Predigt zu Römer 15,7 von Rainer Kopisch
15,7

"Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob."

Damit haben wir, liebe Gemeinde, den Wahlspruch des kommenden Jahres.
Es ist nicht unsere Wahl sondern eine Wahl der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen. Sie hat in einem geordneten Diskussionsprozess jeweils zwei Textvorschläge der 24 Mitgliedsorganisationen bedacht und dann am Ende aus zwei Texten einen mit Mehrheit zur Jahreslosung gewählt.

Wir wollen diese Wahl auf die Botschaft hin prüfen, die bei uns ankommt.

Nehmt einander an!
Paulus hat das im Schlussteil seines Briefes an die Gemeinde in Rom geschrieben. Die Gemeinde in Rom bestand aus Judenchristen und Heidenchristen.
Paulus hat sich darin auch besonders an die Judenchristen gewandt, um sie zu bitten, von ihrem Bedürfnis nach besonderen Regeln aus der jüdischen Tradition für das Leben in der Gemeinde Abstand zu nehmen, da er diese nicht für so heilsnotwendig hielt, dass sie auch die Heidenchristen auferlegt werden müssten.
Als heilsnotwendig hat Paulus viel mehr angesehen, einander anzunehmen.
Für Paulus ist das eine natürliche selbstverständliche Umsetzung der Liebe Gottes zu uns  Menschen, wenn wir uns als die von Gott Geliebten erkennen.
Die Umsetzung dieser Erkenntnis in eigenes Tun wird uns allerdings nur gelingen, wenn wir uns zur Klarheit eines eigenen Willens und einer eigenen Verantwortung entscheiden.

wie Christus euch angenommen hat zum Lobe Gottes.

Sie werden jetzt wahrscheinlich stutzen und sich fragen: Weshalb betont er diesen Halbsatz so, dass die Aussage deutlich wird, Christus hat uns zum Lobe Gottes angenommen?
Ich sage ihnen gleich die Antwort.
Diese Aussage lässt Sie fühlen, dass hier mit Text etwas nicht stimmt.
Der Theologe Ernst Dietzfelbinger hat sich die Arbeit gemacht hat, unter die griechischen Worte des Neuen Testamentes jeweils die deutsche Übersetzung zu schreiben. Diese sogenannte Interlinearübersetzung ist Theologen beim Blick in den griechischen Urtext eine große Hilfe.
Seine wortwörtliche Übersetzung unseres Textes heißt:
Nehmt an einander, wie auch Christus angenommen hat euch zur Ehre Gottes.
So stehen die Worte nacheinander im griechischen Text.
Es wird ihnen auffallen, dass hier als Übersetzung eines griechischen Wortes Ehre statt Lob steht. Könnte als zutreffende Übersetzung noch etwas anderes stehen, was uns unmittelbar als sinnvoll einleuchtet?
Ein Blick in den „Kittel“, ein ausführliches, mehrbändiges Lexikon zum griechischen Neuen Testament, könnte uns helfen. Hier sind griechische Worte ihrer Bedeutung und ihrem Bedeutungswandel nach wissenschaftlich sorgfältig aufgeführt und übersetzt. Wir erhalten hier die Möglichkeit, eine der eigenen Meinung und Verantwortung entsprechende Übersetzung zu wählen.
Als Geschenk unserer Bemühungen finden wir einen Vorschlag zum Verständnis unserer Textstelle Römer 15,7: wie Gott (bzw Christus) jedes Glied der Kirche in seine volle Gemeinschaft aufgenommen hat, so bezieht einander ein in euren christlichen Lebenskreis ohne jeden Vorbehalt (der aus der Verschiedenheit religiöser Sitte entspringen könnte). Der Exeget und Übersetzer gibt uns damit einen wichtigen Hinweis darauf, was Paulus der Gemeinde in Rom schreiben wollte.
Das griechische Wort δόξα, das die Luther-Übersetzung mit Lob und Dietzfelbinger mit Ehre übersetzt, kann nach den Übersetzungsangeboten des Lexikons für das Wort, das Paulus gebraucht, auch die Bedeutung Glanz und Herrlichkeit im Zusammenhang mit Gott annehmen. Das entspricht auch dem Übersetzungsvorschlag des Lexikons in dem Sinne der Annahme in die volle Gemeinschaft Gottes. Wer wollte daran zweifeln, in Gottes Gemeinschaft Glanz und Herrlichkeit zu erleben.

