Predigt zum Gedenken an den 70. Jahrestag des Atombombenabwurfs über Hiroshima und Nagasaki
13,9-13

"Kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit dem lieben Gott!". So hat mich mal eine Mutter begrüßt, als ich zum Trauerbesuch kam. Ihr Sohn war gestorben und sie war voller Abwehr. Ein Bibelspruch wie:  "Gottes Gnade wird nicht von dir weichen." hätte sie in diesem Moment brüskiert, statt getröstet.
Vielleicht können Sie das nachvollziehen, liebe Gemeinde. Auch tröstende Worte haben ihre Zeit. Und manchmal sind sie eben nicht dran. Dann ist nur noch das Schweigen angemessen. Weil das Leid die Sprache verschlägt.

Auch in den großen Katastrophen der Menschheit . Wenn dann jemand sagt: "Das musste ja so kommen, weil der Mensch sich als Gott aufspielt" ist das zynisch. Und ein durchsichtiger Versuch, mir etwas erträglich zu reden, was in Wirklichkeit nicht zu ertragen ist. Aber es wird gar nicht erträglicher dadurch. Weil es das Leid derjenigen, die von der Katastrophe betroffen sind, nicht erklären kann.
Sollten wir dann nicht einfach aufhören, nach Antworten zu suchen auf die Frage nach dem "Warum?" Manchmal scheint mir das tatsächlich wie ein gedanklicher Notausgang. Weil dieses Suchen  mich immer wieder an die Grenzen meines Glaubens führt. Ja, ich mich regelrecht wundreibe an diesem Suchen.  
Darum kann ich nachvollziehen, wenn Menschen ihr Vertrauen in Gott und die Welt aufgeben. Und doch lässt mich diese Frage einfach nicht los. Weil ich in dieser Welt mit all ihrem Leid leben will.

Der Künstler Johannes Schreiter versucht, mit seinem "Physikfenster" eine Antwort anzubieten.  Eine Antwort, in der beides Platz hat: Die Deutung des Atombombenabwurfs als Gottes Gericht. Und die tröstende Zusage von Gottes bleibender Gnade.

Damit baut er einen Widerspruch mit einer ungeheuren Spannung auf. Sie zieht die Menschen vor diesem Fenster in ihren Bann. Der sechste August 1945 als Gottesgericht? Da stellen sich mir alle Nackenhaare auf. So glaube ich Gott nicht! Wofür hätte Gott die Menschen in Hiroshima zur Rechenschaft ziehen sollen?  Hier haben doch Menschen an Menschen gehandelt! -

Gleichzeitig fordert mich das Fenster dazu heraus, weiter zu fragen.  Nach Gott zu suchen mitten in der "Gottesfinsternis". Und dabei die Frage nach unserer menschlichen Verantwortung offen zu halten
Wie sehr Johannes Schreiter  selbst um Antwort ringt, wie vorsichtig er damit ist, lese ich daraus, dass er sie in seinem Fenster auf einem Notizzettel  formuliert hat. Ein angekohltes kleines Blatt Papier. So, als wäre diese Antwort ein erster Versuch,  der noch in eine Reinschrift gebracht werden muss. Das gefällt mir. Das ist keine in Stein gemeißeltes Dogma, das Zustimmung verlangt. Das ist ein vorsichtig tastender Versuch eines suchenden Menschen, der sich bewusst ist, dass es auch ganz anders sein kann. 

Auch die Gnadenzusage aus dem Prophetenbuch Jesaja steht auf diesem Notizzettel. Zwei so gewichtige,  widersprüchliche Worte miteinander. Übereinander. Auf einem Notizblatt.
Sie legen mir die Antwort nahe: Keiner von uns darf sich anmaßen, die letztgültige Deutung zu kennen. Weil unsere Erkenntnis immer nur ein Teil unserer Wirklichkeit erfasst. Das hat der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth formuliert:


Fumiko Nishino-Friedewald, Lesung (1.Korinther, 13, 9-13)
9 Unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. 13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.


