Liebe Schwestern und Brüder!
1.
Diese Predigt muss ich mit einem Eingeständnis beginnen: Bis heute habe ich nicht wirklich verstanden, wieso die Seligpreisungen, wie sie Matthäus in seinem Evangelium bietet, fast 500 Jahre nach der Reformation Evangeliumstext und auch Predigttext zum Reformationsfest sind. Hier werden doch gerade diejenige für „selig“ erklärt, also der besonderen Nähe Gottes versichert, die irdisch gesehen auf der Verlierer-Seite stehen –
„die da Leid tragen“,
„die Sanftmütigen“,
„die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“,
„die Barmherzigen“,
„die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“!
Hätten Menschen solcher Schicksale erfolgreich die Reformation durchsetzen können? Ich denke, nicht. Da bedurfte es bedeutender Schicksalswendungen und Machtwendungen:
Erinnert Ihr Euch noch an den Film „Luther“ aus dem Jahr 2003, in dem Joseph Fiennes Martin Luther verkörperte, Sir Peter Ustinov Kurfürst Friedrich den Weisen und Uwe Ochsenknecht Papst Leo X.?
Eine der Schlussszenen zeigt Luther 1530 auf einer Wiese unterhalb der Veste Coburg, auf die Boten vom Reichstag von Augsburg wartend. Dann kommen diese Boten und berichten vom Ergebnis und dem öffentlichen und lauten Verlesen des Augsburger Bekenntnisses der evangelischen Reichsländer und Stadt-Territorien. Der erste Reiter hält in seiner Hand eine lange Stange, verankert in einer Tasche unterhalb seines Sattels, und an dieser Stange weht das große, bunte Tuch der Staatsfahne des Kurfürstentums Sachsen. Ohne staatlichen Schutz und staatliche Indienstnahme hätte die Reformation irdisch gesehen keine Zukunft gehabt…
Da fällt mir eine Situation aus meiner Zeit als Konfirmand ein. Ich stamme aus Meiningen in Südthüringen und bin dort groß geworden. Einmal habe ich meinen Pfarrer in der Konfirmandenstunde gefragt: „Warum sind die Menschen in Wolfmannshausen [einem kleinen Dorf südlich von Meiningen] mehrheitlich römisch-katholisch geblieben?“ Mein Pfarrer hat geantwortet: „Sie haben sich der Reformation nicht geöffnet.“ Das war natürlich nicht völlig falsch. Aber diese Antwort hat verdeckt, dass es, wenn ich recht informiert bin, handfeste und politische Gründe gab – genauso wie dafür, dass alle Menschen im Herzogtum Sachsen-Meiningen lutherisch waren: Wolfmannshausen gehörte eine lange Zeit zum Bistum Würzburg. Sein Landesherr war der Bischof von Würzburg und Herzog von Franken. Und dessen Untertanen mussten römisch-katholisch sein, wie eben die Untertanen der Meininger Herzöge evangelisch-lutherisch!
2.
Also: Unser Predigttext hält die Anfänge der refomatorischen Bewegungen wach – als noch kaum staatliche Förderung gegriffen hat, als das persönliche Risiko im Vordergrund stand. Diese Gegebenheit können wir gebündelt sehen in der Bekenntnissituation Luthers vor dem Reichstag in Worms am Abend des 18. April 1521. Die entscheidenden Sätze gebe ich nach einer Übersetzung ins Deutsche durch den kurfürstlich-sächsischen Sekretär Georg Spalatin, die heute im Staatsarchiv Weimar liegt:
„Weil denn Euer Kaiserliche Majestät und Gnaden eine schlichte Antwort begehren, so will ich diesermaßen eine unanstößige […] Antwort geben: Es sei denn, dass ich durch das Zeugnis der Schrift überwunden werde, oder aber durch helle Ursachen […] überwunden werde. Ich bin überwunden durch die Schriften, so von mir angeführt werden, und bin gefangen im Gewissen an dem Wort Gottes. Deshalb ich nichts widerrufen kann noch will, weil gegen das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilvoll und gefährlich ist. Gott helfe mir! Amen.“[1]
Diese Situation zeigt einen, der darauf vertraute, dass die „Sanftmütigen“ „selig“ sein und „das Erdreich besitzen“ werden, und zugleich, dass diejenigen, „die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden“, „das Himmelreich“ geschenkt bekommen werden.
Also: Unser Predigttext führt uns in die Spannung, dass wir wünschen, dass die von uns erkannte Wahrheit durchgesetzt werden kann, und dass wir zugleich auf alle äußeren Machtmittel verzichten und „nur“ – was heißt hier: „nur“? – auf die innere Kraft dieser Wahrheit setzen. So, und nur so, können wir der Reformation gedenken!
3.
Liebe Schwestern und Brüder!
Zwei Seligpreisungen greife ich noch besonders auf und versuche, Dimensionen dieser tiefen Wahrheit durchzubuchstabieren:
3.1.
