Predigt zu Matthäus 21, 28-32 von Hanna Hartmann
21,28
Liebe Gemeinde!
Kinder gleicher Eltern können doch sehr ungleiche Kinder sein. Nicht nur im Aussehen, sondern auch in ihrer Art, in ihren Vorlieben und ihren Reaktionen. Nicht selten wundern sich sogar die Eltern, schütteln den Kopf oder staunen darüber. Die Sache mit den ungleichen Kindern ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Davon erzählen die Geschichten von Kain und Abel, von Esau und Jakob, von Maria und Marta. Und Sie könnten wahrscheinlich noch manche beobachtete oder selbst erlebte Geschichte von heute hinzufügen.
Von zwei ungleichen Söhnen handelt auch unser heutiger Bibelabschnitt für die Predigt, einem Ja-Sager und einem Nein-Sager. Es ist ein Gleichnis, das Jesus im Tempel im Zusammenhang mit einem Disput erzählt. Hören wir zunächst die Geschichte aus Mt 21:
Was meint ihr aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn und er ging hin.
Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr! und ging nicht hin.
Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan? Sie antworteten: Der erste.
Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr's saht, seid ihr dennoch nicht umgekehrt, sodass ihr ihm dann auch geglaubt hättet.   Mt 21,28-32
Was war geschehen? Warum so heftig?, so möchte man Jesus fragen. Nun, wie bereits angedeutet, war Jesus im Tempel in Jerusalem. Er hatte gelehrt und die Schrift ausgelegt, als die Tempeloberen zu ihm kamen und ihn nach seiner Legitimation fragten: Aus wessen Vollmacht, aus welcher Kraft, tust du das? Und – wie es in einem rabbinischen Disput nicht unüblich war – antwortete Jesus mit einer Gegenfrage: Sagt mir zuerst: Johannes und seine Taufe am Jordan – waren sie göttlichen oder menschlichen Ursprungs?  Bei den Menschen damals „klingelte“ es sofort: Den Jordan hatte das Volk Israel damals überqueren müssen, um einen Neuanfang im verheißenen Land machen zu können. Und dann, das war noch gar nicht so lange her, da waren die Menschen in Scharen hinausgepilgert zu diesem Johannes. Was er sagte, ging den Menschen unter die Haut. Sie wollten nicht weitermachen wie vorher; sie wollten sich ändern, neue Menschen werden. Als Zeichen dafür tauchten sie ein ins Wasser des Jordan und ließen sich taufen, um alles Böse, Schlechte und Ungerechte des alten Lebens abzuwaschen.
Jordan – das bedeutete Umkehr und Neuanfang, Übergang in etwas Neues. So hatte Johannes und das Wasser des Jordan also für viele Menschen eine sehr hohe – auch symbolische – Bedeutung.
Den Tempeloberen war das sehr wohl bewusst. Hätten sie es aber zugegeben, hätte dies auch für sie selbst vielleicht Umkehr und Veränderung geheißen – zumindest darüber nachzudenken…. Andererseits wollten sie es aber auch nicht mit dem denen verderben, die diese Umkehr erlebt hatten und Johannes sehr verehrten. Schlussendlich versuchten sie sich aus der Affäre zu ziehen: Wir wissen es nicht!  Ein Grund für Jesus, ihnen auch seine Antwort schuldig zu bleiben.
Ich finde es spannend zu sehen, mit welcher Direktheit und Stringenz hier – wie im jüdischen Kontext überhaupt – über religiöse Fragen gesprochen und auch gestritten wird. Unsere christlichen, oft allzu harmoniebedürftigen Gemeinden, könnten sich da gut und gern eine Scheibe davon abschneiden. Nicht um des Streites willen, sondern als Ausdruck gemeinsamer und ernsthafter Suche nach dem Guten und Wahren.
Anstelle einer direkten Antwort erzählt Jesus nun die Geschichte von dem Vater und seinen beiden Söhnen, zu denen er geht, um sie um etwas zu bitten. Für unsere Ohren nichts Besonderes; für damalige schon. Nach orientalischer Sitte wäre er nicht zu ihnen hingegangen, sondern hätte sie zu sich rufen lassen. Sie hätten zu ihm kommen müssen, nicht er zu ihnen.  Dieser Vater fällt also von Anfang an aus der Rolle; er kann kein Patriarch sein. Er gleicht eher einem Bittsteller. Vielen, ja den meisten heutigen Eltern etwas wohl Vertrautes, wenn sie ihre Kinder um Mithilfe oder um einen Gefallen bitten. Und wohl ebenso vertraut die Reaktionen von Ja, gern! bis Nein, nie und nimmer! und alles dazwischen: vielleicht; morgen; mal sehn; keine Lust, oder gar frech: mach’s doch selber! Und selbst ein gesagtes Ja muss noch lange nicht bedeuten, dass es zu einem getanen wird, wie auch umgekehrt. So wie bei den beiden Söhnen im Gleichnis. Der eine scheint von widerspenstiger, wenig gefälliger Art zu sein. Harsch lässt er seinen Vater abblitzen: Nein, ich will nicht! – um es sich dann doch anders zu überlegen. Die Antwort des anderen lässt einen ganz anderen Typus Mensch vermuten: Ja, Herr! – was für ein freundlicher, zuvorkommender Sohn! Oder eher einer, der sich nicht gerne anlegt und den Konflikt scheut? Oder einer, der gutwillig ist, sich aber mit der Umsetzung seines guten Willens schwer tut...? Wir wissen es nicht. Erzählt wird nur, dass der eine Nein sagt, um dann Ja zu tun; und der andere sagt Ja und tut Nein.
