Predigt zu Römer 11,32-36 von Rainer Stahl
11,32-36

Liebe Leserin und lieber Leser!
Liebe Schwestern und Brüder!

Es gibt die Sage um Augustinus von Hippo, nach der er am Meer spazieren gegangen sei und einen Jungen am Strand beobachtet habe, wie dieser versuchte, das Meer mit Hilfe einer Muschel in eine Mulde im Sand des Strandes zu schöpfen. „Aber, das ist doch unmöglich“, meinte Augustinus zu ihm. Worauf der Junge antwortete: „Genauso unmöglich ist es, die Trinität, die Dreieinigkeit Gottes, zu verstehen.“

Als hätte Paulus diese Erkenntnis schon vorweggenommen, schreibt er in unserem Teil seines Briefes an die christliche Gemeinde in Rom nur – aber, was heißt hier: „nur“? – in Sätzen des Staunens, der Feier, der Verherrlichung: „Welch’ Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unnahbar sind seine Zuweisungen, und wie unverstehbar sind seine Wege!“ (Vers 33).

Er kann nicht anders, als Aussagen seiner eigenen Bibel aufzunehmen, aber Aussagen, mit deren Hilfe er nur zum Ausdruck bringen kann, dass wir Menschen – auch die geistlichen Menschen, ja: gerade die geistlichen Menschen – die Distanz zu Gott nicht überbrücken können. Eine dieser Aussagen lautet: „Wer hat den Geist Gottes erfasst? Und welcher Mensch ist in der Lage, ihm Rat zu erteilen?“ – aus Jesaja 40,13.

Und er schließt mit einem Bekenntnis, das Seinesgleichen sucht: „Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm hin ist alles. Ihm ist Ehre in Ewigkeit. Amen!“ (Vers 36).

Nur in einer Hinsicht wäre diese Sprachgewalt noch zu verbessern. Wer immer wieder einmal Luther liest, kann eine interessante Beobachtung machen: Luther verändert an entscheidenden Stellen seine Sprachform. Er wechselt von der Rede über Gott in die Anrede zu Gott hin: 1523 stellte er in einer Predigt zum Petrusbekenntnis fest, dass es ein unzureichendes Verstehen Christi gibt, nämlich das Verstehen als Vorbild:

„Wo also nur Vernunft ist und »Fleisch und Blut«, die können nicht weiter Christum begreifen als allein für einen heiligen, frommen Mann, der von sich ein fein Exempel gebe, dem nachzufolgen sei.“

Und er unterstreicht: „Nun, wer ihn so annimmt, allein für ein Exempel eines guten Lebens, dem ist der Himmel noch verschlossen und er hat Christum noch nicht ergriffen, noch erkannt.“ Eine solche Frau, ein solcher Mann, die Christus als ein Vorbild für ihr Leben nehmen, tun gewiss viel, aber eigentlich haben sie noch gar nichts verstanden.

Deshalb endet Luther mit dem Bekenntnis: „Das andere Verständnis von Christus ist das […]: »nicht einer, der anderen vorangeht. Es ist noch viel höher mit dir: du bist Christus, der heilige Gottessohn«“ – und wechselt dabei in die Anredeform, wie sie Petrus im Gespräch mit Jesus (Matthäus 16,16) natürlich verwendet hat.

Genauso müsste das in unserer Stelle aus dem Römerbrief sein. Paulus sollte nicht etwas über Gott sagen, als könnten wir Menschen uns neben Gott stellen und über ihn scheinbar neutral überprüfbare Aussagen machen. Paulus sollte Gott anreden – dann würden seine Worte Wirklichkeit werden, uns wirklich verändern: „Welch’ Tiefe deines Reichtums und deiner Weisheit und deiner Erkenntnis, o Gott! Wie unnahbar sind deine Zuweisungen, und wie unverstehbar sind deine Wege! [...] Denn aus dir und durch dich und zu dir hin ist alles. Dir ist Ehre in Ewigkeit. Amen!“

Das ist keine Spielerei. Ich bin zutiefst überzeugt, dass alle Aussagen über Gott in der dritten Person eigentlich unangemessen sind. Wenn es stimmt – und ich denke, es stimmt –, dass niemand Gottes Geist erfasst hat und niemand in der Lage ist, ihm Ratschläge zu erteilen, dann müssen wir aufhören, so zu tun, als hätten wir „Gottesgelehrtheit“ und könnten Aussagen über Gott machen wie über einen Versuchsgegenstand. Das können wir nicht! Und weil wir das nicht können, bleibt nur die Möglichkeit, Gott anzureden: ihn groß zu machen – oder ihn mit unseren Zweifeln und Enttäuschungen zu konfrontieren.

