„Ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir" - Predigt zu Hebräer 4,9-11 von Katharina Wiefel-Jenner
4,9-11

„Ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir" - Predigt zu Hebräer 4,9-11 von Katharina Wiefel-Jenner

„Ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir“

Somit wartet auf Gottes Volk noch eine Zeit vollkommener Ruhe – die ´wahre` Sabbatfeier. Denn wer an Gottes Ruhe Anteil bekommt, darf von all seiner Arbeit ausruhen, genauso wie Gott ruhte, als er alles erschaffen hatte.

Setzen wir also alles daran, an dieser Ruhe teilzuhaben, und lassen wir uns den Ungehorsam jener früheren Generation als warnendes Beispiel dienen, damit wir nicht wie sie zu Fall kommen! (in der Neuen Genfer Übersetzung NGÜ)

Wem dürfen wir mit unserer Trauer in den Ohren liegen? Wer bleibt geduldig mit uns? -  Es ist November und die Dunkelheit bietet der Trauer ein Zuhause. Weil die Sonne wegschaut, dürfen die Tränen fließen. Weil die Nächte immer länger werden, dürfen sich die Erinnerungen hinauswagen. Das Vergessen will seine Macht über unser Erinnern demonstrieren, aber wir schützen unsere Lieben! Wir halten fest an ihnen, geben sie nicht preis. Sie gehören noch immer zu uns. Sie gehören zu uns und doch gehören sie uns nicht mehr. Sie haben sich von uns getrennt. Im Schutz der Dunkelheit entfernen sie sich von uns. Sie gehören dorthin, wo wir noch nicht sind. 

Und das trauernde Herz fragt:

Geht es ihnen dort gut? Haben sie dort gefunden, wonach sie hier suchten? Sind sie angekommen?

Das trauernde Herz fragt im dringlichen Ton und hört Worte von fachmännisch objektivem Nichtwissen. Die Trauer entlarvt die Antworten der kühlen Besonnenheit als hohl. Der Schmerz übertönt das moderate Gespräch zu den letzten Dingen, das bei Kerzenschein und leisen Klängen inszeniert wird. Und irgendwann ist die Trauer wichtiger als die wohlmeinenden Antworten der Welterklärer und Berater. Im Schutz der November-Dunkelheit scheut sich das Herz nicht mehr nach dem Schicksal der Lieben zu fragen. Jetzt hat seine Stunde geschlagen. Jetzt fürchtet es weder Menschen noch Gott. Jetzt erinnert es Gott an die Worte von einst. Jetzt besteht es darauf, dass auf alle Gotteskinder das große Glück der vollkommenen Ruhe wartet. Und jetzt  muss das Herz auf diesen Worten von einst beharren: Unsere Lieben haben vollkommene Ruhe bei Gott gefunden.

Ist das gewiss? Die Erinnerungen sprechen eine andere Sprache. Hier sind unsere Lieben nie zur Ruhe kommen. Sie kannten vor allem die Mühsal. In unseren Erinnerungen sehen wir, wie sie sich aufgerieben haben. Das Herz erinnert sich an ihre Müh und Plag. Es sieht, wie sie gearbeitet haben, Lasten getragen, gesorgt und standgehalten haben. Vor dem Morgengrauen, in der Mittagshitze, trunken vor Müdigkeit. Sieben Tage die Woche, kaum Pausen, immer verantwortlich, immer mit der Absicht, das Chaos zu bannen und das Leben zu schützen. Es sollte ihnen nicht passieren, dass irgendeines der Kinder hungrig bleibt. Es sollte ihnen nicht passieren, dass sie am Abend nicht für den nächsten Morgen vorbereitet waren. Es sollte ihnen nicht passieren, dass sie irgendjemandem etwas schuldig blieben. Sie haben für die anderen zuerst gesorgt und in Momenten der Ruhe wurden sie vom Schlaf überwältigt.

Wer, wenn nicht sie, hätte wirklich Ruhe verdient? In der Stunde der Trauer erinnert das Herz Gott an die Worte von einst: Du hattest ihnen einst die vollkommene Ruhe versprochen; auch du hast geruht, nach dem aus Chaos Ordnung, aus Wasser und Licht Leben und aus Himmel und Erde unsere Welt wurde. Bleibst du bei deinem Wort, Gott? – und: In der Dunkelheit der Trauer steht Gott zu den Worten von einst.

