Ukrainisches Getreide und leere Mägen
Seit Ende Juli können sie wieder ausfahren. Aus drei Hafenanlagen in Odessa, Tschornomorsk und Juschnyj am Schwarzen Meer. Es sind Schiffe mit Getreide, Mais und anderen Produkten an Bord. Ihre Fracht sind Grundnahrungsmittel und Basisprodukte, die mittlerweile zu Schätzen geworden sind. Ob und wann die großen Tanker losfahren können, war lange unklar und bleibt weiterhin eine unsichere Angelegenheit.
Und ja, ich habe mich sehr gefreut, als ich davon in den Nachrichten gehört habe. Ich bin erleichtert, dass die Ernte des letzten Jahres endlich ausgefahren wird und Platz für die Ernte dieses Jahres geschaffen wird. Aber besonders an einem Tag wie diesem bedrückt es mich, all die Meldungen vom Hunger in dieser Welt zu hören. Es ist so frustrierend, dass noch immer Menschen hungern müssen. Und angesichts der teils katastrophalen Zustände wirken die rund 20 Millionen Tonnen Getreide in den ukrainischen Häfen letztlich doch nur wie ein paar Körnchen in einer Welt voller leerer Mägen. Und dass gerade der Hunger durch all die Jahrhunderte Bestand hat, ist mehr als eine politische Tragödie.
Reine Provokation?
Und dann diese Worte: „Denn der HERR, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land, darin Bäche und Quellen sind und Wasser in der Tiefe, die aus den Bergen und in den Auen fließen, ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel wachsen, ein Land, darin es Ölbäume und Honig gibt, ein Land, wo du Brot genug zu essen hast, wo dir nichts mangelt, ein Land, in dessen Steinen Eisen ist, wo du Kupfererz aus den Bergen haust. Und wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du den HERRN, deinen Gott, loben für das gute Land, das er dir gegeben hat.“
Das wirkt doch wie eine Provokation. Die Umstände für Israel waren ja durchaus alles andere als paradiesisch. Mit schwitzenden Händen haben sie in brühender Hitze ihre Dörfer gebaut. Sie haben Brunnen gegraben, die ihre Feinde wieder zugeschüttet haben. Sie haben in mühevoller Arbeit die Felder bestellt, die nicht selten einfach vertrocknet sind. Von einem Leben im Überfluss kann da keinesfalls die Rede sein.
Ihre Welt war nicht dieses Land.
Die Doppelseitigkeit des biblischen Textes
Und dennoch haben die Menschen an diesem Text und seiner Verheißung festgehalten.
Das hatte seinen guten Grund, wie uns der Text verrät: „So hüte dich nun davor, den Herrn, deinen Gott, zu vergessen.“ (11) Die biblische Geschichte von den vierzig Jahren in der Wüste erzählt von einer Zeit, die für das Volk Israel durchaus beschwerlich war. Nicht nur einmal haben sie überlegt, umzudrehen und nach Ägypten zurückzukehren. Immer wieder mussten die Zelte auf- und abgebaut werden, die Hitze am Mittag war drückend und der Boden war trocken und karg. Es gab wenig zu essen und jeder Tag brachte eigene Herausforderungen mit sich. Aber das ist nur die eine Seite der biblischen Geschichte.
Die andere Seite erzählt Folgendes: Eine große weißgraue Wolkensäule begleitete Israel am Tag und in der Nacht war da eine Feuersaule, die so kräftig loderte, dass man sie von weit her sehen konnte. Als Israel zu Gott schrie, versorgte Gott sie. Es regnete Manna – Brot vom Himmel. Und dazu Wachteln. Sie konnten ihren eigenen Augen kaum glauben, aber jeden Tag war da wieder genügend zu essen. Auch wenn die vierzig Jahre in der Wüste mühevoll und schwierig waren, so war es keine gott-lose Zeit. Vielmehr wird davon berichtet, dass es vierzig Jahre voller Gottes Begleitung und Versorgung waren. Und wegen des gemeinsamen Weges, der eben nicht gott-los war, erfolgt das Gebot an Israel, Gott nicht zu vergessen. Gott ist auch weiterhin dabei und daran soll Israel denken und Gott loben und singen.
Ein Weg mit einem Ziel
Unsere Welt ist nicht dieses Land. Das Land, in dem sprichwörtlich Milch und Honig fließt, ist das Ziel eines Weges. Unsere Welt macht eher den Anschein der Wüstenwanderung. Und dabei fühlt es sich nicht so an, als ob nach vierzig Jahren alles besser wird. Mitten in dieser Wüstenzeit ist kein Ende in Sicht. Da ist nur Einöde, Hitze, Trockenheit und Staub. Und trotzdem Erntedank. Für mich wirkt Erntedank da wie ein Zwischenstopp. Über die Wüstenzeit lässt sich nicht wegwischen. Schwamm drüber, das wird schon wieder. Keineswegs! Vierzig Jahre Wüstenzeit, das ist eine verdammt lange Zeit. Es gibt persönliche Schicksalsschläge, da hilft kein ‚Wird schon wieder‘. Es gibt Kriege, die nicht mit einem einfachen ‚Entschuldigung‘ wieder befriedet werden. Es gibt Dürre und Hitzewellen, die nicht einfach mit einer Gießkanne oder einer Klimaanlage gemildert werden. Es gibt soziale Ungleichheit, die nicht einfach mit ein paar Nachhilfestunden eingeholt wird. Es gibt Unheil. Und da ist der Dank das Letzte, nach dem mir ist. Da erscheint Erntedank als eine Provokation, eingebaut ins Kirchenjahr. Es ist provokant, sich angesichts der so harten Seite des Lebens Gottes Mit-Sein bewusst zu bleiben. Und vielleicht brauchen wir diese Provokation, dieses Aufrütteln. Denn trotz aller Widrigkeiten: Dieser Weg hat ein Ziel.
