Sehnsucht nach dem Paradies – Predigt zu 1. Korinther 13,8-13 von Anja Lochner
13, 8-13

Sehnsucht nach dem Paradies – Predigt zu 1. Korinther 13,8-13 von Anja Lochner

Liebe Gemeinde,

Es ist überwältigend! schwärmt einer, der hier Urlaub macht. Seit vielen Jahren schon. Und jedes Jahr wieder ist es so: überwältigend. Der erste Blick aufs Meer. Bis zum Horizont direkt in den Himmel hinein. Und dann: die Schuhe ausziehen! Mit nackten Füßen an den Flutsaum laufen, rennen!, an die Grenze zwischen Wasser und Land, zwischen festem Grund unter den Füßen und blauer Unendlichkeit.

Mama guck mal – das Meer! Ferienkinder werfen den allerersten Blick. Eigene Kindheitserinnerung wird wach an sommerlanges Buddeln am Strand. Tunnel, Burgen, Murmelbahnen. Zeit-und selbstvergessen.

Ein Theologe des 19.Jh. – Friedrich Schleiermacher war sein Name – hat den Blick auf Meer für den Grund aller Religion gehalten. Tatsächlich kommt manchem am Meer Gott nahe. Vielleicht weil seit Beginn der Zeiten sein Geist über den Wassern schwebt.

(Schauen Sie mal auf Seite 1 Ihrer Bibel nach.)

Stell dir vor, dir bleibt nur noch wenig Zeit zum Leben, sagt eine, was würdest du unbedingt noch tun. – Dies und das zählt sie auf und: noch einmal das Meer sehen.

Urlaubsträume sind oft Meeresträume. Im Urlaub suchen wir das Weite – und was ist weiter als das Meer? Der Mensch wird still angesichts des Unendlichen. Dort das ewige Kommen und Gehen - und hier das eigene kleine Leben.

Wenn ich sehe das Meer... deiner Finger Werk, Sterne, Sonne, Mond ... was ist schon der Mensch, dass du seiner gedenkst – fragt ein alter Psalm. Und er gibt selbst die Antwort: keine Sorge – Gott gedenkt ja seiner Menschen, Gott weiß, er nimmt sich seiner Menschenkinder an, sie liegen ihm am Herzen.

Das Meer verwandelt. Den härtesten Kerl in einen Romantiker. Sonnenuntergänge sind die größten Attraktionen hier – manchmal gibt es sogar Applaus! Beifall für das großartige Schauspiel am Meer. Und für ihren Regisseur.

Corinna Masekowsky:

Erich Fried hat einmal geschrieben:

Wenn man ans Meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den letzten Grashalmen
soll man den Faden verlieren

und den Salzschaum
und das scharfe Zischen des Windes einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen

Wenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nichts mehr wollen wollen

nur Meer

Nur Meer

(Erich Fried)

 

Pastorin Anja Lochner:

Wenn man ans Meer kommt... soll man zu schweigen beginnen... und aufhören zu sollen und nichts mehr wollen wollen ...nur Meer, schreibt Erich Fried.

– es sind seltene glückliche Momente, in denen das gelingt.

Wenn ich ans Meer komme,

denk ich vielleicht schon wieder: ich hätte doch lieber in den Süden fahren sollen, womöglich regnet‘s morgen, wer weiß.

Denk ich vielleicht schon wieder: was sind zwei Wochen… hier müsste man sich eine Wohnung leisten können, aber wer kann das schon.

Denk ich vielleicht schon wieder: an die Kollegin gestern im Job und merke den Ärger noch immer in mir.

So ist das mit dem Paradies – es gibt so Augenblicke. Glücksmomente und nichts mehr wollen wollen. Doch kaum haben wir einen zu fassen, entwischt er uns schon wieder.

Oder wir machen ihn selbst kaputt.

Wenn die Saison zu Ende ist im Urlaubsparadies, sammeln wir, was so liegen blieb und angeschwemmt wurde - 10 Kubikmeter Plastik allein im Naturschutzgebiet am Sylter Ellenbogen. Kaum haben wir einen Zipfel zu fassen, machen wir ihn selbst kaputt.

Der Apostel Paulus schreibt von Bruchstücken. Die Zipfel, die Glücksmomente, die Lieblingsorte. Lauter Bruchstücke. Teile.

Und stets sind wir auf der Suche - und irgendwie auch süchtig, sehnsüchtig - nach dem Ganzen.

Ähnlich dem kleinen Häwelmann. Kennen Sie ihn? Theodor Storm hat die Geschichte aufgeschrieben. Der kleine Häwelmann will nicht schlafen. Er will in seinem kleinen Rollenbett lieber gefahren werden. Aber es reicht ihm nicht. Er schreit immer nur „mehr!“… „mehr...!“ Hoch hinaus will er in seinem Rollbettchen. Nicht genug kann er bekommen. Fliegt er über die Stadt, will er zum Wald, will er zum Mond und den Sternen … und immer noch: mehr, mehr! Hat er einen Zipfel zu fassen, will er das Ganze. Erlebt er einen wunderbaren Augenblick - statt ihn zu genießen,- verlangt er: verweile doch, du bist so schön. Das Glück soll ewig dauern. Und ist gewiss noch zu steigern.