Nun gut! Das trauernde Herz darf für die Geplagten auf Gottes Treue trauen. Was ist mit denen, die schuldig wurden? In den Erinnerungen ist für Ruhe kein Platz. Sie sind gefüllt mit Traurigkeit, Versagen, Schuld. In den Nächten der Schuldigen öffneten sich die Saaltüren zum schrecklichen Gericht. Die Hände, die sie nicht ergriffen hatten, streckten sich ihnen erneut entgegen. Die Worte, die sie anderen eingebrannt hatten, klangen nach. Die Schreie der Vergangenheit dröhnten in ihren Ohren und wurden aus den eigenen Mündern laut. Ruhe? Dürfen sie überhaupt zur Ruhe kommen? Nach all ihrer Schuld? Genügten die nächtlichen Gerichtsszenen nicht? Auf welche Ruhe soll das zurückgebliebene Herz bei den Schuldigen hoffen? Nur auf die Friedhofsruhe? Das Herz erinnert sich: Barmherzig und gnädig ist der Herr und die Schuldigen dürfen hoffen. Dem Herz erscheint das Bild des unbestechlichsten aller Richter. Wird sein zweischneidiges Schwert die Schuld von den Schuldigen wegschneiden und auch sie in der vollkommenen Ruhe willkommen heißen? Wird sich der Richter selbst statt ihrer der brennenden Worte annehmen, die verweigerte Hand reichen, das Unerträgliche tragen?

Das Herz, das die Schuldigen liebt, hofft auf den unbestechlichen Richter. Eine andere Hoffnung gibt es nicht. Bleibst du bei deiner Barmherzigkeit und Gnade, Gott? - und: In der Dunkelheit der Trauer steht Gott zu den Worten von einst.

Und das trauernde Herz fragt weiter für die, die nie in ihrem Leben angekommen waren. Was ist mit denen, die in längst vergangenen Zeiten heimatlos geworden sind?  Bis zu ihrem Ende hat sie niemand zu den Einheimischen gezählt. Bis zu ihrem Ende haben sie gehofft, dazugehören zu dürfen; gehofft, die Liebe zu empfangen, die sie selbst so reichlich in sich hatten. Sie haben sich verausgabt; gegeben, was sie hatten, damit sie gesehen und geliebt werden. Das Herz fragt für die, die sich von dieser maßlosen Sehnsucht ernährten. Sind sie endlich zur Ruhe gekommen? Hat ihr Suchen und Sehnen endlich ein Ende gefunden? Das Herz, das um die Heimatlosen trauert, schreit es Gott entgegen: Wenn nicht einmal du ihnen Heimat geben willst, wer dann? Wenigstens du, Gott! Du musst dich ihrer annehmen! Wo sollen sie zur Ruhe kommen, wenn nicht bei dir? Du hast sie wie die Israeliten aus der Sklaverei geholt. Nun lass sie nicht weiter heimatlos durch die Wüste ziehen. Du hast sie auf dem Berg versammelt und sie mit Brot und Fisch gespeist. Du hast sie geheilt. Du hast dich selbst in ihre Häuser eingeladen. Du musst. Du, Gott, bist das Ziel aller wirklichen Sehnsucht. Gib dich zu erkennen. Du bist die Heimat für die Heimatlosen. Öffne den Getriebenen deine Tür. - und: In der Dunkelheit der Trauer steht Gott zu den Worten von einst.

Das trauernde Herz liest die Worte von einst. Der Tod seiner Heiligen wiegt schwer bei Gott (Ps116,15). Gott sind die Toten genauso wenig egal wie uns. Der Tod hat uns von ihnen getrennt und wir halten fest an ihnen, geben sie nicht preis. Sie gehören noch immer zu uns. Aber sie gehören schon dorthin, wo wir noch nicht sind. - Und Gott steht zu seinem Wort. Unsere Toten haben schon die vollkommene Ruhe gefunden, die wir ihnen nicht geben konnten. Sie haben schon die Ruhe, die wir noch entbehren - aus Sorge, in Müh und Plag, in Schuld, mit Sehnsucht. - Und Gott steht zu seinem Wort. Das trauernde Herz muss nicht mehr im dringlichen Ton fragen, ob es den Toten gut geht. Es muss sich fragen, wonach es selbst Ausschau halten soll.