Der christliche Glaube an den dreieinen Gott ist nichts anderes, als die Erkenntnis, dass wir das dürfen. Denn der Glaube, dass uns in Jesus Christus Gott entgegentritt, heißt, dass er unseren menschlichen Unzulänglichkeiten nicht fern ist, sondern sich ganz in sie hinein begeben hat. Und der Glaube, dass Gott als Geist in uns wirkt, bedeutet, dass unser Beten – unser Klagen und unser Bitten, unser Loben und unser Danken – Worte finden kann, die bei ihm ankommen, die Gott erreichen, weil sie von Gott selbst bewirkt sind.

Nun wollen wir ein „Trinitatis-Lied“ miteinander singen, auf dessen „Trinitatis-Charakter“ Ihr vielleicht noch nie gekommen seid: die zweite Strophe von „Ein feste Burg ist unser Gott“. Martin Luther hat gedichtet:

„Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren
es streit’ für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.“

Habt Ihr Euch die Unlogik und zugleich theologische Richtigkeit dieser Zeilen schon einmal vergegenwärtigt?

Zuerst: Der „rechte Mann“, von „Gott selbst erkoren“ – also einer aus uns Menschen, den Gott für sein Vorhaben ausgewählt und in Dienst genommen hat.

Dann aber derselbe: Der „Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott“ – also Gott selbst, kein Mensch!

Jesus aus Nazareth, der Christus, und Gott ganz eng zusammengerückt, so dass kein Blatt Papier zwischen sie passt, ja: sie in eins gesetzt! Das ist zu erkennen, besser: zu ahnen und zu glauben. Das ist das Wesen des Christlichen!

Ihr werdet fragen: Aber, wo ist der Geist, die dritte Person Gottes, der Trinität, die wir heute doch auch bekennen und feiern? Dieser Geist ist genau dabei. Denn ohne ihn könnten wir diese tiefe Wahrheit nicht erkennen, besser: nicht ahnen, nicht glauben. Den Geist dürfen wir nicht als weitere Gestalt dazu malen, sondern der Geist ist die Kraft, die überhaupt zu diesen Glaubenseinsichten verhilft. Und die entscheidende Glaubenseinsicht, zu der er verhilft, ist die Einsicht darin, dass uns in Christus Gott entgegentritt, dass Christus das „Bild Gottes“ ist!

Je älter ich werde, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass wir uns Gott weder vorstellen noch ihn uns malen können. Alle Bilder unseres Denkens und alle Bilder unserer Maltraditionen, die ihn als menschengestaltige Person ins Bild setzen, als „alten Mann“ darstellen, sind falsch. Hier gilt ungebrochen das Zweite Gebot, das wir leider meisthin vergessen haben, weil es Luther entsprechend der alten kirchlichen Tradition bei den Zehn Geboten im Katechismus übergangen hat. Deshalb bringe ich es bewusst entsprechend der Übersetzung des biblischen Textes durch Luther selbst jetzt zu Gehör:

„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. [...] Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott“ – so in 2. Mose 20 und in 5. Mose 5.

Wenn wir ein Bild von Gott haben wollen, dann können wir das nur auf einem Wege bekommen: Wir müssen Christinnen und Christen werden. Denn, wenn wir das werden, lehrt uns der Geist, dass dieser Jesus aus Nazareth der Christus und das heißt, das einzige Bild Gott ist. An ihn haben wir uns zu halten: „Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott.“

Amen.

„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“

Predigtlied: EG 362,2.

Literaturhinweis:

Martin Luther: Sermon von der Gewalt Sankt Peters, 29.6.1522, WA 10, III, 208ff.

Perikope
22.05.2016
11,32-36