Liebe Gemeinde am ersten Tag des Neuen Jahres!
Wie sind Sie ins Neue Jahr gekommen? Sekt oder Selters, laut oder leise, Fernseher oder Freundeskreis? Die Mentalitäten und Bedürfnisse zum Jahreswechsel sind ja ganz unterschiedlich. Die einen möchten mit Paukenschlag und Raketendonner das letzte Jahr verabschieden, die anderen brauchen Ruhe, um vielleicht am Ende des Jahres doch noch ihren Frieden zu finden, Frieden mit einem Jahr, das oft friedlos und für manch einen auch freudlos daher kam. Brauchen Sie die strahlend bunten Raketen am Nachthimmel, die überschäumen vor Freude über ein neues Jahr – 2015? Oder ist die Freude eher verhalten bei Ihnen, weil alle Zukunft grau und trübe ist und jeder der 365 Tage noch farblos daher kommt? Haben Sie um 0.00 Uhr gleich ihre erste SMS im neuen Jahr verschickt? „Alles Gute für Euch im Neuen Jahr! Ich hoffe, wir sehen uns …!“ Oder vielleicht waren Sie gleich bei den Nachbarn! „Ein frohes Neues Jahr!“ Und dann wurde angestoßen auf das Jahr 2015. Gute Wünsche. Herzliche Umarmungen. Vertraute Menschen – wir sind gemeinsam unterwegs als Wanderer durch die Zeit … Oder haben Sie doch versucht zu schlafen? Um 22.00 Uhr ist es Zeit fürs Bett. Es ist ja doch eine Nacht wie jede andere. Und mit dem neuen Tag und dem neuen Jahr fängt ein altes Lied von vorne an …
Wie sind Sie ins Neue Jahr gekommen? Sind Sie „Typ Laut“ oder „Leise“, „Typ Euphorisch“ oder „Pessimistisch“? Diese Nacht und der erste Tag im Jahr offenbaren schon einige der Unterschiede, die uns ausmachen und bestimmen. Und wir wissen und wir ahnen, dass die Unterschiede noch weit größer sind als die Art und Weise, wie wir den Jahreswechsel begehen.
Jeder darf auf seine Weise feiern? Oder? Darf jeder auch auf seine Weise leben, glauben, denken, fühlen, beten?
Mit jedem Jahr legt sich ein weiterer Jahresring um unser Leben und schenkt ganz individuelle Erfahrungen, die uns trennen – aber sicherlich auch immer ein Stück verbinden. Das Jahr 2014 haben wir verlassen mit den Bildern von Dresden – den Demonstrationen gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“. Sechs Buchstaben mussten wir lernen, die für eine neue Intoleranz in unserem Land stehen, die latente Ängste von Bürgerinnen und Bürgern aussprechen und die selbst Angst machen – PEGIDA = „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Demonstrationen wieder an einem Montagabend. Vor 25 Jahren hieß es: „Wir sind das Volk!“ Nun möchte dieses Volk für sich bleiben - Menschenmengen drängen sich im Osten wieder auf die Straßen: „Ich will einfach, dass Sachsen so bleibt wie es ist!“, sagte einer der Demonstranten in die Mikrophone der Journalisten. Die Motivation in der Masse mitzulaufen sind unterschiedlich, doch die Ängste vor dem Anderen, dem Fremden, dem Unbekannten scheint groß zu sein.
Ängste, die uns auch am Anfang eines neuen Jahres begleiten, weil Fremdes und Unbekanntes auf uns zu kommt. Schlucken wir sie mit einem Glas Sekt hinunter? Überdecken wir die Sorgen mit einem Feuerwerk der Hoffnung? Oder ziehen wir die Decke über den Kopf und vertrauen: Morgen wird alles besser?
