Rock’n’Roll der Schöpfung - Predigt zu Sprüche 8,22-36 von Wolfgang Vögele
8,22-36

Rock’n’Roll der Schöpfung - Predigt zu Sprüche 8,22-36 von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Jubilate steht Spr 8,22-36:

„Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern. So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Zucht und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.“

Liebe Schwestern und Brüder,

wer in der Nacht angenehm schläft, dessen Augen sind geschlossen, und höchstens Träume ziehen im Bewußtsein langsam vorbei. Wenn dann der Morgen dämmert, kriecht ein erster Sonnenstrahl durch das offene Fenster über die Bettdecke. Bald erreicht er das Gesicht des Schlafenden und bringt ihn mit Tupfen von Licht erst zum Blinzeln und dann zum Aufwachen. Der Schläfer streckt und dehnt sich, er hört die Amseln im Blumenbeet singen. Fröstelnd spürt er die Kälte der Nacht, die durch das geöffnete Fenster eingedrungen ist und sich bald in Tageswärme verwandeln wird. Der geweckte Schläfer steht auf und tritt ans Fenster, um für einen Moment sich ballende Wolken am Himmel, die Linden und Kastanien rund um das Haus zu betrachten und am Stand der aufgehenden Sonne die Uhrzeit abzuschätzen. Die Vorbereitung auf den kommenden Tag setzt ein: Der Schläfer wird die restliche Müdigkeit aus den Gliedern schütteln, sich waschen, Butter und Marmelade auf zwei Scheiben Toastbrot schmieren und sich eine Kanne Kaffee aufbrühen.

Wem dieses Bild zu idyllisch ist, daß niemand jeden Tag so angenehm aufwachen kann. Skeptiker fürchten die gefährlichen Trübungen der Nacht: Schlaflosigkeit und Alpträume, Grübeleien im Halbschlaf, schon wieder schlechtes Wetter, Kälte, Windböen und anhaltende Regenschauer. Aber an einem Frühsommertag im wunderschönen Monat Mai verlieren solche Unbilde von Tiefdruckgebieten und schlechter Laune an Wahrscheinlichkeit. Mir kommt es auf den sanften, warmen Anfang an: Jeder muß schlafen, und jedes Aufwachen verbindet sich mit Anfang und Öffnung, mit Staunen und Neubeginn, mit Tatkraft, Konzentration und Lebensmut, selbst wenn Laune und Luftdruck nicht an jedem Tag so richtig mitspielen.

Der Predigttext spielt ein das Thema der Weisheit, die wörtlich gar nicht auftaucht. Wer weise werden will, muß aufwachen und anfangen. Weisheit ist ein Morgenthema - charakterisiert durch Staunen und Öffnen der Augen, durch neue Pläne und die Bereitschaft, gute Ideen und Schönheit mit Leichtigkeit in die Tat umzusetzen. Liebe Schwestern und Brüder, ich spreche über die Weisheit, weil sie als symbolische Figur durch unseren Predigttext tanzt. Das liegt an Zuschnitt und Abgrenzung des biblischen Kapitels. Dieses erzählt von einer nicht benannten Person, die von Anfang an bei der Erschaffung der Welt dabei war. Weisheit war schon in und bei Gott, bevor er mit der Schöpfung der Welt seinen Anfang nahm. Alle Zuhörer spüren die Bilderwelt der Schöpfungserzählung aus dem 1.Buch Mose: Gott erschafft die Welt aus dem Tohuwabohu und am siebten Tag ruht er sich aus. Dabei ist er, so sagt es der Predigttext, nicht allein. Tanzend und springend und jubelnd begleitet ihn die symbolische Figur der Weisheit. Sie ist nötig, um die Schöpfung, die aus der Herrlichkeit Gottes entspringt, auch wahrzunehmen und zu verstehen. Diese biblische Welt entsteht nicht aus den Streitereien unzähliger Götter, die in Sternen und Planeten personifiziert werden; diese Welt entsteht aus dem klugen und weisen Schöpferwillen eines - des einzigen Gottes. Und Klugheit und Weisheit bleiben nicht bei Gott, sondern sie übertragen sich auf den Menschen, der nur aus seinem Schlaf erwachen muß, um staunend, dankbar, mit offenem Mund und hoffentlich einem Choral auf den Lippen die Schönheit von den Tulpenblüten über die Kokospalmen bis zu den Schäfchenwolken wahrzunehmen.

Die Weisheit, die schon bei der Schöpfung der Welt dabei war, diese Weisheit können die aufwachenden und aufgeweckten Menschen gut gebrauchen – jeden Morgen. Die Schläfer bereiten den Übergang von der Erholung der Nacht zu den Lebensvollzügen des Alltags vor, und am Anfang, sprich Übergang, entscheidet sich alles. Der Predigttext wirbt für die Weisheit in einer Bildergeschichte. Weisheit ist weder Eigenschaft noch Tugend noch Ordnung, nicht abstrakt und nicht intellektuell; sie erscheint als eine Person, mehr: als eine Schönheit. Und sie führt vor Gott einen Tanz auf. Wer gerade aufgewacht ist und gefrühstückt hat, der kann sich frisch gestärkt auf einen swingenden Rhythmus einlassen. Weisheit spielt und tanzt mit Gott; in Versuch und Irrtum lotet sie Schönheiten und Abgründe dieser Welt und des menschlichen Lebens aus.