Es gibt bei Matthäus im 17. Kapitel die Geschichte von der Verklärung Jesu. Da sehen drei auserwählte Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes, Jesus in einem göttlichen Glanz:
Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.
Eine lichte Wolke schwebt über allen und aus der Wolke ist eine Stimme zu hören:
„Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören.“

Wohlgemerkt, hier ist die Verklärung Jesu berichtet. Den anwesenden Jüngern ist der Glanz und die Herrlichkeit Gottes am irdischen Jesus gezeigt worden. In der Parallele zum Römertext zeigen sich die enge Beziehung Gottes zu Jesus und die Annahme der drei Jünger in die göttliche Gemeinschaft.

Ich übersetze also die Jahreslosung 2015 in anderen Worten:
Nehmt einander an,
wie Christus euch angenommen hat in den Glanz und die Herrlichkeit Gottes.

Ihnen wird sofort der Lobpreis aus dem Vater-unser-Gebet einfallen:
dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Sie werden auch spüren, dass jetzt diese Kraft in den Text der Losung gekommen ist.

Paulus stellt fest, dass Christus uns in das Reich Gottes aufgenommen hat. Er sagt damit, dass wir kraft dieser Annahme in das Reich Gottes, zu seiner Kraft und Herrlichkeit in Ewigkeit, auch Anteil an der Fülle der Liebe Gottes bekommen.
Diese Liebe Gottes geschieht mit einer unbeschreiblichen Barmherzigkeit und Freude. Sie wird nur denen erlebbar, die diese Liebe Gottes in ihr Leben hineinlassen.
Das Geheimnis der Erlebbarkeit ist, dass wir sie nur in der Stärke und Kraft erleben, in der wir sie selbst weitergeben. Die Freude an der Liebe entsteht durch das Gefühl ihres Fließens. Dies ist keine Theorie sondern die Beschreibung gelebter Wirklichkeit

Unser Wille zur Tat ist gefragt.
Es reicht nicht aus, wenn wir Menschen nur sagen: „Gott liebt dich.“ Wenn Menschen die Kraft der Liebe nicht an und durch uns erleben, werden sie unseren Worten nicht glauben.
Kennen sie erlebbare Zeichen der Liebe Gottes?
Es sind auch so kleine Zeichen wie das Geschenk eines Lächelns, ein vertrauensvoller Blick aus offenen Augen. Es sind die Zeichen des Anfangs.
Wir wissen, dass wir Liebe nur lernen können, wo Liebe zwischen den Menschen erlebbar ist. Bis wir in die Fülle der Liebe Gottes kommen, ist es oft ein lebenslanger Weg.

Unsere menschliche Natur kann uns mit fremden Menschen zusammenführen und uns so füreinander einnehmen lassen, dass wir in den Stand der Verliebtheit fallen. Dieser Zustand von Verliebtheit wird von Kennern der menschlichen Seele als ein Zustand von besonderer Wahrnehmung erkannt. Er geht einher mit einer eingeschränkten Wahrnehmung der Wirklichkeit, mit einem Bewusstseinszustand, der uns Menschen wie in den Himmel hebt, der uns selbst größte Schwierigkeiten als überwindlich erscheinen lässt. Wir verfügen über Energien wie kaum sonst im Leben. Unsere Selbsteinschätzung lässt uns über größere Kräfte verfügen, als wir sie uns sonst zutrauen.
Wenn wir uns dann sicher sind, dass wir für das Leben miteinander bestimmt sind, lässt dieser Zustand nach und wir haben die Aufgabe, mit- und aneinander zu lernen, wie tragfähige Liebe zwischen zwei Menschen im täglichen Leben aussieht.
Gott hat uns als Schöpfer so gedacht. Niemand kann behaupten, dass Gott kein einfallsreicher Schöpfer ist. In dieser Verliebtheit lernen wir die Natur der Liebe im Schnellverfahren kennen. Später werden wir im tägliche Miteinander nach und nach so viele Seiten der Liebe lernen können, dass Gott seine Freude an uns hat. Dabei kann uns die Erinnerung an das Gefühl verliebt zu sein eine große Hilfe werden.