Wie ein Ruf in die Ängste vor Überfremdung und in die Klagen, dass immer mehr und mehr Asylsuchende nach Deutschland kommen, klingen da die Worte der Jahreslosung 2015. Die Ermahnung an die Gemeinde in Rom vor 2000 Jahren hat nichts an Relevanz verloren: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ (Röm 15,7)
„Nehmt einander an“ heißt ja nicht, dass Unterschiede und Andersartigkeit geleugnet werden. Nein, vielmehr - sie werden wahrgenommen. Aber bis zum „Annehmen“ und Tolerieren ist da ein weiter Schritt. Sogar in der christlichen Gemeinde. Und die war zu Zeiten des Apostels nicht weniger bunt gemischt als heute. Es herrschten damals unterschiedliche Meinungen über die richtige Art und Weise als Christ zu leben. Die Konflikte kamen vor allem durch die unterschiedlichen Prägungen. Es gab diejenigen, die sich vom Judentum zum Christentum bekehrt hatten – so wie Paulus selbst. Und es gab die andere Gruppe, in Rom sicherlich eine weitaus größere, die ihre Wurzeln ganz woanders hatten. Kulte, Verehrungen, Religionen im römischen Staat. Wie lebte man nun den neuen, den christlichen Lebensstil? Galten die alten Gebote und Vorschriften des strengen Judentums? Oder gab es durch die neue Freiheit in Christus eine totale Liberalisierung? Die Frage nach Sekt oder Selters auch in der christlichen Gemeinde. Doch der je eigene Stil wurde nicht akzeptiert, sondern verurteilt, verhöhnt, verachtet … Dass das eine Gemeinschaft, sogar die „Gemeinde in Jesus Christus“ sprengen kann, ist offenkundig. Paulus muss handeln, muss mahnen, muss warnen – und er muss erinnern. „Seid ihr nicht alle selbst von Gott angenommen?“ Das ist für ihn der fundamentale Grund für Toleranz und Akzeptanz - dass jeder und jede in der Gemeinde es schon selbst erfahren hat – von Christus angenommen zu sein. In der Taufe, die alle verbindet, ist dieses „Ja“ zu jedem und jeder gesprochen worden – egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder mit wie viel Schuld und Scheitern. Gott hat die Schwachen aufgerichtet und den Starken die Hand zum Frieden gereicht. Also: Tut es wie er!
Und wie er es getan hat, zieht sich durch so viele Erzählungen des Neuen Testamentes, die für uns so wichtig, so elementar geworden sind. Menschen, die auf der Suche waren, so wie wir am Anfang eines neuen Jahres, wie so viele in diesem Land, die sich nach einem neuen Miteinander in unserer Gesellschaft sehnen. Menschen begegneten Jesus von Nazareth und sie wurden verändert. So wie der Mann auf dem Maulbeerbaum. Kinder lieben diese Geschichte, weil auch er klein von Statur war, aber nicht dumm, er wusste sich zu helfen. Auch in seinem Job wusste er das: als Zöllner nahm Zachäus mehr Geld als üblich und steckte den Überschuss in die eigene Tasche. Kein Wunder, dass er gemieden, wenig geachtet wurde. Und dann macht er sich lächerlich – klettert auf einen Baum, um diesen Jesus zu sehen. Und der lächelt, er verlacht nicht, er lächelt und lädt sich ein zu diesem Mann, den alle mieden. Er nimmt ihn an: klein und mies, verachtet und verhöhnt. Und bei diesem Besuch wird Zachäus ein anderer: Er bleibt Zöllner, aber er teilt und gibt zurück, was unrechtmäßig war. Der Arm Gottes, der einen Menschen umfängt, lässt seine Hände öffnen für andere … Annahme verändert.
Und Annahme schenkt Leben: Das erfährt die Frau, die sie zu ihm bringen. Eine Frau, beim Ehebruch ertappt. Nach den Regeln der jüdischen Religion ein klarer Fall: Hinrichtung durch Steinigung. Das ist kein Urteil von Menschen, das ist Gottesurteil. Und was sagt Jesus, der Gottessohn? Was sagt der, für den schon das Begehren eines anderen Partners Ehebruch ist …? Er greift nicht zum Stein und auch nicht zur Moralpredigt. Er setzt dort an, wo jeder Mensch verletzlich ist – bei der eigenen Schuld. Weil niemand ohne Schuld ist, ergreift auch keiner den Stein. Das Leben dieser Frau ist gerettet. Ihre Schuld ist offenkundig, doch sie erhält eine neue Chance. Die wird sie nutzen.