Die von Gott geschaffene Welt steht nicht still. Sie ist in Bewegung; ständig ergeben sich Konflikte und Hindernisse, Abgründe und Verzweiflung, Schwierigkeiten und neue Aufgaben. Gerade die moderne Welt ist vielfältig, kompliziert und darüber unübersichtlich geworden. Wer sich in die Welt begibt, fühlt Streß und Überforderung. Trotz des Frühlingssonnenscheins eines Maimorgens fühlen sich viele aufwachende Menschen verzweifelt oder traurig. Die Gründe dafür reichen von der globalen Erwärmung, welche alle Lebensgrundlagen zerstört, bis zum Feinstaub der Verzagtheit und dem Meltau einer Depression.  Vielfältige Lebenswelt erscheint in den leuchtenden bunten Farben der Schönheit der Schöpfung wie in den schwarzen und grauen Tönen der Traurigkeit. Und manchmal wechseln die Farben mehrmals am Tag. Ich könnte dieses Bild nun weiter ausmalen, aber ich unterstelle Ihnen allen, liebe Schwestern und Brüder, daß Sie wissen, was ich meine, und selbst das Bild mit eigenen Erfahrungen ausmalen könnten. Statt dessen gehe ich auf die wichtigere Frage ein, wie sich ein aufwachender und glaubender Mensch, der mitten im Leben stehen will, zu diesem ständigen Wechsel der Farben der Welt verhalten soll. Ich will fünf Möglichkeiten ansprechen, dem eigenen Leben in der Welt eine bestimmte Richtung zu geben: die Vernunft, den Rückzug der Meditation, ein gesteigertes intensives Leben, den (vereinzelten) Glauben und zuletzt die Weisheit, die aus dem Gottesglauben hervorwächst.

Wenn die Weisheit eine Tänzerin ist, so ist die Vernunft eine kluge und vorausschauende Spaziergängerin. Sie erklärt die Welt aus Ursache und Wirkungen; sie handelt, indem sie Zwecke setzt und diese mit Hilfe aller gebotenen Mittel zu erreichen sucht. Und insofern brauchen alle Menschen Vernunft, auch diejenigen, die eher auf Glaube und Weisheit setzen wollen. Der Vernunft wohnt auch ein kaltes Moment inne: Sie neigt dazu, Lebensverhältnisse auf Zahlen und Sachzwänge zu reduzieren, und sie überschätzt gelegentlich die Reichweite ihrer intellektuellen Mittel. Wer sich allein auf den Verstand verläßt, der neigt auch zu Mißtrauen. Deswegen favorisiert die Vernunft Geometrie, Überschaubarkeit und Berechnung, und es fehlt ihr oft an Liebe, am Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit und Endlichkeit. Genauso oft fehlt es ihr an der nötigen Begeisterung. Tanzend kann man sich die Vernunft nicht vorstellen.

Der Rückzug in die Meditation ist in östlichen Religionen weiter verbreitet als im Christentum. Ihre symbolische Figur ist der sitzende Mensch mit geschlossenen Augen. Ihr Klang ist die Stille. Der Meditierende zieht sich an einen abgelegenen Ort zurück, um sich aus dem Spiel von Bewegungen, Entwicklungen und Fortschritten zu befreien, die seine Lebenswelt ausmachen. Bewegung und Fortschritt empfindet er als Fremdbestimmung, und deswegen zieht er sich zurück, um im Stillstand von Gefühlen und Gedanken neue Kraft zu schöpfen. Auch darin liegt ein Element der Weisheit, aber es wird problematisch, wenn der Wechsel von Meditation und aktivem Leben gesteigert wird zum völligen Rückzug aus der Welt. Dieser lebt von der Unterstellung, daß der einzelne in der Welt nur Schaden anrichten könne. Und dieses Element der Verweigerung hat nach meinem Eindruck nichts Weisheitliches mehr.

Der dritte Weg, sich in der Lebenswelt zurechtzufinden, besteht darin, sich auf immer intensivere Erfahrungen zu einzulassen. Die Figur des intensiven Lebens ist der Bungeespringer. Er sucht das kalkulierte Risiko, um über der Angst vor dem Absturz einen besonderen Grad von Konzentration zu finden, der ihn seine Lebensangst, seine Sinnsuche, seine Grübeleien vergessen läßt. Im Moment des Sprungs von der Rampe ist er ganz Gegenwart, ganz Konzentration; er ist ganz bei sich selbst, kann Vergangenheit und Zukunft vergessen, die aber Momente später, nach dem Sprung umso dringlicher zurückkehren. Die intensive Erfahrung besitzt keine Nachhaltigkeit, sie muß zum einen immer wiederholt, zum anderen immer wieder gesteigert werden. Erfahrungen der Intensität können das Lebensgefühl steigern, aber letztlich sind sie wie eine Droge, deren Dosis stets nach Steigerung verlangt.