Die Schmetterlinge im Bauch der Verliebten. Mehr, mehr. Nochmal, nochmal!

Paradiesisch soll das Leben sein. Perfekt. Die perfekte Liebe. Der perfekte Job. Der perfekte Körper. Gesund und schön.

Jenseits von Eden lockt noch immer die Schlange, die einst Adam und Eva im Paradies verführte. Vertraue mir… ich zeige dir, wie du vollkommen wirst. Du musst dich nicht mit Bruchstücken zufrieden geben. Ich zeige dir das Ganze, das vollkommene Glück.

Und so suchen wir unser Heil: im Urlaub auf Sylt. Und wehe es regnet! Wehe, es gibt Streit! Oder der Tisch im Lieblingsrestaurant ist besetzt. Wehe, wir stoßen auf Flüchtlinge hier im Urlaubsparadies.

Wir suchen unser Heil in Heilsversprechen. Du musst deinen BMI erreichen. Deinen ganz persönlichen Body-Mass-Index. Dann wirst du dich wohlfühlen in deinem Körper. Dann wirst du lange glücklich und gesund und begehrt leben.

Oder: lebe vegan. Und du kannst wahlweise dich selbst oder die Welt retten. Tatsächlich versprechen manche vegane Vereinigungen, dass der Körper nicht älter, sondern jünger wird!

Wir jagen dem idealen Körper, der optimalen Partnerschaft, dem vollkommenen Urlaub nach – doch das erstrebte Ziel ist nicht zu erreichen. Denn da geht mit Sicherheit immer noch was. Immer noch besser. Noch mehr. Noch perfekter. Eine gnadenlose Jagd..

Fulbert Steffenski schrieb einmal: Es gibt Leiden, das durch überhöhte Erwartung entsteht, durch die Erwartung, dass die eigene Ehe vollkommen sei; dass der Partner einen vollkommen erfülle; dass der Beruf einen vollkommen ausfülle; dass die Erziehung der Kinder vollkommen gelingt. So ist das Leben nicht. Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halber guter Vater, eine halbe gute Lehrerin, ein halber glücklicher Mensch, und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben, Die Süße und die Schönheit des Leben liegt im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen alles zu sein

Wie hat Paulus gesagt?

Jutta Ringele:

als ich ein Kind war,

redete ich wie ein Kind.

Ich urteilte wie ein Kind

und dachte wie ein Kind.

Als erwachsen geworden war,

legte ich alles Kindliche ab.

Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke.

Aber dann werde ich vollständig erkennen,

so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.

Pastorin Anja Lochner:

Wir haben einen gnädigen Gott! Er hat uns erschaffen wie wir sind: begabt und begrenzt. Und vor allem geliebt! Hör auf zu jagen, sagt er. Hör auf, so gnadenlos zu sein mit dir selbst und der Welt.

Schau, was alles da ist. …. Auch wenn sicher was fehlt, etliches besser sein könnte, Schau auf das, was du bist, was dir anvertraut ist, was du kannst.

Wir können die Welt nicht in ein Paradies (zurück)verwandeln, aber wir können sie lieben und achten und vieles zum Guten wandeln, sie kein Paradies, aber doch eine Heimat sein lassen für viele.

Wir können nicht die vollkommene Liebe leben, werden uns immer wieder auch streiten, verletzen, auf die Nerven gehen. Aber wir können zu lieben versuchen, einer den anderen und auch uns selbst.

Diese Welt ist nicht das Paradies und wir werden es auf Erden auch nicht finden, es sei denn die Not und das Elend der anderen, die mit uns auf dieser selben Erde leben, sind uns gleichgültig.

Aber wir können auf paradiesische Bruchstücke stoßen, und sie sind Teile eines größeren, eines großartigen Ganzen.

Wenn man ans Meer kommt… und wenn der Sonnenuntergang so schön ist. . Wenn wir Liebe erleben. Wenn das Flüchtlingsmädchen in der Schule meiner Tochter wieder lachen gelernt hat. Lauter Bruchstücke, wie die Spiegelstücke in einem Kaleidoskop.

Jutta Ringele:

Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke.

Aber dann werde ich vollständig erkennen,

so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.

Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei.

Doch am größten von ihnen ist die Liebe.

Pastorin Anja Lochner:

Jetzt nur Bruchstücke, sagt Paulus, aber dann. Dann am Ende die Liebe ganz und gar. Sie ist, was bleibt. Sie ist, worauf alles ankommt.

Jetzt Bruchstücke, Hinweise , Vorgeschmack aufs Kommende. Dann ist Gott alles in allem.

Das Beste liegt vor uns, es kommt zum Schluss. Gott hält es für uns parat. Versprochen.

Amen