Menschen, die Jesus begegneten und von ihm geachtet, respektiert und angenommen wussten. Sie haben von ihm einen liebevollen, einen respektvollen Blick gelernt. Sollten sie nicht mit diesem Blick nun ihren Mitmenschen begegnen? Sollten Sie nicht die Chance nutzen, die sie selbst erhalten haben?
Mit Gottes „Ja“ zu uns hat Gott sich vorbehaltlos und liebevoll uns zugewendet. An unseren Fehler müssen wir nicht zerbrechen, unsere Schuld erdrückt uns nicht, unsere Ängste und Sorgen müssen wir nicht allein tragen. Wir sind angenommen, wir können uns selbst so annehmen wie wir sind. Wir dürfen den aufrechten Gang wagen, weil Gott uns aufrichtet und auf den Weg des Lebens führt. Wir dürfen es erleben. Sollten wir nicht allein deshalb schon den Anderen, den Fremden, den, der bei uns Zuflucht und neue Perspektiven sucht, mit diesem liebe- und respektvollen Blick begegnen – eine Chance für ein neues, ein besseres Leben?
Es gibt ja nicht nur PEGIDA und Dresden. Es gibt auch Köln und andere Städte, wo Menschen auf die Straße gehen für ein buntes, für ein vielfältiges und farbenfrohes Miteinander. Sie bilden Menschenketten, reichen einander die Hände und nehmen sich an und halten sich fest, weil nichts und niemand sie trennen soll. Es ist gut und wichtig, dass durch die Nachrichten auch diese Bilder laufen. Und sie machen auch weltweit deutlich, dass in Deutschland nicht wieder eine braune Mehrheit die Meinung bestimmt. Aber noch wichtiger sind die kleinen, die unspektakulären Aktionen. Da bilden sich runde Tische in den Kommunen und man überlegt miteinander wie man eine „Willkommenskultur“ schaffen kann. Hier meldet sich einer und bietet an, Asylbewerber auf ihren Gängen zu den Behörden zu begleiten. Eine pensionierte Lehrererin organisiert spontan einen Sprachkurs. Eine Kirchengemeinde öffnet am Sonnabend das Gemeindehaus für ein Internationales Café. In Rostock, das 1992 die hässliche Fratze der Ausländerfeindlichkeit zeigte und wo Flüchtlingsunterkünfte in Flammen aufgingen, gibt es einen „interkulturellen Garten“, den Rostocker und Flüchtlinge gemeinsam bearbeiten. Dort keimt viel an Hoffnung und Miteinander auf. In Köln wird ein „Willkommensfest“ gefeiert noch bevor das Heim, das weitere Flüchtlinge aufnehmen soll, fertiggestellt ist. Und im feinen Hamburg-Harvestehude führt eine Rechtsanwältin nicht eine Klage gegen die Stadt, weil ein Wohnheim direkt in die noble Gegend gesetzt wird, sondern sie gründet den Verein „Flüchtlingshilfe Harvestehude“. Und sie findet viele Mitstreiter. Es gibt sie, die Stimmen, die nicht skandieren „Ausländer raus“. Der Chor wird größer und lauter, der ruft: „Willkommen in Deutschland“.
Menschen rücken zusammen, versuchen zu verstehen und helfen ganz konkret. Und die, die dieses Willkommen erleben, spüren, dass sie angenommen werden, dass sie zur Ruhe kommen dürfen. Und irgendwann werden sie dann ganz angekommen sein nach Flucht und Vertreibung, nach Krieg und Gewalt.