Der Weisheit steht eine vierte Figur gegenüber, der Glaube. Wie bei Vernunft, Meditation, Intensität besteht hier eine Verwandtschaft mit der Weisheit, von der gleich die Rede sein soll. Wer sich allein auf den Glauben verläßt, der vergißt, daß der Glaube anders als die Vernunft keine Sicherheiten, sondern nur Gewißheiten zu bieten hat. Wer glaubt, der vertraut. Glaube geht nicht auf im verpflichtenden Für-Wahr-Halten von angeblichen Fakten des Übernatürlichen. So mißverstehen Evangelikale, Fundamentalisten, Sektierer und oft auch klerikale Bürokraten den Gottesglauben. Deswegen ist es falsch, den Glauben zu isolieren, ihn in ein Gefängnis der eigenen Sicherheit und der eigenen kleinen Gemeinschaft einzusperren – und dann in der Welt dem zu folgen, was sich an Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens bietet.

Die reine Vernunft berechnet zu viel, ohne zu lieben und ohne über die Schöpfung zu staunen. Der isolierte Glaube verbreitet Wahrheiten über die transzendente Welt, die er nicht belegen kann. Meditation erstarrt, wo sie in den völligen Rückzug aus der Welt übergeht. Intensives Leben braucht ständige Wiederholung und Steigerung, um die gewünschte Erfahrung zu erzielen.

Der Predigt stellt die Weisheit als eine Tänzerin vor. Deshalb ist für eine Weisheit zu plädieren, die gleichermaßen von Glauben und Vernunft bestimmt ist. Wer glaubt, daß Gott und die Weisheit die Welt geschaffen haben, der kann sich nicht ganz statisch auf eine fixierte Ordnung zurückziehen, die er nur zu akzeptieren hat. Weisheit meint ein Denken und Glauben, das in Bewegung ist, mindestens Spaziergangstempo, wenn nicht Gymnastik oder sogar Joggen. An manchen Stellen unbedingt Rock’n’Roll. Glaubende Weisheit beginnt mit dem Aufwachen. Wer merkt, daß er nicht in einer materialistischen Welt, sondern in einer guten Schöpfung lebt, der sucht nach den Spuren Gottes, um darüber zu staunen. Wer merkt, daß die eigenen intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten begrenzt sind, der fällt weder in Grübeln oder Grämen zurück, sondern der macht sich bereitwillig auf einen Weg des Lernens. Was Joggen für den Körper, ist aktive Weisheit für Gehirn und Bewußtsein. Weisheit hängt zusammen mit Bewegung: mit Maßhalten, Balancieren, Ausgleichen. Es gilt, eine Haltung der Achtsamkeit für Schöpfung und Mitmenschen einzuüben. Weisheit ist die bewegliche Aufmerksamkeit für die Tatsache, daß Gott diese Welt erschaffen hat, sie erhalten und erlösen will. Und wer sich weisheitlich bewegt beim Denken, der kann auch Entdeckungen machen bei all den anderen, die sich schon übend und trainierend um Weisheit bemüht haben, bei allen Menschen und Lehren, nicht nur bei den Anhängern der eigenen Religion, der eigenen Partei und der vielen intellektuellen Kleingärtnervereine. Weisheitlicher Glaube übt keinen Zwang zur Dummheit und Einfachheit aus, er ist offen für viele vorläufige Lösungen. Der Tanz der Weisheit gebiert keine Ungeheuer, sondern er schafft neue Lösungswege, Respekt und Anerkennung von Diversität.

Kann man das lernen? Liebe Schwestern und Brüder, ja, das kann man lernen. Und es wäre für die Gemeinden besser, solche Volkshochschulen glaubender Weisheit einzurichten als Mandalas zu malen, klerikale Bürokratie aufzubauschen oder nun wirklich jedem Trend hinterherzulaufen, den der Zeitgeist auf seine schnell veraltenden Werbetafeln schreibt. Weisheit ist ein Geschenk Gottes – wie die Auferweckung des Jesus von Nazareth, mit der Gott den Tod überwindet.

Mit und in diesem Geschenk der Weisheit kann jeder Glaubende lernt. Man lernt gerade nicht, Standpunkte einzunehmen und Recht zu haben und Mauern zu bauen und die vermeintlich Schlechten auszuschließen. Wer sich von der Weisheit faszinieren läßt, der lernt, sich geistig und geistlich zu bewegen, der lernt zu tanzen – und dabei zu lächeln, zu staunen und die Schönheit der Welt in jedem Sonnenstrahl wahrzunehmen. Die Weisheit tanzt mit Gott, und deshalb tanzen die Weisheit lernenden Menschen in und mit der Welt. Ein wenig geistlicher Rock’n’Roll muß sein. Amen.