Liebe Gemeinde,
hier im Algarve findet man in der Advents- und Weihnachtszeit an öffentlichen Plätzen große Krippen aufgebaut. In Tavira kann man vor dem Rathaus eine lebensgroße Krippe bewundern. Das bemerkenswerteste sind die Schafe beim Stall: Ihre „Wolle“ ist aus großen Mengen Bau-Isoliermasse aufgeschäumt. In Porches am Friedhof kann man eine phantasievolle Krippenlandschaft bestaunen, der Algarvelandschaft nachempfunden, mit Rindern und Schafen, Kirchen und Dörfern, und mit einem echten Fluss, der sinnigerweise an der Höhle entspringt, in der das Kind in der Krippe liegt. Nur zwei Beispiele!
In meiner Heimatstadt Münster gibt es eine Krippentour. Man kann unter kundiger Führung quer durch die Stadt die vielen schönen Weihnachtskrippen in Kirchen und Krankenhäusern abklappern. Und dabei findet man, neben dem gewohnten „Inventar“ Jesuskind, Maria und Josef, Hirten, Ochs und Esel manchmal die denkwürdigsten Darstellungen der Weihnachtsgeschichte.
In der Kapelle des Clemenshospitals gegenüber der Gnadenkirche ist eine ausufernde Krippenlandschaft aufgebaut, begründet vom seinerzeitigen Krankenhausseelsorger Pater Edilbert. Da trifft man auf den Wirt der Herberge von Bethlehem in seiner Gaststube, die auch in Bayern stehen könnte; da fließt ebenfalls echtes Wasser auf ein Mühlrad; man sieht die Skyline einer Großstadt; man trifft auf den jeweiligen Papst und manch anderen heutigen Zeitgenossen, übrigens auch den Erbauer der Krippe selbst! Und auch in der Krippe der Gnadenkirche machen sich Mühselige und Beladene aus unserer Zeit zur Krippe auf.
In der Kapelle der Universitätskliniken Bonn, so habe ich gelesen, hat sieht der Stall aus wie das Verwaltungsgebäude der Klinik, und es gab Überlegungen, das Christkind ganz krankenhausgemäß in einen Brutkasten statt in eine Krippe zu legen. In einer Kirche in Köln kommen die Berufsgruppen zum Stall, die an Heilig Abend Dienst haben: Polizisten, Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Schaffner und Busfahrer. Wieder in einer anderen Kirche schließlich nähert sich das ganze Alte Testament, Adam und Eva, Abraham, Isaak und Jakob, die Propheten und Psalmsänger. Was soll das alles bedeuten?
Was in all diesen Krippen geschieht, ist eine anschauliche „Vergegenwärtigung“ der frohen Botschaft. Das Evangelium wird herübergeholt über den „garstigen Graben der Geschichte“, wie Lessing gesagt hat, in unsere Gegenwart. Also das, was auch Aufgabe einer jeden Predigt ist. Indem wir Heutigen uns einreihen in die Krippenbesucher, finden wir uns plötzlich in der Wolke der Zeugen wieder, die Gott und Mensch zusammen sehen über Zeiten und Generationen hinweg. Und da kann man dann auch die beiden Gestalten Simeon und Hanna aus unserem heutigen Bibeltext treffen.
Lukas unterscheidet sich von seinen Evangelisten-Kollegen in einer bedeutsamen Hinsicht: Er schreibt, sozusagen als Historiker, in zwei Bänden die Geschichte Jesu und die Geschichte der ersten Kirche auf. Die Vorgeschichte, gewissermaßen den Vorläuferband zu seinem Werk, gibt es schon, nämlich die Hebräische Bibel, die wir Altes Testament nennen. In unserem Text heute erzählt er von Zeitgenossen Jesu, die die alte prophetische Tradition aus der Vorgeschichte verkörpern und bestätigen. Simeon und Hanna, das sind die uralten Zeugen, die nach damaligem Verständnis juristisch korrekt „aus zweier Zeugen Mund“ die Zeitenwende und das Kommen des Messias bezeugen: Jesus ist der lange Erwartete, der Heiland, der „Trost Israels“ und das Licht für die Völker. Schön wär’s, wenn von diesem „Zeichen“ alle Menschen überzeugt werden könnten und ihm folgten; doch schon Lukas weiß, dass diesem Zeichen widersprochen werden wird. Das ist bis heute immer noch so!
Simeon muss schon alt und dem Tod nahe gewesen sein. Sonst hätte die Ansage des Heiligen Geistes ja keinen Sinn. Und was Hanna betrifft, so lesen die einen, sie war 84 Jahre, die anderen sie war 84 Jahre lang Witwe, sei‘s drum. Sie hat eben auch schon viele Jahrzehnte auf dem Buckel. Diese beiden werden Zeugen des Neuanfangs und der Zukunft mit Gott:
Schauplatz dieser Weihnachtsgeschichte ist nicht der Stall von Bethlehem, sondern der Tempel von Jerusalem, der Ort, zu dem die Kinder frommer jüdischer Eltern gebracht werden. Wir erfahren, dass die Eltern Jesu alles nach dem Brauch und nach dem Gesetz ihrer Tradition tun: Nacht acht Tagen lassen sie das Kind beschneiden, und sie geben ihm den Namen, der vom Engel genannt war vor seiner Geburt. Und nach 40 Tagen bringen sie das Kind erneut, dieses Mal mit einer Kollektengabe, zum Tempel. Und dort findet diese denkwürdige Begegnung mit Simeon und Hanna statt. Simeon und Hanna - diese Namen tragen – das ist kein Zufall! – jeweils eine gewichtige Bedeutung: „Gott hat erhört“ und „Gott hat sich erbarmt“.