Die Jahreslosung, die mahnenden Worte des Paulus sehen darin nicht nur reine Menschenliebe, sondern das geschieht auch zu Gottes Lob und Ehre. Ein Dreiklang also, der seinen Grundton von der Liebe Christus bekommt, der uns vorbehaltlos annimmt. Der zweite Ton bringt die Beziehung zu den Menschen, die mit mir unterwegs sind, zum Schwingen. Und schließlich öffnet sich der Klang zum Himmel und ehrt den, der die Menschen in seiner Vielfalt geschaffen hat. Für viele, die die neuen Töne des Willkommens anstimmen, wäre dieser Klang wohl eine Überfrachtung und Überforderung. Die praktische Hilfe, die sie leisten, leisten sie für die Menschen, für deren inneren und äußeren Frieden. „Zu Gottes Lob“ ist eine Dimension, die da wenig hinein passt. Eher wird gefragt: „Warum lässt Gott das Elend zu? Warum müssen Familien ihre Heimat verlassen? Warum hält Gott nicht wenigsten schützend seine Hände über die Kindern – die können doch nichts dafür …?“
Doch Gott durchkreuzt diese Fragen – mit dem Kreuz und dem Tod seines eigenen Sohn. Er ist selbst an der Seite der Verfolgten, der Leidenden und Sterbenden. Er nimmt sie nicht nur an, die Menschen, die Unrecht erleiden, er nimmt ihr Schicksal auf sich, um neues Leben, neue Hoffnung, neue Perspektiven zu schenken. Mit ihm bricht schon ein Stück des Friedens an, nach dem wir uns und die ganze Welt sich sehnen.
Deshalb ist konkrete Hilfe für uns, die wir uns von Christus angenommen wissen, immer mehr als ein Zeichen der Mitmenschlichkeit. In jedem Hände reichen, in jeder Umarmung, in jeder Tat, in jedem Wort, das sagt „Herrzlich willkommen!“ bricht dieser Friede an. Es ist Gottes Vision einer neuen Erde und eines neuen Himmels, wo keine Träne, kein Schmerz und kein Leid mehr sein wird. Wo es gelingt, diesen Frieden zu versprühen, sind wir der Zukunft ein Stück näher - und unserem Gott selbst. Denn wir stimmen seinen Lobgesang an, den Engelsvers, der uns von Weihnachten noch nachweht: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden …“
Dann wäre es auch keine große Überraschung, wenn wir in diesem neuen Jahr Gott tatsächlich begegneten, so wie wir es uns wünschen und beten und singen: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag …!“ (D. Bonhoeffer). Denn wir begegnen ihm im Angesicht des Mannes aus Syrien, der Frau aus dem Iran, der Familie aus Afghanistan. Und auch in der Nachbarschaft ist er zu finden – in der Familie, die von Hartz IV lebt und mit denen keiner Kontakt sucht in der Straße hat. Gott ist plötzlich ganz nahe, wo wir uns hinwenden und zuwenden, wo Leben gelingt und Chancen geschenkt werden.
Da liegen 365 Tage vor uns. Tage, an denen Leben gelingen kann, an denen Möglichkeiten offen stehen, an denen Gott uns begegnen will.
Wir haben das Jahr 2015 begrüßt – jeder auf seine Weise, laut oder leise, einsam oder gemeinsam. Und nun sind wir unterwegs als Weggefährten durch die Zeit. Und immer wieder neue, immer wieder andere werden sich dazugesellen, manche müssen wir zurücklassen. Deshalb betreten wir die unbekannten Wege des neuen Jahres nicht nur voll Freude, sondern auch mit Wehmut und Angst. Doch nicht die Funken der Raketen und der Knall der Böller wird uns diese Angst nehmen, sondern das Vertrauen, dass Gott selbst an unserer Seite ist. Und wir können anderen die Furcht abnehmen, wo wir ihnen mit Gottes Liebe begegnen. Der Dreiklang dieser Liebe hat ein längeres Echo als der Krach der Silvesternacht. Und in seiner Schönheit erklingt er schon wie im Himmel.
„Nehmt einander an“ – wir brauchen dieses starke Wort in einem Jahr, das zeigen wird, ob es gelingt, fremde Menschen in unserem Land anzunehmen und willkommen zu heißen. Oder ob wir die Mitmenschlichkeit einer ganzen Gesellschaft verlieren. Reichen Sie doch einander die Hände – hier und jetzt im Gottesdienst und fangen Sie damit an. Hier in der Kirche, hier in der Bankreihe mag es noch ganz einfach sein. Aber dann machen Sie weiter, auch draußen, in der Nachbarschaft, bei denen, die anderes sind, anders aussehen, anders leben, beten, glauben. Machen Sie es nicht nur heute, am ersten Tag des Jahres, sondern auch am zweiten und dritten, und im Sommer und im Herbst. Und dann verspreche ich Ihnen: Das wird ein gutes Jahr! Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.