(Vorbemerkung: Die Perikopenordnung empfiehlt Lk 8,4-15 als Text, über den zu predigen sei. Es liegt aber in Mk 4,3-8.13-20 eine nicht nur aller Wahrscheinlichkeit nach ältere, sondern auch prägnantere, „lebendigere“ und noch nicht von dogmatischen Begriffen wie „glauben“ und „retten“ übermalte Fassung des Gleichnisses vom „viererlei Acker“ vor, die ich vorziehe.)
Liebe Gemeinde!
Nach einer Meinungsumfrage erachten es 68 Prozent der Leute als den Sinn des Lebens, glücklich zu werden. Wahrscheinlich müsste man da weiterfragen, was sie wohl unter „glücklich“ verstehen?
Was ist der Sinn des Lebens? Eine Frage, die wir über weite Strecken wegschieben, weil sie im Wege ist, wenn wir, vollbeschäftigt, alle Hände voll zu tun und wenig Zeit zum Nachdenken haben. Doch spätestens in den so genannten „Sinnkrisen“, wenn wir in unserem Trieb und Trott jäh unterbrochen werden, kehrt die Frage wie ein Bumerang zurück. Sie schreit dann förmlich nach einer Antwort, und zwar nach einer sehr persönlichen: was ist meines Lebens Sinn?
Als diesen hatte ich, ich erinnere mich, in einer bestimmten Phase meiner Jugend bestimmt: „Du sollst deinen Nächsten lieben!“, und zu den Nächsten zählte ich, auf meinen Religionslehrer hörend, noch die Fremdesten und die Fernsten. Ich gab mein Taschengeld für Brot für die Welt; als es beim Schulaufsatz das Thema zu wählen gab, widmete ich mich dem Schillerschen: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt!“; und nach Erledigung der Schulaufgaben besuchte ich einen alten, kranken Mann im Nachbarhaus. Denn durfte ich z.B. in meiner Dunkelkammer lustvoll papierne Bilder hervorbringen, solange in meiner Nähe ein ans Bett gebundener Mensch Einsamkeit litt und in Afrika täglich Hunderte verhungerten? Im Nachhinein zweifle ich, ob ich damals mein Bestes, wie ich meinte, gegeben habe. Muss wohl ein ziemlich freudloser Zeitgenosse gewesen sein; im Elternhaus war zu der Zeit nicht gut Kirschen mit mir essen.
Viele Jahre später – ich war mit meiner Familie ins Pfarrhaus und (ein freilich verkürzter) C.G. Jung war in viele Köpfe eingezogen – da habe ich die extrem entgegengesetzte Sinn-Suche kennengelernt, mitten in der damaligen Gemeinde. Auch diese Leute beriefen sich auf Jesu Gebot der Nächstenliebe: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“, so tönte es, und so betonten sie: Erst einmal musst du dich selbst lieben und erst einmal für die Befriedigung deiner Bedürfnisse sorgen. Denn Selbstverwirklichung ist der Sinn des Daseins, was sonst! Und die Nabelschau wurde zum Tanz um dieses Goldene Kalb „Selbst“. Das Spieglein an der Wand gaben die Betreffenden nie aus der Hand. Eine richtige Psychotherapeutin wolle sie noch werden, wenn das Kind erst einmal aus dem Haus sei, erzählte mir die Frau ihren Traum. Was lag näher, als sie zum Mittun im Besuchsdienst der Gemeinde einzuladen. Sie aber antwortete: „Was jetzt bei mir dran ist, das ist aus meiner Sicht, dass ich jetzt erst nach mir selbst sehen muss.“ Das musste sie dann sieben magere Jahre – mit Hilfe eines Psychotherapeuten, der zur wöchentlichen Droge wurde.
Sinnsuche – ich habe extreme Ausprägungen einerseits der egoistischen, andererseits der altruistischen Art geschildert, und Sie konnten heraushören, dass ich wohl beide Modelle nicht für der Weisheit letzten Schluss halte. Bietet das Evangelium Jesu ein besseres?
