Predigt zu Matthäus 5,1-10 von Dieter Splinter
5,1-10

Predigt zu Matthäus 5,1-10 von Dieter Splinter

1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
 
I.

Liebe Gemeinde!

Die Gegenwart zählt. Jesus sagt: „Selig sind...“. Er könnte auch sagen: „Selig werden sein...“. Doch er tut das nicht. Er preist die selig, die vor Gott arm sind. Er preist die selig, die Leid tragen. Er preist die Sanftmütigen selig – und die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit und um ihretwillen verfolgt werden. Er preist die selig, die barmherzig, reinen Herzens und friedfertig sind.

Wohl gibt es Folgesätze, die die Zukunft in den Blick nehmen: Denen, die vor Gott arm sind und um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, gehört das Himmelreich. Die Leidtragenden sollen getröstet werden. Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen. Die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit sollen satt werden. Die reinen Herzens sind, werden Gott schauen. Und die Friedfertigen, die, die Frieden stiften, werden Gottes Kinder heißen.

Ein Gegensatz tut sich auf. Er besteht zwischen dem „Schon“ und dem „Noch nicht“. Schon sind etwa die selig, die Leid tragen – aber sie werden erst noch getröstet werden. Schon sind etwa die selig, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, aber sie werden erst noch satt werden.

Der Gegensatz zwischen dem „Schon selig“ aber „es ist noch nicht vollendet“ wird ganz klar, wenn man sich deutlich macht, was das Wort „selig“ meint.  Es bedeutet Glück, Segen und Heil in Fülle zu haben.  Wer all das hat, ist „glückselig“. Wie aber kann man etwa jemanden, der leidet, „glücklich“ oder gar „glückselig“ preisen? Wie soll man dann umgehen mit dem Gegensatz zwischen dem „Selig sind...“ und dem „Noch nicht“ des von Jesu verheißenen zukünftigen Zustandes?

II.

Morgen begehen unsere katholischen Schwestern und Brüder Allerheiligen. Sie erinnern damit an jene, die ein besonders gottesfürchtiges Leben gelebt und sich so vor Gott (etwa durch ihr Martyrium) besondere Verdienste erworben haben. Große Bedeutung haben dabei die beiden Verse gewonnen, die Matthäus nach den ursprünglichen Seligpreisungen als Worte Jesu überliefert: „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden.“

An Allerheiligen werden morgen in den Gottesdiensten der katholischen Kirche als Evangeliumslesung die Seligpreisungen Jesu gelesen werden. Das war schon zu Luthers Zeiten und davor so. Mit der Lesung der Seligpreisungen in den katholischen Gottesdiensten an Allerheiligen wird gesagt: Im Himmel wird der Gegensatz von „Schon“ und „Noch nicht“ aufgehoben sein. Das wird daran deutlich, dass der Papst jemanden, der sich besondere Verdienste vor Gott erworben hat, zuerst selig und dann heilig sprechen kann. Wir stehen alle gleichsam am Fuß einer Leiter. Die, die selig und heilig gesprochen worden sind, haben die Leiter schon erklommen. Sie sind schon im Himmel angekommen. Dort sind sie für uns, nach katholischem Verständnis, Fürsprecher und Vorbilder. Wir können es ihnen nachtun. Wenn wir etwa barmherzig sind, sind wir und werden wir erst recht im Himmel selig, weil wir dort Barmherzigkeit erlangen werden. Wenn wir friedfertig sind, sind wir selig – und werden erst recht im Himmel Gottes Kinder heißen.

Die katholische Lösung des Gegensatzes des „Schon“ und „Noch nicht“ besteht also darin, dass sie im Himmel endgültig aufgehoben werden. Wir gewinnen daran Anteil, wenn wir uns hier auf Erden entsprechend verhalten.

III.

Atheisten gehen mit diesem Gegensatz noch ganz anders um. Da es für sie keinen Gott gibt, erwarten sie alles vom Menschen. Er soll und muss selber dafür sorgen, dass er nach seiner Facon selig wird. Und da es für Atheisten keinen Himmel gibt, muss der Trost im Hier und Jetzt geschehen. Vertröstungen darf es nicht geben.  Nicht der Sanftmütige besitzt das Erdreich, sondern der, der sein Schicksal selber in die Hand nimmt. Er muss selber dafür sorgen, dass er kein Leid zu tragen hat, dann braucht er auch nicht getröstet werden und ist so selig. Und wenn es Gerechtigkeit gibt, für die der Mensch selber gesorgt hat, braucht er auch nicht mehr nach ihr zu hungern und zu dürsten – und ist so selig!

IV.

