Sehnsucht nach Zuhause - Predigt zu 2. Korinther 5,1-10 von Helmut Dopffel
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Sehnsucht nach Zuhause - Predigt zu 2. Korinther 5,1-10 von Helmut Dopffel

Sehnsucht nach Zuhause

Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.

Liebe Gemeinde,

ein Mensch ist ein Mensch. Und auch wenn sich in zweitausend Jahren viel mehr verändert hat als wir uns vorstellen können, nicht nur politische Landkarten und Ordnungen, Technik und Medizin und sogar die antiken Küstenlinien, sondern auch Haltungen und Denkweisen und Werturteile, so bleiben uns die Menschen von damals doch merkwürdig nahe, und wenn wir lesen was sie geschrieben haben so merken wir: Diese Fragen habe ich auch, diese Freude hat auch mich schon mitgerissen, diese Angst bricht auch in meinem Leben immer wieder auf. Diesen Hunger nach Anerkennung und Erfolg, diesen Liebesschmerz, diesen Stolz, diese Enttäuschung kann ich ganz genau nachfühlen, denn ich kenne sie. Leben, Sterben, und was kommt danach? Kommt noch etwas? Darüber schreibt Paulus, und das verstehen wir.

Das Leben: eine elende Hütte, in der wir stöhnen, eine Last, die es uns schwer macht; und manchmal fühlt sich das Leben so fremd und unsicher an, als gehörten wir gar nicht hierher, als verstünde uns keiner, als verstünden wir uns nicht einmal selber, als wären wir nicht einmal in unserem eigenen Körper zuhause, als wäre da niemand dem wir trauen könnten. Und doch kann es eine Ehre und ein Vergnügen sein, in dieser Hütte zu leben, diesen Leib zu haben und zu spüren, diese Last zu tragen. Und manchmal ahnen wir ein geheimnisvolles Mehr, wie ein Vorgeschmack auf der Zunge, wie Frühlingsduft in der Luft.

Und was kommt nach dem Tode? Auch das beschäftigt uns genauso wie die Menschen damals. Vor allem im November, vor allem an einem Tag wie heute, da wir der Toten der Kriege, aller Kriege gedenken. Wenigstens in der Erinnerung anderer fortzuleben, das hoffen die, die wenig hoffen. Oder in einem schönen, in sanften Farben gemalten Land. Paulus erhofft mehr: Dann werden wir zuhause sein, leicht und ohne Last, ein neues Kleid bekommen, in einem schönen Haus leben und nicht in einer Hütte, daheim sein beim Herrn. Unser Leben wird nicht einfach versinken in stummer Vergangenheit, sondern offenbar und gewürdigt werden, mit allen Licht- und Schattenseiten.

Aber deshalb gleich sterben? Die Hütte abbrechen, nackt dastehen, ins Nichts gehen, den Leib zurücklassen, vermodern oder verbrennen lassen, ausgeliefert sein? Nackt, bloßgestellt, da haben wir nichts mehr, nicht einmal mehr das letzte Hemd, da sind wir gar nichts mehr. Und der Zweifel: Werden wir vor Gott stehen – oder ins Nichts gehen? Davor haben wir nun doch auch Angst. Und wir dürfen Angst haben, auch ganz gläubige und christliche Menschen dürfen Angst vor dem Tod haben. Sogar Paulus hat Angst

Paulus beschönigt weder das Leben noch das Sterben. Und obwohl er sich sehnt nach dem Glanz des Himmels und der Ewigkeit und der Nähe Gottes, und obwohl er ja eigentlich diese elende Hütte von Leib verlassen will und bei Gott sein, fürchtet er das Sterben, und setzt genau das auch bei den anderen Christen voraus, denn er spricht ja von „wir“. Der Tod – was bleibt da von uns noch? Denn die Erinnerung an uns wird verblassen, und auch die Liebe, die andere Menschen für uns empfinden, wird verschwinden, allen gegenteiligen Versicherungen auf Todesanzeigen zum Trotz. Stürzen wir dann in das Vergessen und die Lieblosigkeit? So scheint es ja, wenn wir nur Irdisches wahrnehmen.