Der Blick in meine Welt
Unsere Welt ist nicht dieses Land. Und dennoch stehen hier vorne gesammelte Gaben [Nennung der gemeindetypischen Dinge] und wir feiern Erntedank. Wir legen nicht nur einen Teil der diesjährigen Ernte hier vor den Altar, sondern erinnern uns auch des vergangenen Weges. Und da wirkt Erntedank vielleicht auch etwas trotzig, aber es gibt eben nicht nur die eine Seite des Lebens. Vielmehr lässt sich dem Leben auch etwas Gutes abtrotzen. Da hilft so ein Fest wie Erntedank, um den Blick auch auf das Gute zu richten. Ein Fest wie Erntedank, das zum Innehalten einlädt und uns trotz der harten und schwierigen Seite des Lebens zum Gedenken einlädt: Es gibt auch die andere Seite des Lebens.
Nicht nur meine Füße haben mich getragen, nicht nur meine Hände haben etwas erreicht, da waren vielmehr auch die Worte der anderen, die mich ermutigt haben. Da war das gemeinsame Lachen, das mir Leichtigkeit verschafft hat. Da waren Gebete, die mich getragen haben. Da waren Menschen, die für mich gekocht haben und da war der ein oder andere heitere Abend bei einem Getränk. Da sind Samen des Lebens, die andere Menschen mir für meinen Weg mitgegeben haben; beim Innehalten merke ich, dass diese zu Früchten geworden sind. Beim Blick auf den Weg meines Lebens erblicke ich in den dunklen Tälern, den Bergkämmen, die ich erklommen habe, und den trockenen Steppen, die ich durchqueren musste, dass mein Weg auch von Gutem begleitet ist. Es grünt und blüht immer wieder. Und das, was ich von anderen noch klein als Saat empfangen habe, das wächst und gedeiht. Es findet seinen Weg zur Sonne. Mein Weg, so wird mir deutlich, ist einer, aber er hat zwei Seiten. Und in all dem war Gott dabei. Ich erinnere mich und ich danke dir. Danke, Gott.
Noch Nicht (!)
Unsere Welt ist nicht dieses Land. Aber noch sind wir auch nicht am Ziel. Es mag sein, nein, es ist leider so, dass der Lauf der Geschichte alles andere als paradiesisch ist. Es ist leider so, dass es die beschwerliche Seite gibt und diese Welt teils grausam und brutal ist. Es ist leider so, dass Feigen- und Ölbäume mittlerweile eher in großer Zahl brennen als wachsen. Es ist leider so, dass viele noch immer nicht satt werden. Es ist leider so, dass Kriege noch immer zur Realität im 21. Jahrhundert gehören. Gott sei’s geklagt. Es ist aber auch so, dass dieser Weg kein gott-loser Weg ist. Es gibt ein verheißenes Land. Deshalb kann es auch anders sein, als es jetzt ist. Ein lapidares ‚Es ist halt so und war schon immer so‘ wird der Realität Gottes nicht gerecht.
In der Wolkensäule bei Tag und der Feuersäule bei Nacht – da war Gott. Gott war dabei, als sie ihre Dörfer und Städte gebaut haben. Gott war dabei, als die Kinder gemeinsam getobt und gespielt haben. Gott war dabei, als die Alten abends zusammensaßen. Gott war dabei, als Israel die Felder bestellte. Es gibt so zahlreiche Begleit-Erscheinungen Gottes, die Israel in seiner Erinnerung in Psalmen und Lieder gegossen hat. Gott war dabei, als die Feinde über sie herfielen und die Pest durch die Dörfer zog. Gott ist dabei, in guten und in schlechten Zeiten. Und um sich daran zu erinnern, haben sie Loblieder und Bittgebete, Jubel und Klagelieder verfasst.
Gott ist dabei. Deshalb können wir loben, bitten, rufen, klagen, schreien, beten, jubeln und danken. Erntedank provoziert uns dazu.
„Denn der Herr, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land...“
Unsere Welt ist nicht dieses Land. Doch was nicht ist, kann noch werden.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Im Hintergrund der Predigt ist die Vorstellung einer Gemeinde, die Erntedank als ein Fest feiert. Erntedank stellt hier ein gemeinschaftliches Erlebnis dar, in dem man nochmal gemeinsam des vergangenen Sommers gedenkt und womöglich nach dem Gottesdienst zusammenkommt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt wäre das falsche Wort, aber es entstand eine produktive Spannung zu wissen, dass Erntedank auch letztes Jahr und vorletztes Jahr und all die Jahre zuvor gefeiert wurde. Der Blick in die Zeitung einerseits und in den biblischen Text andererseits war dann eine spannende Herausforderung, den Text wieder neu zu verstehen und im Wechselspiel der beiden Realitäten hoffnungsvolle Klänge zu hören.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich brauche die Provokation des biblischen Textes immer wieder neu, um einer Monotonie zu entgehen und neue Möglichkeitshorizonte zu entdecken.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Diese Predigt verdankt dem Gespräch mit der Predigtmentorin sehr viel. Durch das hilfreiche Feedback wurde die Predigt klarer und stringenter. Und vorallem verhalf mir die Rückmeldung zu Mut, mehr erzählende Textpassagen aufzunehmen.