Pfarrerin Sigrid Zweygart-Pérez:
Unser Wissen ist Stückwerk. Was wir heute sicher zu wissen meinen,  ist morgen vielleicht schon ein alter Hut. Das klingt so banal. Aber wenn ich überlege, wie viel Leid schon durch angeblich todsichere Erkenntnisse entstanden ist, - z.B. Röntgentrahlen - dann  scheint mir das eben doch keineswegs banal. Unser Wissen ist begrenzt und vorläufig – das gilt für Fragen des Glaubens genauso wie für Erkenntnisse der Naturwissenschaft. Beide können sich nicht auf absolute Wahrheiten berufen, sondern müssen immer davon ausgehen, dass unsere menschliche Erkenntnis bruchstückhaft ist und bleibt.

Warum dann dieses sperrige Bruchstück, dieses Wort von Gottes Gericht? Johannes Schreiter  wagt  damit den stammelnden Versuch, sogar diesen unheilvollen Tag mit Gott zu denken. Dass selbst in diesem schrecklichen Ereignis Gott bei den Menschen und nicht von ihnen abgewandt  gewesen ist.  Er verstärkt diese Hoffnung noch, indem er das Notizblatt mit einem kräftigen Rot rahmt. In diesem Rot lässt er Gottes Liebe aufleuchten. Sie umgibt alles. Sie wirkt über, unter und rund um alles Geschehen.
Der Künstler hält damit kühn und gegen allen Augenschein an dem Glauben fest, dass es kein Ereignis und keinen Ort der Erde gibt, in dem Gott nicht mehr zu finden ist. Selbst  in der größten Not hält Gott an seiner Gnadenzusage fest. Mit drei Kreuzen bekräftigt der Künstler sein Vertrauen in diese Zusage. Es sind keine Friedhofskreuze, die vom Tod erzählen. Sie sind geöffnet und lassen das Osterlicht durchscheinen. Das Licht, das davon erzählt, dass der Tod nicht das letzte ist, was wir zu erwarten haben. Dass dort, wo wir von Leid, Schmerz und Tod überwältigt sind, auf etwas hoffen dürfen, was in uns die Sehnsucht nach dem Leben wach hält. Dass wir tatsächlich getröstet werden können in Allem, was uns und unserer Welt widerfährt.
Dieses Osterlicht breitet sich aus, wo immer Menschen einander in echter Zuwendung  begegnen. Wenn Menschen wie Albert Einstein gemeinsam versuchen, ihre Mitschuld an Ereignissen zu suchen, um damit zukünftige Katastrophen zu verhindern, bricht sich die Sehnsucht nach dem Leben ihre Bahn. Wo Menschen Trauernden zur Seite stehen, ohne sie vorschnell zu vertrösten, kann wirklicher Trost langsam und zart in deren verwundeten Herzen wachsen.

In diesem Osterlicht kommt Beides zusammen: Unsere menschliche Verantwortung für das, was geschieht in unserer Welt, und Gottes Zusage, dass er diese Welt nicht unserem den Folgen unseres Handelns überlassen wird. Als seine Ebenbilder erfüllt er uns mit seiner  Schöpferkraft. Es liegt an uns, welche Wege wir beschreiten. Die Katastrophe vom 6. August 1945 mit ihrem fürchterlichen Leid für ungezählte Menschen muss uns dazu herausfordern, mit allen Mitteln den Frieden in der Welt zu fördern.
Mit Gottes Gnade, die nicht von uns weicht, können wir in dieser Welt leben. Leid und Schmerz bleiben uns nicht erspart. Aber wir können getröstet werden und trösten. Anderen zur Seite stehen.  Mit ihnen aushalten und sie Gottes Gnade spüren lassen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
 


 

Perikope
02.08.2015
13,9-13