Der Horizont unserer Jahreslosung reicht weit über die Grenzen von  Gemeinde oder Kirche hinaus. Er ist der Horizont der Liebe Gottes.

Es ist die Schöpfung Gottes, der seine Liebe gilt und zu der wir in Freiheit aufgerufen sind. Wir können eine große Trauer und Betroffenheit in unsere Gefühle bekommen, wenn wir den Zustand der Erde und der Welt, in der wir leben, wirklich sehen.

Die Frage, warum Gott das zulässt, ist die falsche Frage. Die richtige Frage ist, warum es Gott zulässt, dass wir Menschen die Schöpfung Gottes mitsamt der Erde ruinieren und warum er es zulässt, dass wir Menschen Elend und Kriege in der Welt zulassen.

Die Antwort ist, dass Gott uns Menschen die Freiheit gibt, unserer Verantwortung für diese Welt nachzukommen oder es zu unterlassen. Wenn wir es unterlassen, werden wir die Liebe Gottes nicht kennenlernen und einer Welt des Todes verfallen bleiben. Wenn wir uns aber zur Verantwortung entscheiden, läßt uns Gott mit dieser Verantwortung nicht allein. Er schenkt uns die Kraft seiner Liebe. Das Zeichen dieser Liebe sind die Freude, wenn wir sie in Taten umsetzen und die Freiheit, die wir den Menschen lassen, die unsere Hilfe annehmen.
In der Zeit um Weihnachten wird der Film „Der kleine Lord“ im Fernsehprogramm gezeigt. Wer wissen will, wie einander annehmen und Liebe im Miteinander der Menschen geschehen kann, kann es beim Ansehen dieses Films bis in die Gefühle hinein erleben.
Vor Weihnachten pflegt die Zeitschrift „Stern“ die Gewohnheit, eine Ausgabe thematisch auf Weihnachten auszurichten. In diesem Jahr war es das Thema Vergebung. Die Barmherzigkeit der Liebe Gottes ereignet sich da, wo Menschen denen vergeben, die an ihnen schuldig geworden sind. „Die Kraft der Vergebung“ ist der Sterntitel. Der Untertitel lautet: Sieben Menschen, sieben Geschichten: Wie gut es unseren Seelen tut, wenn wir anderen verzeihen.
Wir beten in der fünften Bitte des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Wir wissen um unsere Anfälligkeit, durch Lieblosigkeit aneinander schuldig zu werden. Dadurch entsteht ein Zustand, der uns voneinander trennt. Aus diesem Zustand führt nur Vergebung.
Gott ist uns in Christus damit in Vorleistung gegangen. Darauf macht uns die Jahreslosung aufmerksam.
Er hat uns in sein Reich angenommen und uns damit den Glanz und die Herrlichkeit eröffnet. Unsere Schuld schmilzt wie Schnee unter der warmen Sonne der barmherzigen Liebe Gottes. Das passiert nicht automatisch ohne uns. Es ereignet sich, wenn wir dies auch wollen, indem wir uns aktiv mit einem Ja in den Prozess des Annehmens begeben.
Nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat in den Glanz und die Herrlichkeit Gottes.

Wenn Sie sich 2015 vornehmen, mehr für die Liebe Gottes unter den Menschen zu tun, kann das liebevolle Annehmen von Menschen in Ihre Gemeinschaft ein Schwerpunkt werden.
Das ist ein steter Prozess einer wachsenden Gemeinschaft, deren Mitglieder wissen, was Gottes Liebe ist. Es bedarf andauernder Bemühungen, denn Liebe zeigt sich im Tun.

Bitternötig hat unsere Republik Ihre Bemühungen als Bürger und Bürgerinnen auch im Hinblick auf die fremden Menschen, die in unser Land kommen und Hilfe suchen.
Es gilt mitzureden gegen Fremdenfeindlichkeit und Lieblosigkeit unter uns Menschen.
 
Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat in den Glanz und die Herrlichkeit Gottes. Vielleicht ist meine Übersetzung der vollen Gemeinschaft mit Gott mit diesen Worten ein Zeichen von Verliebtheit in Gott, aber für mich ist die Gewissheit unbestritten, dass Christus uns das Reich Gottes eröffnet hat.
Ich wünsche ihnen einen schöpferischen und liebevollen Umgang mit der Jahreslosung 2015.

Amen



 

Perikope
01.01.2015
15,7