Predigt zu Mt 5,3-10 von Christiane Borchers
5,3-10

Liebe Gemeinde!

Die Seligkeit wird den Armen verheißen. Welch große Freude! Der Evangelist Matthäus ergänzt die Verheißung der Selig-preisung an die Armen mit dem Zusatz: Selig sind, die geistlich arm sind. Die geistlich Armen, das sind nicht die, die einen verminderten IQ haben, sondern damit sind wir alle gemeint, da wir im Hinblick auf das Himmelreich arm sind und die Herr-lichkeit Gottes noch nicht schauen. Angesprochen sind damit wir, die hier auf Erden leben und die zukünftige Welt Gottes erst erwarten. Wir sind arm im Vergleich zum Himmelreich. Jesus verheißt es uns. Alle, die um ihn herumstehen, die seine Reden hören wollen, lechzen nach solchen befreienden hoffnungsvollen Worten, denn ihre Welt sieht anders aus. Matthäus verlegt die Rede Jesu auf einen Berg. Es ist kein bestimmter Berg. Er knüpft an die Sinai-Tradition an. Auf dem Sinai redet Mose mit Gott, auf dem Sinai empfängt Mose die 10 Gebote. Auf dem Sinai geschieht die Offenbarung Gottes. So auch hier. Jesus begibt sich auf einen Berg. Jesus tut seinen Mund auf und lehrt. Matthäus lässt Jesus in der Gestalt eines Rabbi auftreten, der seine Schüler lehrt. Ein Rabbi unterrichtet im Sitzen, die Schüler scharen sich um ihn. Auf bildlichen Darstellungen der Bergpredigt wird Jesus zumeist gezeigt, wie er auf der Höhe eines Hügels steht. Viele  Menschen haben sich um ihn versammelt, weitere sind zu ihm auf dem Weg auf der Anhöhe. Ein anziehendes Bild: Jesus lehrt die Menge, in Scharen laufen sie zu ihm, sehnen sich nach Worten der Liebe und des Trostes.

 

Sie ist zu Hause, hat sich auf dem Sofa eingerichtet so gut es geht. Selbst die bequemste Lage verschafft ihr keine rechte Erleichterung. Sie hat multiple Sklerose. Als sie Mitte dreißig war, hat sich diese Krankheit bei ihr herausgestellt. Das ist ein großer Schock gewesen, hat sie und ihre kleine Familie, ihren Mann und ihren Sohn, aus der Bahn geworfen. Sie hat sich über die Krankheit informiert, über den möglichen Verlauf, über die Hilfsmöglichkeiten, sie in Schach zu halten. Heilung für die Krankheit gibt es nicht. Seitdem ist sie in ärztlicher Behandlung. Sie musste ihrem Arbeitgeber Bescheid geben, sie konnte sogar noch jahrelang ihrer Arbeit nachgehen. Sie hat Krankenschwester gelernt und den Beruf mit Leib und Seele ausgeübt. Irgendwann fühlte sie sich nicht mehr sicher in der Medikation. Damit ihr kein Fehler unterlief, vergewisserte sie sich jedes Mal vor der Ausgabe bei ihren Kolleginnen und Kollegen. Das war natürlich kein Dauerzustand. Sie merkte selbst, dass es absehbar war, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte. Sie veranlasste alles Nötige selbst, zog die Konsequenzen, gab ihren Beruf auf. Das war schwer für sie. Nun sitzt sie hier auf dem Sofa im Wohnzimmer. Das ist ihr hauptsächlicher Aufenthaltsort geworden. Der Sohn ist in-zwischen erwachsen, ihr Mann hat fast alle Arbeiten im Haus übernommen. Sie kann nur noch Kleinigkeiten ausführen. Sie blickt durch die Terrassentür in den Garten. Sie und ihr Mann werden hier nicht mehr lange wohnen können. Wer soll die Arbeit übernehmen, das Haus, den Garten pflegen? Sie werden sich verkleinern müssen, sich trennen müssen. Wie lieb ist ihr dieser Blick in den Garten geworden! Die Blumen blühen im Frühling und im Sommer in den prächtigsten Farben. Die Büsche und Bäume, die sie und ihr Mann selbst gepflanzt haben, sind inzwischen ansehnlich groß geworden. Im Sommer ist das üppige Grün eine Wohltat für das Auge, im Herbst erstrahlen Büsche und Bäume in ihrem bunten Kleid. Schön ist es hier, sie wird diesen Blick aufgeben müssen.

