Predigt zu Hebräer 9, 15.24-28 von Hilmar Menke
9,15
Ende der 50er Jahre veröffentlichte Gerhard Szczesny sein Buch mit dem programmatischen Titel „Die Zukunft des Unglaubens. Zeitgemäße Betrachtungen eines Nichtchristen” (List, München 1958).
  Als Motto stellte er seinem Werk einen Satz des Philosophen Ludwig Wittgenstein  voraus (aus „Tractatus Logico-Philosophicus”, 1921): „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen."
  Die Absicht ist, so meine ich, klar: Christen reden von etwa, von dem sich eben nicht klar reden lässt - und darum sollten sie schweigen. Die Zukunft gehört nicht dem Glauben an letztlich Unsagbares, sondern dem Unglauben, der sich klar auszudrücken vermag.
  Ärgerlich! Ärgerlich, weil ich das nicht so einfach von der Hand weisen kann, geradezu verstörend: Denn, wie sollte es gelingen das, was am ersten Karfreitag geschah, mit einfachen, klaren Worten auszudrücken? Wie sollte, wie könnte es gelingen, das Unfassbare des Geschehens greifbar, fassbar zu machen? Je schöner die Worte, je wohlgesetzter die Rede, desto mehr scheint mir die Sache zu entgleiten, um die es geht.
  Bleibt nichts anderes als das, was der Philosoph schreibt und was ein neuere Passionslied (EG 93, Strophe 2) so ausdrückt: „Nun in heilgem Stilleschweigen stehen wir auf Golgatha. Tief und tiefer wir uns neigen vor dem Wunder, das geschah...”
  So jedenfalls haben wohl die Freunde Jesu, seine Jünger, die Frauen unter dem Kreuz reagiert. Sie hatten jedenfalls keine Erklärung parat. Für sie war es nichts anderes als eine - ja die - Katastrophe, das Ende all ihrer Hoffnungen, der Zusammenbruch einer ganzen Welt. Für sie gab es kaum etwas anderes als die „Zukunft des Unglaubens”, weil ihr Glaube, ihr Vertrauen auf die Liebe und die Kraft Gottes zerstört war.
  Sie fliehen - schon nach der Verhaftung Jesus im Garten Gethsemane, sie sagen sich los von dem, der so offensichtlich gescheiter ist: „Ich kenne diesen Menschen nicht” - so Petrus - und die Jünger die dann auf dem Weg zurück nach Emmaus sind, sie sind voll von Resignation.
  Sie alle fanden keine Worte für das, was geschehen war - und sie fanden auch keine Worte, als sie hörten, der Gekreuzigte lebe: Angst, Furcht, Erstaunen - Schweigen!
  Nur sehr, sehr langsam wurde ihnen klar, dass da mehr geschehen war als Scheitern, nur sehr vorsichtig, tastend, stammelnd versuchten sie, das Unfassbare in Worte zu fassen.
  Ein solcher Versuch ist auch der Abschnitt aus der Heiligen Schrift, der heute für die Predigt vorgesehen ist, ein Versuch, dem Unfassbaren der Kreuzigung Jesu mit bekannten, vertrauten Begriffen näher zu kommen. Es sind die Bilder der jüdischen Opferbräuche, wie sie im Tempel in Jerusalem praktiziert wurde - und an ihnen und mit ihnen sollte auch klar werden, was das Opfer Christi von dem Opfer des Alten Bundes unterscheidet.
  
  Lesung des Predigttextes
  
  Uns sind die Opferbräuche natürlich fremd, und so mag uns dann auch der Versuch im Hebräerbrief fast als gescheitert vorkommen.
  Dabei hören und lesen wir den Begriff Opfer doch nicht selten: Unfallopfer, Opfer von Verbrechen - „Du Opfer” als Schimpfwort im Slang bestimmter Kreise....
  Ich will von einem psychologischen Experiment berichten, das auch bei uns in Deutschland durchgeführt wurde: Frauen und Männer aus verschiedenen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten wurden einem Mann gegenübergestellt, der auf einer Art Elektrischem Stuhl saß. Und sie erhielten den Auftrag, ihn jedesmal, wenn er eine an ihn gerichtete Frage falsch beantwortete, mit einem immer kräftiger werdenden Stromstoß zu bestrafen. Über 90% der Testpersonen taten, was man von ihnen verlangte, obwohl sie sahen, wie sehr der Mann litt...