Jesus zeigt uns auf unsere Frage nach dem Sinn ein Bild, ein Sinn-Bild aus der bäuerlichen Welt Galiläas, ein Bild aus der Schöpfung – es ist: die Frucht: An ihren Früchten soll ihr sie erkennen. Jeder gute Baum bringt gute Frucht.“ (Mt 7,16f) Und den Weingärtner lässt Jesus sagen: „Herr, lass ihn (den Feigenbaum) noch dieses Jahr, ich will den Boden um ihn aufgraben und düngen; vielleicht bringt er doch noch Frucht.“ (Lk 13,8f)
Gleich verstehen wir: Früchte kann man nicht einfach „machen“. Frucht wächst, erwächst in einem organischen Prozess, der die Geduld des Gärtners braucht. In einem Prozess, in dem das Beste, das Je-Eigene, das tief in den Wurzeln angelegte Wesen zur Reife und zum Tragen kommen soll. Dabei muss, gerade auch der „Kindergärtnerin“[1] und dem Lehrer, klar sein, dass ein Apfelbaum keine Pfirsiche bringen kann. „Schmecken“ aber sollen die Früchte, etliche Menschen sollen sich vom Besten der betreffenden Pflanze nähren können und sollen so etwas wie Genuss haben beim Verzehr. Egoismus und Altruismus, Selbstfindung und Achtsamkeit für den anderen sind im Bild Jesu von der Frucht jedenfalls miteinander versöhnt und keine Gegen-Sätze mehr.
Nun erzählt Jesus – im heutigen Predigttext ein Gleichnis, um diesen Sinn des Lebens, dass es und wie es Frucht bringe, zu erläutern. Dabei setzt Jesus voraus, dass es das Wort Gottes ist, das dem Menschen zu einem sinnerfüllten Leben verhilft. Hören wir das Gleichnis, besser: schauen wir uns die Folge seiner Bilder an und fügen jeweils gleich die Deutungsimpulse hinzu, die uns das Evangelium selbst an die Hand gibt[2]:
Hört zu! Siehe, es ging ein Sämann aus zu säen. Und es begab sich, indem er säte, dass einiges auf den Weg fiel; da kamen die Vögel und fraßen’ s auf. (4,3)
Und Jesus erklärt: Das aber sind die auf dem Wege: wenn das Wort gesät wird und sie es gehört haben, kommt sogleich der Satan und nimmt das Wort weg, das in sie gesät war. (4,15)
Martin Luther hat einmal gesagt, dass das Wort Gottes auf seinem Weg durch die Welt einem armen Windlicht gliche, das der Teufel um jeden Preis ausblasen möchte. Ihn, die Macht des Bösen, sieht Jesus am Werk, wo das Wort Gottes wirkungslos verpufft, wo es auf keine Empfänglichkeit seitens eines Menschen trifft. Wo das Wort Gottes, sei es die Sprache der Schöpfung, seien es die Worte der Propheten, sei es das Evangelium Jesu – wo das Wort Gottes einfach nur abgleitet, abprallt an kaltem Menschenherz, da treibt eine unheimliche, undurchschaubare Macht ihr Spiel. Eine Macht, die wir weder durch ethische oder missionarische Appelle besiegen noch durch psychologische Analysen auch nur verstehen können. Sie sind einfach eine Realität – die steinharten, religiös nicht ansprechbaren Herzen.
Einiges fiel auf felsigen Boden, wo es nicht viel Erde hatte, und ging alsbald auf, weil es keine tiefe Erde hatte. Als nun die Sonne hochstieg, verbrannte es, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. (4,5f)
(Und Jesus erklärt): So auch die, bei denen auf felsigen Boden gesät ist: wenn sie das Wort gehört haben, nehmen sie es sogleich mit Freuden auf, aber sie haben keine Wurzel in sich, sondern sind wetterwendisch (oder: sind Augenblicksmenschen); wenn sich Bedrängnis oder Verfolgung um des Wortes willen erhebt, so fallen sie sogleich ab (oder: um). (4,16f)
Zu Jesu Zeiten waren es jene Charaktere, die mit seiner Sache wohl geliebäugelt hatten. Aber dann hatten sie rasch wieder Abstand genommen, als sie das erfuhren, was die Bibel „Verfolgung“ nennt, was
wir heute mit Begriffen wie religiöse Intoleranz, Mobbing, Ausgrenzung umschreiben. Was aber auch bedeutete: die Feindseligkeit Andersgläubiger und den Druck der römischen Obrigkeit zu spüren. Mehr noch: die Verweigerung des Ave Caesar konnte das Leben kosten. Wenn’s schwer oder auch nur mühsam wird, knicken sie ein oder laufen sie davon, scheint Jesus traurig festzustellen.
