Dieser Beitrag entstand für die Seite stichWORTp des Zentrums für evangelische Predigtkultur.
Wort
Feuerofen und Löwengrube - Daniel kommt durch alles durch. In der Kinderbibel wird von ihm und seinem spannenden Leben gerne ausführlich und reich bebildert erzählt. Ansonsten ist man sich über seine Bedeutung nicht ganz einig. Zu den Propheten gehört aus Sicht der jüdischen Auslegung eher nicht, seine Prophezeiungen beziehen sich schließlich nur auf die Zukunft und weniger auf die Gegenwart. In dem für den Sonntag Rogate vorgeschlagenen, neu zu erprobenden Text finden wir Daniel sehr auf dem Boden der Tatsachen wieder. Die Frage nach der Dauer des babylonischen Exils treibt ihn um. Sie bleibt für ihn unbeantwortet. Die Datierung in das erste Jahr der Herrschaft des Darius (Dan 9,1) ist, so wissen wir heute, reine Fiktion. Neu ist bei Daniel die Übertragung eines „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ auf das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk. Was im Dekalog in Ex 20, 5f. bereits anklingt, hat sich in der Wirklichkeit des babylonischen Exils (der erzählten Zeit des Danielbuchs) schmerzhaft erfüllt.
Und dennoch hält Daniel fest an der Zuwendung Gottes zu seinem Volk. Sein Buch ist ein „Trostbuch für Menschen, die in ihrer Existenz und Identität bedroht waren“[1]. Und ein Beispiel für die verändernde Kraft des Gebets. Gott bleibt gerade in der Anerkenntnis individuellen und kollektiven Versagens ein Gegenüber für Daniel. Sein Gebet ist nicht „Ersatz eigenen Handelns, sondern das Bewusstsein des Anerkanntseins, das zu einer neuen, erweiterten Sicht der Möglichkeiten des eigenen Handelns führt“ (Dietrich Korsch).
Im Zusammenhang mit der Erinnerung an das Ende des 2. Weltkriegs vor siebzig Jahren, die an diesem Sonntag ein Thema sein sollte, bekommen die Erwähnung der siebzig Jahre im Kontext des Predigttextes und vor allem die Bedeutung des Eingeständnisses eigener Schuld ihre aktuelle Bedeutung für die Gegenwart.
Gerade angesichts der Diskussionen, etwa um das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen, aber auch um die „Kriegskinder“ und –enkel darf bei allem Gewinn, den dieser Zugang für die Vergangenheitsbewältigung bedeutet, nicht das Thema der individuellen und kollektiven Schuld aus dem Blick geraten. Es waren „unsere Mütter, unsere Väter“ (so der Titel des TV-Mehrteilers von 2013), die sich durch ihr Tun oder Lassen (mit)schuldig machten. In diesem Bewusstsein lässt sich Daniels Gebet an diesem Sonntag als ein Bußgebet mitsprechen.
Stich
Bleibtreu heißt die Straße
Vor fast vierzig Jahren wohnte ich hier;
... Zupft mich was am Ärmel, wenn ich
So für mich hin den Kurfürstendamm entlang
Schlendere - heißt wohl das Wort.
Und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Und immer wieder das Gezupfe.
Sei doch vernünftig, sage ich zu ihr.
Vierzig Jahre! Ich bin es nicht mehr.
Vierzig Jahre. Wie oft haben meine Zellen
Sich erneuert inzwischen
In der Fremde, im Exil.
New York, Ninety-Sixth Street und Central Park,
Minetta Street in Greenwich Village.
Und Zürich und Hollywood. Und dann noch Jerusalem.
Was willst du von mir, Bleibtreu?
Ja, ich weiß, Nein, ich vergaß nichts.
Hier war mein Glück zu Hause. Und meine Not.
Hier kam mein Kind zur Welt. Und mußte fort.
Hier besuchten mich meine Freunde
Und die Gestapo.
Nachts hörte man die Stadtbahnzüge
Und das Horst-Wessel-Lied aus der Kneipe nebenan.
Was blieb davon?
Die rosa Petunien auf dem Balkon.
Der kleine Schreibwarenladen.
Und eine alte Wunde, unvernarbt.
(aus: Mascha Kaleko: In meinen Träumen läutet es Sturm, München 1997, S. 186)
Predigt
Es ist ein Dienstag und die Sonne scheint. Die Bäume blühen wie zum Trotz, wie gegen alle Zerstörung. Sie blühen in den Parks der Städte oder in dem, was von den Parks übriggeblieben ist. Es blüht auch in den Vorgärten der Häuser, die stehengeblieben sind. Junges Grün am Straßenrand überwächst die Spuren, die Wagen und Menschen zurückgelassen haben auf ihrer Flucht. Im Graben, da, wo sie vor wenigen Monaten noch Schutz gesucht haben vor den Fliegern, antwortet eine Löwenzahnblüte der Sonne.