Es ist interessant, diese Geschichte einmal sorgfältig in unterschiedlichen Übersetzungen zu lesen. Denn da variiert die Reihenfolge von Ja- und Nein-Sager. Einmal wird zuerst der Nein-Sager erwähnt, wie oben gehört, ein andermal zuerst der Ja-Sager. Ein Blick in den griechischen Grundtext zeigt auch, warum. Das Gleichnis ist schlicht nicht einheitlich und eindeutig überliefert. Entsprechend unterschiedlich wird das Gleichnis auch gedeutet: mal eher als Ermutigung, mal eher als Warnung. Beidem ist etwas abzugewinnen.
Doch zurück zum bittenden Vater mit seinen zwei Söhnen. Einfach sind sie in ihrer je eigenen Art beide nicht. Sie sind eben so, wie sie sind, wie im richtigen Leben auch... Aber darum scheint es Jesus auch gar nicht zu gehen. Worum es ihm geht, ist das TUN: Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan? Was meint ihr? Sie antworteten: Der erste.
Ums TUN geht es Jesus immer und immer wieder. Ein JA allein, und wenn es noch so freundlich, entschlossen oder wortreich daherkommt, reicht nicht. Die eigentliche Entscheidung fällt beim Tun. Da steht Jesus in guter jüdischer Tradition. Und auch viel später wird einmal Goethe seinen Faust sagen lassen: „Der Worte sind genug gewechselt, lasstmich auch endlich Taten sehn!“
Was den Neinsager letztlich zum Tun bewegt hat, wissen wir nicht. Es scheint Jesus auch nicht wichtig zu sein. Wichtig ist ihm, dass er sich dahin bewegt hat. Einmal gefällte Entscheidungen sind korrigierbar und lassen sich ändern, wenn sie als falsch erkannt werden. Umkehr ist möglich.
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ein Bekannter von mir immer gern und anschaulich erzählt: Da fährt ein älterer Mann in einem Zug. Bei jedem Bahnhof, den der Zug erreicht, stöhnt und jammert er mehr. Irgendwann fragt ihn einer der Mitreisenden, was er denn hätte. Er antwortet: „Ich sitze im falschen Zug und mit jedem Bahnhof komme ich weiter weg von dem Ort, wo ich eigentlich hin will.“ – „Aber warum steigen Sie dann nicht aus?“, fragt der andere. „Das geht nicht; ich habe doch so viel Geld für die Fahrkarte bezahlt.“
Doch, das geht! Aussteigen und umkehren, das geht! Es geht im persönlichen Leben. Davon kann jeder erzählen, der schon einmal aus einer krummen Sache oder aus einer unheilvollen Beziehung ausgestiegen ist. Und es geht auch im Großen. Man denke nur an die weitreichende Entscheidung Japans, aus der für ein Erdbebengebiet in höchstem Maße unangemessenen Atomenergie auszusteigen. Es ist eine späte Entscheidung, aber eine gute Entscheidung, auch wenn sie die Kernschmelze in Fukushima nicht ungeschehen machen kann, das nicht. Aber falsche und lebensfeindliche Entscheidungen sind korrigierbar. Dies gilt es zu nutzen.
Manchmal muss erst eine Katastrophe geschehen, bevor sich etwas oder jemand bewegt. Manchmal muss einer sein Ansehen und seine Reputation verlieren, bevor ihm dieser Schritt der Umkehr möglich ist. Jesus sagt es klar und drastisch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr! 
Sie, die sozial und menschlich Verachteten, sie sind in vielem sensibler, offener und bereiter für das, was gerecht und zu tun angesagt ist, als die, die sich eingerichtet haben im Leben.
Was für mich am Ende bleibt, ist der bittende Vater. Er geht zu seinen Kindern und macht keinen Unterschied. Lässt sich auch von Vorerfahrungen nicht abhalten. Er kommt und bittet und hofft, dass er offene Ohren und bereitwillige Hände findet. Bleibt zu sehen, welchem der beiden Söhne wir dann gleichen. Vielleicht auch dem Kind, von dem hier bisher noch gar nichts erzählt wurde? Dieses antwortete, als der Vater es bat in den Weinberg zu gehen: „Ja.“ Und ging hin und tat wie ihm geheißen war. Vielleicht war das auch eine Tochter, wer weiß…?
Amen
Perikope
04.09.2011
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