Beziehen wir Jesu Worte jetzt unwillkürlich auf verfolgte christliche Gemeinden in Syrien und im Irak und weiteren asiatischen und afrikanischen Ländern? Ich will mir die Anmaßung eines solchen Gedankens nicht erlauben. Ich glaube, dass unser Herr diesen unseren tapferen Schwestern und Brüdern etwas anderes ins Herz gibt: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! … Ich bin bei euch!“ Geflohen sind sie ja nicht aus ihrem Glauben, sondern aus unsäglichem Leiden und Todesschrecken. Uns, die wir eine Heimat haben – wird Jesus uns in der letzten Klärung aller Dinge einmal sagen: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“? Das ist hier die Frage.
Die Frage, die Jesus mit dem Gleichnis vom „viererlei Acker“ an uns stellt, trifft mich so: Wie fest sind sie denn verwurzelt – unsere christlichen Glaubensüberzeugungen? So wir sie denn haben – wie schnell geben wir sie doch oft preis, wo sie auf die vermeintlichen Sachzwänge prallen! Wie schnell ergeben wir uns in die Verhältnisse, wie sie nun mal sind! Wie passen wir uns in aller Regel an das, was und wie es die anderen tun! Die Wetterwendischen, die Augenblicksmenschen, die Jesus ins Visier nimmt – über die Zeiten sind das die Opportunisten ohne Rückgrat, die Oberflächlichen, deren Begeisterung wie Strohfeuer ist. Sie haben keinen festen Stand und keine Beständigkeit. Sie sind es, die beim ersten Widerstand den Bettel hinschmeißen, die Stelle kündigen, die Scheidung wollen.
Und einiges fiel unter die Dornen, und die Dornen wuchsen empor und erstickten ’s, und es brachte keine Frucht. (4,7)
(Und Jesus erklärt): Und andere sind die, bei denen unter die Dornen gesät ist: die hören das Wort, und die Sorgen der Welt und der betrügerische Reichtum und die Gier nach allem anderen dringen ein und ersticken das Wort, und es bleibt ohne Frucht. (4,18f)
So aktuell ist Jesus: Diese Wörter reichen, ohne dass wir sie nochmals übersetzen müssen, direkt in unsere Welt. Sich in der Welt behaupten zu müssen und womöglich ein Plätzchen an der Sonne ergattern zu wollen, absorbiert die Kräfte oft völlig. Um sich ja in der Erfolgspur zu halten, um in Machtpositionen und ans Geld zu kommen, verlieren viele Menschen aus den Augen, was sie in tieferem Sinn glücklich und zufrieden machen würde. Da ersticken dann handwerkliche, künstlerische und musische Fähigkeiten, die Kräfte der Liebe und des Mitfühlens – sie alle könnten wir aus uns selber schöpfen, denn sie liegen in unserer Tiefe, und für ihre „Umsetzung“ braucht es wenig Geld. Horchen wir tief in uns hinein – sie weinen, wollen „heraus“, wollen gelebt werden. Und genau diese Bedürfnisse setzt Gottes Wort ins Recht, bestärkt sie, ermutigt sie.
Verfallen Menschen dagegen der Gier nach materiellem Reichtum, so schwindet das Gespür für die soziale Gerechtigkeit, für die Bedürfnisse der Armen. Auch der Drang nach permanent zu steigerndem Sex und der Hang, so viel als möglich „Freuden“ aus der Spaß-Gesellschaft für sich herauszupressen[3], lässt die Ehrfurcht vor dem Schöpfer und dem Leben der anderen sterben.