Die scheint auch auf die bleichen Gefangenen. Aus dem Dunkel der Baracken sind sie ans Licht gekommen. Die Sonne scheint auf die Soldaten. Sie scheint gleichmäßig auf die Sieger und die Verlierer, auf das Land, auf seine Städte und Dörfer, auf die Trümmer und auf alles, was unversehrt blieb. Es ist ein Dienstag im Mai. Und der Mai tut, was nur der Mai kann. Er überblüht einfach alles. Alle Zerstörung, all das Leid, den Tod. Die Sonne scheint. Es ist still. Sie sagen, der Krieg ist zu Ende. Heute.
Siebzig Jahre sind vergangen seit diesem Mai, als der Krieg zu Ende gewesen sein soll in unserem Land. Wir erinnern uns daran in diesen Tagen. Und wir wissen heute, wie schwer es ist, zu sagen, wann der Krieg wirklich zu Ende war. Als der Mann, der Vater heimkehrte aus der Gefangenschaft? Oder als der Brief mit der Nachricht kam, dass er nie mehr wiederkommen würde? War der Krieg zu Ende, als die Flüchtlinge aus den Baracken am Rande der Stadt in das neu gebaute Viertel einziehen konnten, in dem wenigstens die Namen der Straßen nach Heimat klangen? Oder war er erst zu Ende, als die Kasernen sich leerten und die Sieger sich zurückzogen aus dem Land, von dem der Krieg ausgegangen war? Als die große Wunde anfing zu heilen und das geteilte Land begann, wieder ein Land zu werden?
Wann ist ein Krieg zu Ende? Wenn niemand mehr lebt, der dabei gewesen ist, weder die Täter noch die Opfer, wenn die Zeitzeugen gestorben sind? Auch das wissen wir heute: Der Krieg lebte weiter in ihnen, ein Leben lang. Die wenigsten haben es geschafft, davon zu erzählen. Und viele erleben im Alter, dass der Krieg zurück kommt. Oft dann, wenn der Verstand seine Kraft verloren hat, wenn nur noch Gefühle da sind. Dann kommen die Angst, der Schmerz und die Schuld.
Und wir wissen noch mehr: Der Krieg lebt weiter auch noch in den Kindern und den Enkel, in den Generationen, die geboren wurden, als längst schon wieder Frieden herrschte. Auch wenn der Krieg für sie keine bewusste Erinnerung mehr ist, hat er doch seinen Platz in ihren Herzen und Seelen. Er bestimmt ihr Verhalten, ihren Umgang mit anderen Menschen und mit sich selbst. Schutt und Trümmer, noch siebzig Jahre danach, nie weggeräumt. Manchmal wie überwachsen, manchmal offen und sichtbar. Wann ist der Krieg zu Ende?
Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros, aus dem Stamm der Meder, der über das Reich der Chaldäer König wurde, in diesem ersten Jahr seiner Herrschaft achtete ich, Daniel, in den Büchern auf die Zahl der Jahre, von denen der HERR geredet hatte zum Propheten Jeremia, dass nämlich Jerusalem siebzig Jahre wüst liegen sollte. Und ich kehrte mich zu Gott, dem Herrn, um zu beten und zu flehen unter Fasten und in Sack und Asche. (Dan 9, 1-3)
Wann ist es zu Ende? Wann ist es vorbei? Diese Frage stellt sich auch Daniel. Er ist einer von denen, die durch Krieg und Gewaltherrschaft ihre Heimat verloren haben und jetzt in der Fremde leben müssen. Es geht ihm nicht schlecht dabei, denn er hat sich unter den fremden Herrschern eine gute Position verschaffen können. Aber wie alle anderen um ihn herum lebt er mit einer Frage im Herzen: Wann ist es zu Ende? Wann können wir wieder nach Hause?
Siebzig Jahre sollte Jerusalem wüst liegen, ein Trümmerhaufen sein, aber dann wäre die Strafe vorbei. Dann wäre es zu Ende, dann könnten sie zurück. So steht es doch in den Schriften, bei Jeremia, dem Propheten. So hat es Gott doch versprochen.
Im ersten Jahr des Königs Darius, des Sohnes Ahasveros, der über das Reich der Chaldäer Herrscher wurde, in diesem ersten Jahr seiner Herrschaft, war es. Da soll Daniel überlegt haben, ob es wohl schon soweit ist. Und viele haben das gelesen und angefangen zu rechnen, ob das wohl sein kann, ob das passt zum Jahr der Rückkehr des Volkes Israel aus der babylonischen Gefangenschaft. Ob Gott wirklich handelt in unserer Menschengeschichte?
