Liebe Gemeinde, es soll heute um Gehorsam gehen. Und weil das so ein schwieriges und unangenehmes Thema ist, lassen Sie mich mit einer Geschichte beginnen.
Meinem Sohn musste ich Gehorsam relativ früh beibringen. Viel zu früh, wie ich fand, denn ich war eine liberale Mutter, und wollte meinem Kind erlauben, aus Fehlern zu lernen. Marten konnte sich darum in der kleinen Studentenwohnung frei bewegen. Und dieses Kind war unglaublich beweglich, sobald er krabbeln konnte rasend schnell und mit einem absolut sicheren Instinkt für alles, was verboten und gefährlich ist. Darum hatte ich, was er nicht haben durfte, weitestgehend hochgestellt, und die Gefahrenquellen so gut wie möglich eliminiert. Wäre da nur nicht dieser Herd gewesen! Ein uraltes Teil, ein schreckliches Ding aus den 1950er-Jahren mit Schaltern, die sich perfekt in Kinderhände fügten und einem Backofen, der von außen genau so heiß wurde wie von innen.
Sie kennen dieses Alter, in dem kleine Kinderhände fast alles erreichen können, was sie wollen, aber die kleinen Kinderhirne noch nicht in der Lage sind, Verbote zu verstehen und Gehorsam umzusetzen. Zunächst konnte ich noch einfach die Küchentür schließen, um dem Lütten den Zugang zum Herd zu verwehren. Aber das war nur eine kurze Zeit. Bald zog er sich am Türrahmen hoch, stellte sich auf Zehenspitzen und verschaffte sich Zugang zu dem verbotenen Ort, der ja außerdem oft verführerisch roch.
Da musste ich bei einem grade mal Einjährigen mit der Gehorsamkeitserziehung anfangen. Zunächst versuchte ich es mit Erklärungen. „Das ist heiß“, sagte ich und tat so, als würde ich mich selbst an der Platte verbrennen, auch wenn der Ofen gar nicht an war. „Heiß! Aua!“ Das machten wir mehrmals täglich. Und so wurde neben „Mama“ und „Auto“ das Wort „heiß“ zu den wichtigsten in seinem noch so jungen Leben.
Bald schon versuchte er es nachzusprechen. „Eiiis?“, fragte er und zeigt auf den Herd. „Ja, heiß. Vorsichtig!“ „Eiiss. Aua.“, sagte er brav. Zweite Stufe des Plans war ein scharfes „Nein!“, wenn der Junge sich – unvorsichtig oder mit Absicht – dem Ofen doch nähern sollte. Das bekam er sonst nicht oft zu hören, ein so klares Nein. Er zuckte immer richtig zusammen und begriff schnell, dass „Nein!“, „heiß“ und „Aua“ irgendwie zusammengehören. Das arme Kind war bald völlig konditioniert und zeigte, schon wenn es den Herd von weitem sah, kopfschüttelnd mit ausgestrecktem Finger und angewidertem Blick auf die Abdeckung. „Eiiis?“ „Ja, Marten, der Herd kann heiß sein. Nicht anfassen.“
Ich erzähle Ihnen das, liebe Gemeinde, weil ich meine, dass die Rede vom menschlichen Gehorsam Eckparameter braucht. Gehorsam ist sinnvoll, wenn er der Gefahrenabwehr dient. Gehorsam ist nur dem möglich, der vertraut. Gehorsam ist ein Prozess, ein Lernprozess. Darauf brachte mich der Predigttext für den heutigen Sonntag.
Hört mit mir Worte aus dem Hebräerbrief, Kapitel 5.
Als er auf Erden lebte, hat Christus mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden. Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden und wurde von Gott angeredet als «Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks».
Christus hat durch Leiden den Gehorsam gelernt. Das ist ein schwerer Satz, besonders auf dem Hintergrund meines Einstiegs. Ich hab ja vermeiden wollen, dass mein Sohn durch Leiden lernen muss. Ich hab ihn Gehorsam gelehrt, damit er sich nicht die Finger verbrennt. Bei Christus scheint das anders zu sein. Als ob sein Leiden einen Sinn gehabt hätte, als ob das alles so hat sollen sein – und so meint es der Hebräer auch.
„Unter lautem Schreien und unter Tränen“ – Jesus hat bitterlich geweint im Garten Gethsemane, er hat gebetet, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge. Er hat gelitten in jener Nacht, alleingelassen von den Jüngern, verraten vom Freund, Aug in Aug mit dem Tod. „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“, sagt er am Ende seines Ringens, als er schon die Waffen der Schächer klirren hört. Er fügt sich in den Willen Gottes. Er wird gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz.
Wie eine Grundschule des Gehorsams klingt auf diesem Hintergrund die Geschichte von der Versuchung Jesu in der Wüste. Dorthin zieht er sich zu Beginn seines Wirkens 40 Tage lang zurück. Vier Mal bietet ihm der Teufel ein leichtes, schönes, reiches Leben, jedes Mal weist ihn Jesus entschieden zurück. Er gehorcht Gott mehr als den Menschen, das macht er gleich zu Beginn deutlich.