  Was schlummert da in uns, das uns dazu bringt, andere Menschen zum Opfer zu machen oder zumindest als Opfer zu akzeptieren?
  Immer wieder in der Geschichte der Menschheit ist es geschickten und skrupellosen Machtmenschen - manche sprechen sogar von „Hohenpriestern der Macht” - solchen Machtmenschen gelungen, diese Lust am Opfer in bestimmte Bahnen zu lenken - auf den „Erbfeind”, den es durch Kriege zu vernichten gilt; auf die angeblich rassisch anderen - wie ja gerade unsere Vergangenheit zeigt -; auf Andersdenkende, Andersglaubende - und das nicht nur bei islamistischen Fundamentalisten!
  Ich denke, wir kennen das wirklich: Die Suche nach dem Opfer....
  Jesus hat diese Suche  sozusagen abgebrochen - schon in seinem Leben, wenn er sich gerade der Opfer seiner Zeit annahm, auch der Opfer allzu sicherer religiöser Überzeugungen - aber endgültig und unwiederholbar in seinem Sterben. Das ist der Sinn der Rede von seinem Selbstopfer: Andere kann ich viele opfern und immer wieder, „alle Jahre” , so wie es der Hohepriester tat - mich selbst nur ein einziges Mal.
  Jesus Christus hat sich selbst so geopfert für die Menschheit, die sich ihre Opfer suchte und auch heute noch sucht.
  Auch heute noch! Ist darum sein Opfer sinnlos? Hat er sich vergeblich geopfert? Ist das Grund vielleicht zum Unglauben? Grund dafür, dass viele mit der die Verkündigung der Lehre Jesu so wenig anfangen können?
  Es mag so aussehen. Aber, durch Karfreitag ist eben doch etwas grundsätzlich anders geworden:
  Wo immer Menschen ein Opfer suchen, da steht schon das Kreuz von Golgatha: Es stand auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges ebenso wie es in Bergen-Belsen uns Auschwitz stand - es steht auch heute überall da, wo Menschen geopfert werden in Kriegen und Bürgerkriegen, durch Terrorismus oder staatliche Gewalt, überall wo Menschen verfolgt werden, gequält, ihrer Würde beraubt - nicht erst da, wo es um das Leben geht, sondern auch schon da, wo Gedankenlosigkeit oder Egoismus dem Mitmenschen das Leben schwer machen, da wo es im ganz kleinen anfängt mit dem Opfern.
  Das Kreuz steht da - wir können es wahrnehmen und sehen: Mahnmal für die Opfer und gegen das Opfern - Mahnmal auch zum Erschrecken über das, was auch in mir ist und sich Bahn brechen könnte.
  Aber doch noch mehr:
  Mal der Hoffnung - der Hoffnung, dass wir eben doch einmal aus dem Teufelskreis von Opfern und Geopfertwerden herauskommen - ein Mal der Hoffnung, das uns den Weg weist in die Zukunft - nicht in die des Unglaubens, sondern in die des Glaubens.
  Jesus Christus hat am Kreuz die Sünde der Welt auf sich genommen - die Sünde, die nicht in diesen oder jenen großen oder kleinen Fehlern, nicht im Versagen hier und dort besteht, sondern in der Trennung des Menschen von Gott. Damit eröffnet er immer wieder Zukunft, Zukunft dafür, dass wir uns nicht von Gott trennen oder trennen lassen.
  Wenn es wohl auch dazugehört, dass wir etwas opfern müssen  - etwas von unserer Selbstbezogenheit, von unserem Egoismus, von
  Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit - auch etwas von unserer Macht, so klein sie uns auch erscheinen mag.
  Vor allem aber dürfen wir nicht aufhören von dem Unsagbaren zu reden, so gut wir es können, so unvollkommen es erscheinen mag - gerade von dem, was sich nicht so klar und einfach in Worte fassen lässt, dürfen wir nicht schweigen - weil das Kreuz Christi selbst spricht. Amen.
  Predigtnachlied: „Nun gehören unsre Herzen“ (EG 93)  oder  „Kreuz, auf das ich schaue“ (Anhang EG Niederschsen/Bremen 598)
Perikope
06.04.2012
9,15