Erst seit der deutschen Einheit habe ich Besuchsreisen nach Israel organisiert und geleitet. Von der DDR aus war das nicht möglich gewesen. Immer, wenn meine Gruppen auf dem „Berg der Seligpreisungen“ über dem See Genezareth waren – das ist ein Erinnerungsort, der aber sicher mit dem tatsächlichen Berg, auf dem Jesus eine Bergpredigt gehalten hat, nichts zu tun hat –, habe ich trotz dieser historischen Unsicherheit die Seligpreisungen verlesen. In einem Jahr bewusst die letzte betont zitiert:
„Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.“
Denn damals war der frühere Thüringer Landesbischof Dr. Ingo Braecklein stark in die Kritik geraten, weil er während seiner Dienstzeit mit einem Vertreter des Ministeriums für Staatssicherheit kontinuierlich Gespräche geführt und über diese nicht berichtet hat. Das muss ich jetzt nicht deuten und bewerten. Interessant war aber, dass er seinen Nachfolger, Werner Leich, in diese Gesprächskontakte eingeführt hat. Werner Leich aber ist fundamental anders mit ihnen umgegangen: Er hat von jedem Gespräch eine Niederschrift angefertigt und diese auf dem normalen Dienstweg in die Sitzung des Landeskirchenrates geschickt. 1996 haben Uwe-Peter Heidingsfeld und Ulrich Schröter diese Gesprächsniederschriften und die entsprechenden Niederschriften des MfS-Mannes ediert und gemeinsam herausgegeben.[2] Ich hatte ihnen zum Beispiel bei einem Detail geholfen: Zweimal gibt es das Kürzel „not. Zw.“[3] Das bedeutete, dass der Verwaltungsdiakon Gerd Zweigle diese Niederschrift in Vorbereitung der Sitzung des Landeskirchenrates in der Hand und den Tagesordnungspunkt notiert hatte – zum Beispiel Anfang September 1981.
Hier haben Bruder Leich und Bruder Zweigle und andere Schwestern und Brüder damals in der Hoffnung gehandelt und sich verhalten, dass ihnen die Selig-Verheißung für „Friedfertige“ nicht vorenthalten werde und sie „Gottes Kinder heißen“ können.
3.2.
Und noch eine Seligpreisung: In meiner Kindheit in Meiningen sind wir häufig auf den Friedhof gegangen. Dort gab es das Grab einer meiner beiden Großmütter, der Mutter meines Vaters, die schon im Oktober 1945 gestorben war, und das Grab einer meiner Urgroßeltern, der Großeltern meiner Mutter, das ich oft als kleiner Junge behackt und begossen habe. Dieser Urgroßvater war Anfang 1908 gestorben, und meine Urgroßmutter hatte auf den Stein in goldenen Buchstaben einmeißeln lassen:
„Selig sind die reines Herzens sind.“
Den zweiten Teil dieser Seligpreisung – „denn sie werden Gott schauen“ – muss man kennen, um ihn ergänzen zu können. Mein Urgroßvater war königlich-preußischer Offizier, zuletzt Oberst, und Adjutant des Meininger Herzogs, übrigens des so berühmten Georg II., der im 19. Jahrhundert eine bedeutende Theaterreform organisiert hatte. Meine Großmutter, die Tochter des in Meiningen Beerdigten, hat einmal erzählt, dass sie 1902 zusammen mit ihren Eltern an der Hochzeit des Bruders ihrer Mutter in Essen teilgenommen und auf dem Weg eine Straße entlang Aggressivität seitens einiger Männer gegen ihren Vater erlebt hat, weil dieser in preußischer Gala-Uniform mit roten Generalsstreifen an der Hose entlang ging, die ihm als Adjutanten eines Reichsfürsten zustanden. – „… die reines Herzens sind“?
Der Bruder meiner Großmutter hat in seiner Familienchronik über seinen Vater geschrieben: „Dank seiner fröhlichen Natur war [er …] ein beliebter Gesellschafter, sein Weinkeller, mit Kennerschaft gepflegt und ergänzt, war einigermaßen bekannt. Umgekehrt, wie in seinem Elternhause, war bei uns der Vater das belebende Element in der Ehe und hat es immer verstanden, die oft ernste und sorgenvolle Mutter mit seinem angeborenen Frohsinn wieder heiter zu stimmen.“[4]
Ob diese Erfahrung für seine Witwe, meine Urgroßmutter, so prägend war, dass sie mit dazu geführt hat, dass sie unsere Seligpreisung ausgewählt hat?
4.
Hier sind wir im Zentrum des Reformationsgedenkens! Jetzt verstehen wir und verstehe ich, warum die Seligpreisungen ein guter Bibeltext zum Reformationsfest sind:
Damit wir – wie meine Urgroßmutter – die tiefe und vielleicht gar nicht so theologisch durchdachte Glaubenshoffnung aufbringen, dass sich uns Gott positiv zuwenden wird, sich uns positiv zuwendet!
Für Euch alle:
„Selig seid Ihr, die Ihr Euch ein reines Herz bewahrt habt, denn Ihr werdet Gott schauen.“
Und auch für mich:
„Selig bist Du, der Du Dir ein reines Herz bewahrt hast, denn Du wirst Gott schauen.“
Amen.
„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“
[1] Vgl.: Die Reformation in Dokumenten, hrg. von Hans Eberhardt und Horst Schlechte, Weimar 1967, S. 30 und 31. Der Text wurde bei Zuhilfenahme von Oskar Thulin: Martin Luther. Sein Leben in Bildern und Zeitdokumenten, Berlin 1963, S. 55, modernisiert. Das Autograph Spalatins scheint auf den ursprünglichen Wortlaut hinzuweisen: Also ohne: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“
[2] Uwe-Peter Heidingsfeld und Ulrich Schröter: „Meister“. Die MfS-Vorlaufakte des Thüringer Landesbischofs Werner Leich im Spiegel seiner Vermerke, idea-Dokumentation 15/96.
[3] A.a.O., S. 169 und 184.
[4] Georg von Kutzleben: Die von Kutzleben, Coburg 1954, S. 77.