Nachdem Simeon das Jesuskind auf den Armen gehalten hat, ist sein Herz so voll, dass ihm der Mund übergeht – er beginnt zu singen, und sein Lobgesang hat es in sich: „Nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen“.
Erinnern wir uns an den vorhergehenden Lobgesang? Den in der Weihnachtsgeschichte, den der Engelschor angestimmt hat? „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens!“ Schon zuvor hatte der Verkündigungsengel kundgetan: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.“
Simeons Gesang ist sozusagen das individuelle Echo auf das, was die Engel angesagt hatten. Nicht nur er, sondern alle Menschen sollen erlöst werden. Das Heilsgeschehen ist nicht beschränkt auf einen Einzelnen oder auf wenige Auserwählte, sondern gemeint sind alle Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität oder Konfession. Damit weist Weihnachten weit über alle Grenzen hinweg, die wir Menschen zu ziehen gewohnt oder bemüht sind.
Gott ist kein privates Erlebnis zu individuellem Gebrauch. An Weihnachten ging Gott in die Welt, weil die ganze Welt, alles Volk ihm gehört. Mit Gott kann man es sich nicht bloß in den eigenen vier Wänden gemütlich machen. Nein, Gott ist in der Welt. Und deshalb öffnet Simeon seinen Mund und singt und erzählt aller Welt von Gott.
Beides gehört zum Weihnachtsglauben, das ist der Clou des Lukas: Einerseits lässt Gott sich nicht eingrenzen auf einen Menschen, auf eine Gruppe, auf eine Elite, auf eine Glaubensrichtung, auf einen Frömmigkeitsstil, auf ein Volk. Andererseits ist, wie Simeon und wie Hanna, jeder und jede Einzelne angesprochen: Du bist gemeint.
Aber dann lässt Simeon noch einen Wermutstropfen in den Verkündigungswein fallen, und davon haben die Engel in der Heiligen Nacht nicht gesungen. Nämlich dass die Erlösung und Befreiung, die das Kind für alles Volk bedeutet, nicht von allem Volk angenommen, nicht von ihm gehört und geglaubt werden wird. Das Kind ist ein Zeichen, dem widersprochen wird, sagt Simeon. Das Heil des Herrn ist anders als erwartet. Denn Gott ist anders als erwartet. Und das Kind in der Krippe wird als Erwachsener später anders als erwartet.
Viele Zeitgenossen Jesu hofften auf einen Messias als einen Beauftragten Gottes, der die sündigen Heiden aus Palästina vertreibt und das Reich Davids wieder aufrichtet, also quasi einen politisch-religiösen Herrscher. Stattdessen lehnt Jesus es ab, in diesem Sinne Macht zu übernehmen, sondern etabliert eine neue Unmittelbarkeit zu Gott, den er seinen Vater nennt. Er zeigt Gott als den, der Sündern gnädig ist, sich menschliche Verurteilungen nicht zu eigen macht, der aber Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten verurteilt und der Leidende tröstet und gegen den Tod angeht. Gott, dafür lebt und stirbt Jesus, ist in der Welt. Für alle, gerade auch dort, wo Menschen Verzweiflung, Einsamkeit, Enttäuschung und Unrecht erleiden.
Das hatte bis dahin niemand gehört und geglaubt. Und es fällt uns auch heute schwer, es zu hören und zu glauben. Alle wir, die der Meinung sind, dass Gott es uns schuldet, seine Hand über uns und diejenigen, die wir lieben, zu halten. Auch uns fällt es schwer zuzuhören, wenn Gott sich weigert, Erfolgsgarant zu sein und uns ein langes und glückliches Leben zu verheißen. Dagegen verspricht uns Gott Begleitung durch alles andere, was wir durchmachen müssen.
Heute ist der letzte Sonntag im alten Jahr. Wir stehen auf der Schwelle zu einem neuen Jahr, das wir nicht kennen und von dem wir nicht wissen, was es bringen wird. Wir stehen hier mit all dem Alten, das wir bekommen haben, und mit dem, was wir mit uns tragen müssen, im Guten wie im Schlechten.
Da kann uns Simeon auf unserem Weg in das neue Jahr begleiten. Seine Worte können wir gebrauchen, um dem Alten Lebewohl zu sagen. Es gibt Hoffnungen und Träume, die sich nicht erfüllt haben und die wir hinter uns lassen müssen. Schmerzen und Entbehrungen, die wir mit uns tragen müssen. Aber wir können mit Simeon „fortgehen - in Frieden fortgehen“. Denn auch wir haben das Heil Gottes gehört und gesehen.
So haben nicht nur Maria und Josef, Ochs und Esel, das Christkind, die Hirten und die Weisen, Simeon und Hanna ihren Platz an der Krippe, sondern wir alle.
Amen.
Wichtige Anregungen verdanke ich Dorothee Löhr/früher Hamburg, jetzt Mannheim, und Margarethe Dahlerup Koch/Dänemark