Wenn wir auf Teufel komm raus immer nur Spaß haben wollen und wenn dieser Spaß dann immer noch größer und grober werden muss, um noch Spaß zu machen, dann verlieren wir eine bestimmte Feinfühligkeit. Eine Feinfühligkeit, die Freude und Glück aus den scheinbar kleinen Geschichten des Lebens zöge, welche die Liebe schreibt. Uns schrumpft dann jene Achtsamkeit für das Leben der anderen, von der heute mit Recht viel gesprochen wird.
Und einiges fiel auf gutes Land, ging auf und wuchs und brachte Frucht, und einiges trug dreißigfach und einiges sechzigfach und einiges hundertfach. (4,8)
(Und Jesus erklärt:) Diese aber sind’s, bei denen auf guten Boden gesät ist: die hören das Wort und nehmen ’s an und bringen Frucht, einige dreißigfach und einige sechzigfach und einige hundertfach. (4,20)
Samenkörner wurden gefressen, zarte Pflänzlein verdorrten, erstickten – und doch – Jesus schließt optimistisch mit dem Blick auf die vielen Menschen, bei denen das Wort Gottes auf fruchtbaren Boden fällt. Er schließt mit der Freude über die Sensiblen und Empfänglichen, bei denen seine Botschaft und seine Lehre im besten Sinn gefruchtet haben. Deren Leben dank dem Wort Gottes ein mit Sinn erfülltes Leben ist. Jesus schätzt ihre Standhaftigkeit, in der sie dran bleiben, ihre Beharrlichkeit, in der sie es mit Glaube, Liebe und Hoffnung versuchen. So wird Frucht. Überschwänglich klingt es: Frucht dreißigfach, sechzigfach, hundertfach!
Aber um es uns nun nicht zu einfach zu machen: Gerade die Freude an der großen Zahl, die Begeisterung über die hohe Quantität einer Lebensernte kann auch verdrießlich stimmen. So merkt der immer wieder gern gehörte Theologe Fulbert Steffensky an: „Eine entmutigende Aussicht für den kleinen Menschen, wenn nur solche Erträge gelten!“ Und wendet sich mit einer fein seelsorgerlichen Ausführung jenem Gärtner in einem anderen Gleichnis Jesu zu, der mit großer Geduld sich um den Feigenbaum bemüht:
„Gib ihm eine Chance! Ich will ihn düngen, vielleicht bringt er doch noch Frucht. Es ist das hoffende Vielleicht der Liebe. Sie ist geduldig und mit der Axt nicht so schnell dabei … Je älter man wird und wenn man weiß, wie bescheiden die Früchte des eigenen Lebens sind, umso mehr dürstet man nach der Fürsprache des geduldigen Gärtners. Man braucht den Gärtnergott, der die Geduld und seine Sanftmut nicht verliert. Man kommt mit dem Früchte suchenden Herrengott nicht aus.“
Und damit kommen wir zu Jesus zurück und seiner Rolle im Plan Gottes mit uns! Jesus ist ja nicht nur der, der das Wort Gottes ausgesät hat in die Welt und der es, wenn wir wollen, immer wieder aussät. Er ist doch wohl auch der Gärtner in dem anderen Gleichnis. Er tritt bei Gott für den ‚Feigenbaum‘ ein, für Sie und für mich, er bittet den Schöpfer des Lebens um Geduld, dass Zeit Er uns lasse. Und er begleitet unser Wachstum zur Frucht hin, hilft uns bei fälligen Entwicklungsschritten – nicht zuletzt durch seine Bilder und Gleichnisse, dem Leben abgelauscht und zielführend.
So betrachtet, ist leise Vorfreude auf die Ernte dem Christenmenschen dann doch wohl möglich!
Amen.
[1] Schade, dass diese Berufsbezeichnung heute nicht mehr in aller Munde ist.
[2] Übersetzung des Textes aus Mk 4: LÜ mit wenigen kleinen Abänderungen.
[3] „Viel Spaß beim Genießen“, ruft mir die Verkäuferin im Selbstbedienungs-Cafe nach, als ich meine Tasse Kaffee zum Tischchen trage.