Gibt es eine protestantische Antwort auf den Gegensatz von „Schon selig“ und der noch ausstehenden Vollendung? Ja, es gibt sie! Man bekommt sie, indem man allein auf die Heilige Schrift achtet. Diese Antwort findet sich heute in den Seligpreisungen. Sie besteht zunächst in einem schlichten Satz: Die Gegenwart zählt! Genauer: Die Gegenwart vor Gott zählt! Dabei kommt es auf das Miteinander von Glauben und Handeln an.

Gerade an den Seligpreisungen wird dieses enge Miteinander von Glauben und Handeln deutlich. Es sind insgesamt acht Seligpreisungen. Die ersten vier beziehen sich auf den Glauben, die zweiten vier auf das Handeln. Bei jenen, die sich auf den Glauben beziehen, ist vor allem die erste bedeutsam: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.“

Am Ende seines Lebens hat das Martin Luther für sich so übersetzt: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Was das für ihn bedeutet hat, habe ich in einer Auslegung zur Bergpredigt gefunden. Manches davon trifft vermutlich auch auf uns selber zu: „Mit leeren Händen stehe ich da, ganz unten, am Fuß der  Leiter. Unfrieden gestiftet, Fehler gemacht, …. Sanftmut, Barmherzigkeit waren nicht gerade meine Stärke. Ein reines Herz? Manchmal musste ich mit dem Tintenfass werfen, um den Teufel daraus zu vertreiben... Alles, was dennoch gelang, war Geschenk.“[1]

Auch die Großen im Glauben sind nicht ohne Fehl und Tadel.  Durch sein Handeln sichert man sich keinen Platz im Himmel. Das Urteil bleibt Gott überlassen. Auf dem Weg dorthin lässt Gott uns aber nicht allein. Vielmehr versorgt er uns mit Mut, Vertrauen und Zuversicht. Um noch einmal die bereits erwähnte Auslegung zur Bergpredigt zu zitieren:

„Nein – wir steigen nicht auf die Leiter. Aber er steigt herab und erzählt uns vom gelingenden Leben. Setzt die Bilder in Umlauf, malt sie bunt aus mit seinen Geschichten, führt sie uns vor … Und steht mit seinem Leben dafür ein als es ans Bezahlen geht. Als sie kommen und fordern: Nun zeige uns doch, was deine Bilder, deine Geschichten in Wahrheit wert sind!

Seitdem machen die Bilder gelingenden Lebens unter uns die Runde, zusammen mit den Geschichten, die ihnen Form und Farbe verleihen, entzünden immer wieder neu die Feuer göttlicher Liebe in unserer Mitte, die Feuer der Barmherzigkeit, der Sanftmut, der Friedfertigkeit, der Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach himmlischem Trost, nach Reinheit der Herzen.“[2]

V.

Hören wir auf die Bibel, machen Bilder gelingenden Lebens unter uns die Runde. Sehen und hören wir gegenwärtig auf die Nachrichten, machen ganz andere Bilder auf sich aufmerksam. Viele Menschen sind auf der Flucht. Vielen, besonders jenen, die aus Syrien geflohen sind, stehen Not und Elend ins Gesicht geschrieben. Sie tragen großes Leid. Unter jenen, die zu uns kommen, werden Sanftmütige sein – und weniger Sanftmütige, Friedfertige und weniger Friedfertige. Sicherlich hungern und dürsten viele, die zu uns kommen,  nach mehr Gerechtigkeit. In ihrem Heimat ist sie ihnen abhanden gekommen, weil bei dem gottlosen Versuch, den Himmel auf Erden zu schaffen, die Hölle auf Erden herausgekommen ist.

Was ist zu tun? Vor Gott kommt es auf das Miteinander von Glauben und Handeln an. Dabei zählt die Gegenwart. „Selig sind...“ Jesus eröffnet die Bilder gelingenden Lebens gerade für jene, die in unseligen Zuständen leben.  „Als er aber das Volk sah...“. So benennt Matthäus die ersten Adressaten der Bergpredigt Jesu. Unter ihnen befinden sich sicherlich solche, die bisher wenig oder kaum etwas von Jesus gehört haben – und von weither gekommen sind. Unter seinen Zuhörern sind aber auch seine Jünger. Also jene, die sich zu ihm halten und an ihm aus - und aufrichten. Sie wissen, was es heißt, barmherzig zu sein. Später aber, bei der Speisung der Fünftausend, wissen sie nicht, wie sie mit der Menschenmasse umgehen sollen.  Beiden – dem Volk und den Jüngern Jesu – gelten gleichermaßen die Worte Jesu. Sie ermutigen zu einem gelingenden Leben - und könnten kaum aktueller sein:

3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Amen.
 


[1]          Karl-Heinrich Bieritz: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2002/2003, Perikopenreihe I – Zweiter Halbband, hrsg. von Volker Drehsen et al., Stuttgart 2001, S. 210

[2]   A.a.O.,  S. 209f