Was lässt sich angesichts dessen sagen? Was lässt sich angesichts dessen christlich sagen?

Zuerst: Es gibt keine genaue Beschreibung des Weges nach drüben, durch den Tod und in die himmlische Welt. Keine Landkarte; kein Jenseits-Navi. So etwas kennt Paulus nicht, und davon finden wir auch sonst merkwürdig wenig in der Bibel. Das ist offenbar nichts, was wichtig wäre, nichts, auf das wir uns verlassen sollen und können.

Und zweitens: Sehnsucht. Sehnsucht nach Heimat, Sehnsucht, zuhause zu sein. Heimat, Zuhause: das sind wir da, wo sich alles von selbst versteht, wo alles einfach und klar ist und nichts mühsam erklärt werden muss. Woher kommt diese Sehnsucht? Man könnte nun Paulus missverstehen und sagen: Die Sehnsucht kommt aus dem Lebensüberdruss. Und ein bisschen klingt das bei Paulus auch so, wenn er von der elenden Hütte schreibt und der Last, und das ist ja nicht nur angesichts dessen, was er alles durchgemacht hat in seinem Leben verständlich. Auch wir selbst können das ja sehr gut nachvollziehen, das Gefühl: Es ist genug! Es reicht! Ich kann nicht mehr, und ich mag nicht mehr. Es sind ja nicht nur die großen Katastrophen, die Menschen auszehren, es sind auch die kleinen unguten Kompromisse, die kleinen Lügen, das Frisieren der eigenen Fassade, um den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Das wird alles so furchtbar anstrengend. Und wir werden uns selbst fremd auf unserem Lebensweg und verlieren unsere eigene Wahrheit. Wo sind all die Indianer hin? Wer bin ich eigentlich?

Aber vor allem: Wir können Gott mit unseren Augen nicht sehen, mit unseren Ohren nicht hören, mit unseren Händen nicht spüren. Und auch unser Glaube ist eben nur Glaube und nicht Schauen, ist weit von Gott.

Speist sich daraus unsere Sehnsucht, aus dem Mangel, den Defiziten, aus dem Weltschmerz, aus der Verzweiflung, aus all dem, was uns fehlt? Man könnte Paulus so verstehen, und es wäre auch plausibel. Aber: Seine Sehnsucht nach dem Himmel, nach der Ewigkeit, nach Gott kommt nicht aus dem was fehlt, aus dem Mangel, aus der Enttäuschung, aus dem Gefühl: das kann doch nicht alles gewesen sein. Die Sehnsucht des Paulus speist sich aus dem was er empfangen hat: Unterpfand des Geistes nennt er es. Unterpfand, das ist wie ein Vorgeschmack, wie ein Duft der in der Luft liegt. Ich hab‘s geschmeckt, ich hab‘s gehört, ich hab‘s gesehen.

Der Vorgeschmack: Wie schmeckt denn die Ewigkeit, der Himmel? Wie schmeckt – Gott?

Vielleicht so wie Musik die uns verzaubert und wir vergessen Zeit und Raum? Wie ein Abend am Strand? Wie ein Mensch, der uns glücklich macht? Wie die große Freude, die in uns aufsteigt und alles schön und leicht und heiter macht? „…und die Blüte / Irdischer Liebe nahm ich mir zum Pfand / Für eine Welt des Geistes und der Güte.“ (M. L. Kaschnitz).

Vielleicht liegt auch in den großen Sehnsüchten des Lebens ein überirdischer Kern, obwohl sie so irdisch sind. Oder gerade weil sie so irdisch sind. Denn auch das Irdische trägt noch das Siegel Gottes. Deshalb: Gelobt sei der Staub… Die große Liebe. Das große Glück. Der große Frieden. Gerechtigkeit, nicht nur Recht. Freiheit, nicht nur außen, sondern auch in uns. Heimat, alles da, alles selbstverständlich. Kein Lied, kein Geschrei, keine Tränen. Das erhoffen und erwarten wir, und was wäre das Leben ohne diese großen Sehnsüchte? Vielleicht schmeckt der Himmel auch so?

