaben an Sicherheit und Wohlstand, dass es viel elementarer um die Fähigkeit geht überhaupt menschlich leben zu können in einer tendenziell wahnsinnigen Welt.

Ein Wort, schärfer als ein Schwert. Und lebendig. Ein lebendiges Wort, das schärfer als jedes zweischneidige Schwert mit Stich und Hieb, hin und her, ritsch und ratsch den ganzen Wahnsinn offenlegt, ans Licht des taghellen Bewusstseins bringt.

Darum geht es. Und das ist gar nicht lieb und überhaupt nicht gemütlich. Da geht es zu wie in der Küche des Sternekochs am Hackbrett. Der ganze Wahnsinn wird bloß gelegt, wie Luther mit seiner Übersetzung andeutet.

Wer aber kann das hören? Wer kann das ertragen? Was sind das für gewaltsame Wortbilder? Ritsch und ratsch und zweischneidiges Schwert und Psyche und Geist zerteilt und Knochenmark und Gelenke getrennt und nackt liegt der Mensch da. Das ist ja pornografisch in der Sprache und treibt einem die Schamröte ins Gesicht.

Ja, allerdings. Das wäre theologisch und seelsorgerlich mehr als ein Skandal: Es wäre unverantwortlich, sich in einer Predigt und beim Bibelgespräch in der Gemeinde oder gar in der Öffentlichkeit eines Internet-blogs derart zu äußern, in den Wortbildern heimlich zu schwelgen, wenn wir nicht dazu wüssten und sagten, von wem hier die Rede ist: Von Jesus Christus dem Gekreuzigten und Auferstandenen.

Der das Schwert führt, ja selber ‚ist‘ (s. z. B. bei Cranach die Darstellungen vom Weltenrichter-Christus mit dem zweischneidigen Schwert quer im Mund) – das ist der lebendige Sohn Gottes, für den Hebräerbrief der Hohepriester, der sein Leben gegeben hat, damit die, die ihm vertrauen, nichts mehr hindert ein neues Leben zu führen.

Die diesem Jesus Christus vertrauen, ihm ‚glauben‘, sind die, die sich von ihm sozusagen zerlegen lassen – aber nicht, weil sie gerne litten oder eine verhohlene Freude an gewaltsamen Fantasien hätten, sondern weil sie den Wahnsinn loswerden wollen, der auch – und vielleicht gerade – in ihrer Psyche und in ihren Knochen sitzt.

Gott liebt dich als der oder die, der oder die du BIST. Ja, eben. Zu lange haben wir betont: Gott liebt dich mit deinen Macken und Fehlern. Ja, gewiss. Aber das meinte doch biblisch nie, dass Gott die Macken und Fehler liebt. Gott liebt dich, nicht dein Bild von dir und nicht das Bild, das sich andere von dir machen. Vielleicht sollten wir es auch so sagen: Gott liebt dich auch als der, der du sein wirst. Heutige aktuelle Alltagspsychologie spricht davon, dass man lernen möge, sich selbst zu lieben, ganz praktisch, alltäglich eingeübt. Wer aber ist man selbst? Möglicherweise bin ich auch der, der ich sein will, nach dem ich mich ausstrecke. Werde, der du sein willst! sagen Alltagspsychologen heute.

Biblisch entspricht der Hebräerbrief dem insofern, als der Mensch verstanden wird als einer, der sich vor dem Gott verantwortet, der ihm in Jesus den Wahnsinn aus Herz und Knochen genommen hat und täglich nimmt, auf dass der Mensch frei werde, zu leben als der, der er ist und als der er von Herzen sein will: Ein wahrhaft freier Mensch.

Das europäische Projekt wird nicht an objektiven unveränderbaren politischen Problemen scheitern, als wären diese blindwütige Schicksalsmächte. Als wären wir Bürger und Bürgerinnen diesen Mächten hilflos ausgeliefert.

Pegida, AFD und anders – etwas pragmatischer - auch die CSU arbeiten mit diesen Dämonen, die uns in Psyche und Mark und Bein fahren sollen. Die Parolen der Rechten sollen unsere Ängste wecken, schüren und kultivieren. Die „Obergrenze“ scheint die ansonsten flutartig über uns kommende Katastrophe zu bannen. Grenzsicherung statt Willkommenskultur hat Konjunktur. Das christliche Abendland scheint bedroht. Dabei sitzt der Feind längst mitten drin in der Gesellschaft und vielleicht in uns selbst. Das trojanische Pferd steht schon innerhalb der Mauern der Zitadelle. Und es sind nicht die 1 Million Flüchtlinge. Es sind allerdings einige Verbrecher, die sich als Wölfe unter die Schafe gemischt haben. Da muss sich unsere Gesellschaft wappnen. Es sind Probleme der Integration auch des lange Zeit Nicht-Integrierbaren: Das Nebeneinander verschiedener kultureller Bilder von Mann und Frau, von Religion und Politik. Vor allem aber ist es die Unehrlichkeit im Blick auf sich selbst, das Verdrängen und Verschieben eigener Ängste auf „die Flüchtlinge“, „die Asylanten“. Das trojanische Pferd, das zu entdecken und zu destruieren unsere Aufgabe ist, hat am meisten nicht mit den Fremden zu tun, die zu uns kamen, sondern mit dem Fremden in uns selbst, dem Wahnsinn eines schizophrenen Lebens zwischen Offenheit und Abgrenzung, Menschenfreundlichkeit und Angst und Hass.

Wenn in der Bibel vom ‚richtenden‘ Gott die Rede ist, geht es entgegen verbreiteter Lesart nicht um die Hinrichtung von Menschen durch einen rachsüchtigen Gott. Im Gegenteil: Es geht um die Errettung des Menschen aus Sünde und Tod und aus den Fängen des bösen Wahns. As Evangelium, die frohe Botschaft, besteht geradezu darin, dass Gott in Jesus Christus konkrete Befreiung uns bringt, nicht nur als Freispruch für nach dem Tod.

„Lebendig ist das Wort Gottes  und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert. Es dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Gelenke, und kann richten Gedanken und Vorstellungen des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles nackt und offen gelegt vor den Augen dessen, vor dem wir uns verantworten müssen.“

Unserem Text voraus geht eine lange Passage über Psalm 95. Sein Thema ist die Wüstenwanderung Israels und die Ruhe - die menucha, die Freiheit und die Heimat -, welche die verspielen, die Gottes Wegen nicht trauen. Und wann kommt man in diese Ruhe, diese Freiheit und Heimat? Die Antwort, die der Hebräerbrief zitiert und auslegt, lautet:

„Heute, wenn ihr auf seine Stimme hört" (Ps 95,7) (Hebr 3,7 u. ö.). Dieses „Heute“ Gottes anzusagen, ist wieder Auftrag der Kirche. Nicht nur im Gottesdienst. Nicht nur durch die amtlichen Prediger. „Ich bin da!“ spricht Gott zu Mose im Dornbusch. „Ich bin da!“ vergegenwärtigen wir uns im Meditationskreis der Kreuzkirchengemeinde. Hier bin ich, Gott, rede Du zu uns, zu mir auch. Lass mich hören. Lass mich verstehen. Lass mich frei werden vom Wahnsinn. Begeistere mich, begeistere uns alle zu einem fröhlichen Leben mit uns selbst und mit anderen.

Amen

Perikope
31.01.2016
4,12-13