 

Sie bekommt Besuch, eine Freundin von früher hat sich angemeldet. Sie freut sich auf sie, hat sie gleich vorgewarnt, dass sie sie nicht so bewirten kann, wie sie es gern möchte. „Das macht doch nichts“, hat die Freundin am Telefon verlauten lassen. „Deswegen komme ich doch nicht. Ich komme, um dich zu sehen und mich mit dir zu unterhalten.“  Die Freundin kommt von hinten über die Terrassentür. Das ist einfacher. Sie klopft an die Scheibe. Mühsam erhebt sich die Frau und öffnet die Tür. Die beiden freuen sich über das gegenseitige Wiedersehen, erzählen von früher. Sie waren ehemalige Nachbarskinder,  sind zusam-men zur Schule gegangen, haben sich angefreundet, hatten sich mehr oder weniger aus den Augen verloren. Die unterschiedlichen Lebenswege hatten sie auseinander geführt; sie hatten sich nur in großen Abständen getroffen. Die beiden Frauen versinken in Erinnerungen „Du konntest immer so schön singen. Du hättest eine Karriere als Opernsängerin anstreben sollen“, schwärmt die Freundin. Die Frau lächelt und erinnert sich: „Der Hauptlehrer war damals sogar mehrfach bei meinen Eltern, um ihnen ans Herz zu legen, dass ich eine Gesangsausbildung machen müsse. Das war bei uns zu Hause natürlich nicht denkbar. Mein Vater war ein einfacher Arbeiter, meine Mutter Hausfrau, die uns sieben Kinder großgezogen hat. Gesang galt als brotlose Kunst. Jetzt singe ich im Chor. Es ist immer ein besonderes Erlebnis, am Heiligen Abend in der Kirche zu singen.“ „Singst du ein Solo?“ „Das habe ich zuerst gemacht, jetzt reicht meine Stimme dafür nicht mehr, die Krankheit hat auch hier ihre Spuren hinterlassen.“ Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu, die Freundin verabschiedet sich.

 

Die Frau bleibt zurück. Es ist still im Haus. Bald kommt ihr Mann von der Arbeit nach Hause. Sie wird ihm erzählen müssen, was der Arzt bei ihrem letzten Besuch gesagt hat. Sie haben bei ihr eine Stelle entdeckt, die entfernt werden muss. Sie hört ein Schlüsselgeräusch an der Tür, ihr Mann kommt von der Arbeit nach Hause. Sein erster Weg führt ihn sofort ins Wohnzimmer zu seiner Frau. Er setzt sich zu ihr aufs Sofa. „Ist dein Besuch schon wieder weg?“ „Ja.“ „War's schön?“ „Ja.“ Schweigen. „Du hast doch etwas?“, fragt der Ehemann. „Ich muss ins Krankenhaus“, gesteht sie, „sie haben bei mir eine Stelle gefunden, die operiert werden muss.“ Sie weint. Ihr Mann nimmt sie in den Arm, streichelt liebevoll über ihren Kopf und ihren Rücken: „Wir haben schon so viel geschafft, das schaffen wir auch noch.“ In gegenseitigem Verstehen klingt der Tag aus.

 

„Selig sind die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“, schreibt Matthäus in den Seligpreisungen. Dürfen wir das glauben? „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Das Erdreich besitzen, das bedeutet genügend Nahrung zu haben, einen Platz und eine Bleibe, wohin ich gehöre. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Ein wunderbarer Gedanke, er ist Trost und Aufgabe zugleich. Der Evangelist Lukas benennt in seiner Feldrede eine Seligpreisung, die Matthäus nicht aufführt: „Selig sind die Weinenden, denn sie werden lachen (Lk 6, 21b).“ Weinende werden bald lachen, weil sich ihr Unheil in Heil verwandeln wird. Vielleicht nicht jetzt und sofort, vielleicht nicht so, dass wir sofort gesund werden, wenn wir krank sind, aber vielleicht indem wir getröstet werden, wenn wir in Not sind, dass uns jemand in den Arm nimmt, wenn wir Trost und Zuwendung brauchen. „Selig sind die, die geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich“, so beginnt Matthäus seine Seligpreisungen. Die erste Seligpreisung ist eine Art Überschrift. Die Menschen, die selig gepriesen werden, benennen Menschen in ihren Nöten, die ganz unterschiedlich sind. Da sind Leidtragende, Hungernde nach Gerechtigkeit, da ist von Menschen die Rede, die um Jesu und um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, die geschmäht und gegen die Lügen verbreitet werden. Die geistlich Armen sind keine anderen als diese Gruppe. Es sind Menschen, die mit schweren Schicksalsschlägen leben müssen, denen Unrecht getan wird, die Vertreibung und Gewalt ausgesetzt sind, die in einer Lage sind, in der ein Mensch eigentlich nicht überlebensfähig ist. Die geistlich Armen sind die Leidtragenden, die Verfolgten, die Hungernden und Dürstenden nach Gerechtigkeit. Manch ein leidtragender Mensch stellt selbst die Frage nach der Gerechtigkeit: Womit habe ich das verdient, das ich so viel Unglück erleben muss. Sie sind geistlich arm, denn das Himmelreich ist fern. Aber auch die werden selig gepriesen, die aufgrund ihrer guten Taten das Himmelreich ein wenig auf Erden aufleuchten lassen: die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die reinen Herzens sind, die Friedensstifter.