Noch mehr schmecken wir Gott, wenn wir unterwegs und in der Fremde sind und plötzlich spüren: Diese Menschen, die mir jetzt freundlich begegnen und mich einladen, sind meine Brüder und Schwestern, oder die, die zu uns kommen als Flüchtlinge und Fremde, aus der ganzen Welt, aus allen Nationen, Rassen, Völkern, Kulturen. Sie sind meine Schwestern und Brüder, denn sie sind Kinder Gottes, wie ich.

Und wir schmecken Gott in den Geschichten von Jesus. In der Einladung zu Brot und Wein. Im Wort: Fürchte dich nicht. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.

Und drittens: Dann, dort, am Ort unserer Sehnsucht, werden wir „überkleidet“. Alles was an uns sterblich ist wird vom Leben „verschlungen“. Das ist wie eine Umarmung, wie ein Kuss, der neues Leben einhaucht. Wir erhalten ein neues Kleid, nicht von uns gemacht, nicht von uns gekauft, nicht von uns verdient. Und doch passt es, es ist unser Kleid, und noch mehr, es ist schön, nein, wir sind schön darin, und alle sehen es und sagen: Du siehst aber toll aus! Und keiner schaut neidisch oder eifersüchtig oder verächtlich, sondern alle freuen sich. Dann sind wir angekommen, sind zu Hause, in der Heimat. Dann schauen wir. Schauen – da muss man nur noch die Augen aufmachen, und alles ist ganz klar und einfach und eindeutig und ohne jeden Zweifel.

Ankommen, zuhause sein, Heimat finden: Ohne diese Hoffnung, ohne diesen Vorgeschmack können wir nicht leben. Vielleicht erklärt das auch, warum die Flüchtlinge, die aus aller Herren Länder heute zu uns kommen, vielfach freundliche Aufnahme in unserem Land finden. Natürlich gibt es auch immer noch die dumpfen Vorbehalte und aggressive Ablehnung. Natürlich sind die staatlichen Regelungen trotz mancher Verbesserungen immer noch unzureichend und manchmal beschämend. Und natürlich ist die Abschottung an den Außengrenzen der EU, die über Leichen geht und darin dem Terror des IS ähnlich ist, verwerflich und ein Schlag in Gottes Angesicht. Und dennoch: Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, erfahren hier viel Hilfe und Unterstützung durch staatliche Stellen und vor allem durch die sogenannte Zivilgesellschaft. Und oftmals sind Kirchengemeinden die Orte, wo sich Asylarbeitskreise und Flüchtlingsinitiativen organisieren. Woher kommt das? Offenbar ein Mitgefühl, die Fähigkeit, mitfühlen zu können mit denen, die ihre Heimat verloren haben, die in die Fremde fliehen, wo alles anders ist, wo sie kein Bett und kein Dach und kein Einkommen haben, die Sprache nicht sprechen, die Kultur nicht verstehen, schutzbedürftig auf der ganzen Linie. Offenbar wissen wir, wie sich das anfühlt. Weil ja auch wir einmal unsere Heimat verlieren könnten? Oder weil wir wissen, dass jeder Mensch ein Recht auf Heimat hat?

Und so wendet sich das Ende wieder zum Anfang. Es ist eine Ehre, Gott wohlzugefallen, schreibt Paulus. Hier und Jetzt, in diesem Leben. Denn wir werden alle offenbar werden. Wir werden gewürdigt, vor Christus zu stehen. Wir werden gewürdigt, unser Leben wird gewürdigt, angeschaut zu werden. Was haben wir gemacht, hier, in der Fremde, mit unseren Sehnsüchten, mit unserem Glauben, mit den Menschen um uns? Wie wird das sein? Man kann davon nur persönlich sprechen. Ich verstehe Paulus so: Da steht mir einer gegenüber, der alles weiß, der mich kennt, der mich besser kennt als ich mich selbst kenne. Und zugleich einer, der mich liebt, von Anbeginn der Zeiten. Er wird mir meine wahre Lebensgeschichte erzählen. Alles Gute und alles Böse und alles was dazwischen liegt und von dem ich nicht weiß wie ich es einordnen darf. Und ich werde mich wiedererkennen und mein ganzes Leben. Es wird schrecklich sein. Es wird gut sein.

Amen