In diesem ersten Jahr, das hört sich so genau an. Aber heute wissen wir: Dieses Datum gibt es gar nicht, auch keinen König Darius aus dem Stamm der Meder, nichts davon. Es gibt den Zeitpunkt gar nicht, von dem aus man anfangen könnte zu rechnen. Die siebzig Jahre lassen sich in keinen Kalender eintragen. Und deswegen gibt auch kein Kalender eine Antwort auf die Frage, wann es vorbei ist. Damals nicht und heute nicht. Wir sehen nur: Es ist Zeit vergangen, nicht nur vierzig, sondern siebzig Jahre. Die Trümmer wurden weggeräumt, sie sind überbaut und überwachsen. Und sie sind doch nicht verschwunden, nicht aus dem Bild unserer Städte und nicht aus unseren Herzen und Seelen.
In seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 hat sich Richardvon Weizsäcker auch gefragt, wann der Krieg zu Ende ist, wie lange es dauert, bis man seine Vergangenheit ehrlich ansehen kann. Er erinnerte in seiner Rede an die biblische Bedeutung der vierzig Jahre. So lange, bis zu diesem 8. Mai 1985 habe es gedauert, bis dieser Tag von den meisten Deutschen als Tag der Befreiung gesehen werden konnte:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. (…) Wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen.“
II.
Und ich kehrte mich zu Gott, dem Herrn, um zu beten und zu flehen unter Fasten und in Sack und Asche. Ich betete aber zu dem HERRN, meinem Gott, und bekannte und sprach: Ach, Herr, du großer und heiliger Gott, der du Bund und Gnade bewahrst denen, die dich lieben und deine Gebote halten! Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen. (Dan 9, 3-5.)
Daniel weiß nicht, wann es vorbei sein wird. Aber er glaubt, dass Gott der Gleiche bleibt über alle Zeiten. Zu ihm betet er und sein Gebet ist vor allem ein Eingeständnis eigener Verantwortung. Sonst sind am Leiden seines Volkes immer die anderen schuld gewesen, die Feinde, die fremden Herrscher.
Aber jetzt hört Daniel auf damit, anderen die Schuld zu geben. Er sagt: Wir sind es, wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen. Und jeder, der das liest, weiß sofort, was damit gemeint ist: Die zehn Gebote, das Gesetz der Freiheit, gegeben von Gott, einem eifernden Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die ihn hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die Gott lieben und seine Gebote halten. (Ex 20, 5f.)
In seinem Gebet spricht Daniel Gott als den Barmherzigen an. Die Missetat der Väter bleibt darin noch unausgesprochen. Aber jeder weiß, dass es sie gibt, Daniel und sein Volk. Auch noch nach siebzig Jahren wissen das alle.
Wir wissen nach unseren siebzig Jahren viel mehr über die Folgen, die der Krieg bei den Kriegskindern und Kriegsenkeln hinterlassen hat. Viele Menschen haben gelernt, darüber zu sprechen und ihre Gefühle zu zeigen. Sie verdrängen nichts mehr und sehen sich die Trümmer an, die der Krieg in ihrer Familiengeschichte hinterlassen hat. Sie stellen sich ihren Verletzungen, ihrer Angst und ihrem Schmerz.
Aber niemand darf darüber vergessen, dass es neben der Angst und dem Schmerz auch unsere Schuld gibt. Der Krieg kam nicht von irgendwo her. Er kam aus unserem Land. Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen. Und darum gibt es diese ganzen Trümmer in unserem Land, in unseren Herzen und Seelen. Bis heute, siebzig Jahre danach.
Unsere Vorfahren haben uns eine schwere Erbschaft hinterlassen, sagt Richard von Weizsäcker. Ein Erbe, das wir annehmen müssen: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. (…) Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
III.
Ach Herr, um aller deiner Gerechtigkeit willen wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen. Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen. Lass leuchten dein Antlitz über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr! Neige dein Ohr, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. (Dan 9, 16-18)
Wann ist der Krieg zu Ende? Nach vierzig Jahren nicht, nach siebzig Jahren nicht. Auch nicht, wenn alle gestorben sind, die damals dabei waren. Der Krieg bleibt in uns. Wir tragen die Schmach auch heute noch, bei allen die um uns wohnen. Aber Gott wendet sich nicht ab von uns, trotz allem.
Sieh an unsere Trümmer, Gott, bittet Daniel. Sieh an unsere Trümmer, Gott, bitte ich. Und hilf uns, dass wir sie selbst ansehen. Damit wir sehen, was gewesen ist vor siebzig Jahren, unsere Angst, unseren Schmerz und unsere Schuld. Dann geht der Krieg zu Ende in unseren Herzen und in unseren Seelen. Dann werden die Trümmer darin endlich überblüht, so wie vor siebzig Jahren im Mai.
Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.
Amen.
[1] Vgl. Markus Witte, Das Danielbuch, in: Jan Chr. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament, Göttingen 4. Auflage 2010, 495-514, 506.