 

Jesus redet in der Bergpredigt deutliche Worte. Er nimmt die Lebenswirklichkeit auf, in denen Menschen leben, verstärkt die menschenfreundlichen und Leben stiftenden Taten, lässt Men-schen, die im Unglück sind, nicht allein, tröstet, baut auf.   Jesus nimmt Sehnsüchte, Herzenswünsche und Hoffnung nach einem heilvollen Leben auf, redet nicht klein, was groß ist, macht nicht klein, was schwer wiegt. Jesus wertet Taten der Barmherzigkeit als Früchte des Himmels. Menschen, die Gutes tun, werden ins Himmelreich eingehen. Jesus nimmt Menschen mit ihren Sorgen ernst, kleidet die Sehnsucht nach Heilwerden in Worte, gibt der Hoffnung der Leidtragenden Ausdruck und Zukunft. Die Bergpredigt ist aber auch eine ethische Forderung, Frieden zu halten, Barmherzigkeit zu üben, sich nicht an Verfolgung, Lügen, Schmähungen und Ungerechtigkeit zu beteiligen. Die Seligpreisungen fußen im Judentum. Der hymnische Stil findet sich in Texten aus dem Ersten Testament wieder, z. B. in den Psalmen und in dem Buch der Sprüche wieder. „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder, ..., sondern der Lust hat am Gesetz des Herrn“ (Ps 1,1). „Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln“ (Ps 84,6). „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ (Ps 126,5). „Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, und dem Menschen, der Einsicht gewinnt“ (Spr 3,13).

 

Der ersttestamentliche Hintergrund schimmert bei allen Seligpreisungen durch, ohne dass wörtlich zitiert wird. „Wohl dem Menschen, der dies oder jenes tut“ und „Selig sind, die …“ sind vergleichbare Einleitungsformeln. Es geht darum, nach Gottes lebensstiftenden Geboten zu handeln, Gottes Weisheit, Barmherzigkeit und Frieden sichtbar zu machen. Durch  aufrichtiges, barmherziges und friedensstiftendes Verhalten leuchtet die Güte Gottes selbst. Wenn Gottes Gebote befolgt werden, leuchtet schon jetzt der Himmel in die gegenwärtige Situation. Das Himmelreich wird sichtbar auf Erden. Eine besondere Seligpreisung ist die fünfte: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Diese Seligpreisung steht nicht zufällig zwischen zwei Seligpreisungen, die sich auf das Verhalten gegenüber anderen ausrichten, nämlich barmherzig zu sein und für den Frieden zu arbeiten. Anklänge aus Psalm 24 werden deutlich: „Wer darf auf Gottes Berg gehen und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug..., der wird den Segen Gottes empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils“ (Ps 24,3-5). Gern nimmt Matthäus den Gedanken der Herzensreinheit in seinen Seligpreisungen in der Bergpredigt auf. Herzensreinheit ist eine Geisteshaltung, die aufrichtig handelt und keine bösen Absichten verfolgt. Wahrhaftigkeit im Reden und Tun spiegeln Gottes  Verlässlichkeit, Treue und Güte wider. Gott zu schauen, ist die große Sehnsucht eines frommen Juden, einer frommen Jüdin.  Beim Besuch des Tempels schaut der Fromme Gottes Angesicht. Daraus erwächst in späterer Zeit die Erwartung, dass die Seelen der Gerechten Gott im himmlischen Paradies schauen werden.

 

„Die reinen Herzens sind, werden Gott schauen“ ist die einzige der acht Seligpreisungen, die Gott direkt als Ziel der Verheißung nennt. Die anderen sieben Seligpreisungen sprechen verhüllt von Gott.  Den Seliggepriesenen wird das Himmelreich verheißen, sie werden das Erdreich besitzen, sie sollen satt werden, sie werden Barmherzigkeit erlangen, sie werden Gottes Kinder heißen. Die Schau Gottes, die hier auf Erden dem Menschen verborgen bleibt, wird im künftigen Reich Gottes Wirklichkeit. Im Himmelreich kommt es zur vollen Schau, wie sie jetzt nur Engeln zuteil wird (Mt 18,10). Was wir jetzt glauben, werden wir einst sehen. Der Apostel Paulus schreibt in seinem 1. Korintherbrief: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1.Kor 13,12). 

 

Die Seligpreisungen sind keine billige Vertröstung auf das Jenseits, ihre Erfüllung ereignet sich schon jetzt auf Erden. Wer selig gepriesen wird, der wird die Seligkeit Gottes sehen. Gottes Welt leuchtet in die Menschen Welt hinein, wirft ein helles Licht auf dunklem Weg. Gott sendet Menschen, die helfen und trösten, die Barmherzigkeit üben und Frieden stiften. Selig sind, die die Liebe Gottes in der Welt sichtbar werden lassen.

Amen.

 

EG-Nr. 675,1-4: Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen, dein Reich komme ... (Ev.-ref. Ausgabe)


 

Perikope
31.10.2014
5,3-10