Und auch die letzten Tage: Er hätte nicht nach Jerusalem gehen müssen, damals zum Passah. Er wusste, dass die Stadt gefährlich war. Er wusste, dass sie ihm nach dem Leben trachteten. Jesus ging bewusst den Weg ans Kreuz. Er gehorchte Gott. Und noch im Sterben vergibt er denen, die ihm Böses taten. „Sie wissen nicht, was sie tun“, sagt er. Und gehorcht damit Gott, der ihm gebot, zu lieben. Immer wieder verweist er auf den, der ihn gesandt hat. Immer wieder verweist er auf Gott, auf einen Gott, den wir Vater nennen dürfen.
Es ist ein dickes, theologisches Brett, das der Hebräerbrief hier bohrt. Er verbindet die Rede vom Gehorsam Jesu mit einer Theologie des Hohepriestertums und verwendet dafür alttestamentliche Bilder, die wir uns mühsam erarbeiten müssen. Es geht ihm dabei um Stellvertretung. Der Hebräer will predigen, dass wir nicht auf uns allein gestellt sind, sondern dass Christus für uns eintritt und an unserer statt handelt und leidet. An unserer statt wird Christus zum Hohepriester, zum Mittler. An unserer statt lernt er gehorsam bis zum Tod, damit wir durch ihn das Heil finden.
Ich muss zugeben: Ich hab nie viel von Gehorsam gehalten - sehr zum Leidwesen meiner armen Eltern übrigens. Ich musste jedes Gebot prüfen, jede Grenze überschreiten, jedes Widerwort riskieren, jedes Gesetz infrage stellen. Das hat meinen Lebensweg nicht leichter gemacht, es war immer der des größtmöglichen Widerstands. Aber so war das nun, und so ist das manchmal immer noch. Ich tue mich unheimlich schwer mit Uniformen und Hierarchien, ich würde in einem System gebellter Befehle wahrscheinlich nicht funktionieren. Gehorsam, das klingt für mich nach Abhängigkeit und Gewalt, nach Strafe und Streit. Gehorsam, das klingt nach Militär und Mittelalter, nach Drill und Druck. Ich tue mich schwer mit diesem Predigttext, der Jesus zum Vorbild im Gehorsam erhebt. Er war für mich eigentlich immer ein Vorbild im Widerstand. Ich tue mich auch schwer damit, dass Jesus trotz seines Gehorsams leiden muss. Das ist theologisches Schwarzbrot für mich, es will nicht so recht lustvoll in meine Seele dringen.
Denn dem Predigttext geht es tatsächlich um Hierarchien, um Unterordnung – und in dem Zusammenhang ist die Rede vom Gehorsam Christi zu verstehen. Christus ist unser Hohepriester, schreibt der Hebräerbrief. Hohepriester kann nur sein, wer sich selbst ganz in den Dienst Gottes gibt. Aber Christus ist noch mehr: Er ist ein Hohepriester der ersten Ordnung, der Ordnung Melchisedeks. Und das ist schon fast eine Ungeheuerlichkeit: Melchisedek war priesterlicher König zur Zeit Abrahams. Und die Bibel erzählt, dass Abraham, der Urvater des jüdischen Glaubens, ihm Steuern gezahlt habe, sich ihm also freiwillig unterordnete. Ebenso muss sich, wenn es nach dem Hebräerbrief geht, der alte Bund, für den Abraham steht, dem neuen Bund unterordnen müsse, weil Christus Nachfolger Melchisedeks sei, von Gott selbst eingesetzt und berufen, uns zum Heil.
Ich will noch einmal auf den Anfang zurückkommen: Ich musste Mutter werden, um zu verstehen: Mein Kind muss mir im Notfall gehorchen, damit ich es sicher durch das Leben führen kann. Es muss mir vertrauen können. Darum muss ich für mein Kind Autorität sein und bleiben. Und in seinem Heranwachsen entdeckte ich, was für ein mühsamer Prozess es ist, zwischen Widerstand und Ergebung jeden Tag neu zu entscheiden, ob die Autorität noch trägt, ob das Verbot noch gilt und ob der Gehorsam noch schützt.
Und ich erinnere an die Eckparameter menschlichen Gehorsams: Gehorsam ist sinnvoll, wenn er der Gefahrenabwehr dient. Gehorsam ist möglich, wo Vertrauen ist. Gehorsam ist ein Prozess, ein Lernprozess.
Ich glaube und bekenne, dass Gott keinen blinden Gehorsam fordert. Ich habe Gott nie als Befehlenden oder Herrschenden erlebt. Vielmehr ist er für mich wie ein guter Vater und eine gute Mutter. Er will Böses abwenden, er eröffnet einen Lebens-Lern-Raum voller Vertrauen und er bringt seine Menschenkinder am Ende ans Ziel eines erfüllten Lebens und eines seligen Sterbens. Ich bin sicher, dass er Schaden von uns abwenden will, indem er uns seine Gebote gibt. Ich vertraue darauf, dass er wie ein guter Vater meine Widerworte erträgt, mein Ausreißen duldet und sogar meine durch Ungehorsam entstandenen Fehler wieder gutmachen will.
Jesus lernt an meiner statt Gehorsam, er geht mir voran. An unserer statt lernte er Liebe bis zum Tod, damit das Böse unsere Herzen nicht vergiftet. An unserer statt lernt er Vertrauen bis in den Tod, damit Zweifel uns nicht vernichten. An unserer statt stirbt er den Tod am Kreuz, damit wir in Kreuz und Leiden nicht verloren gehen.
Amen.