Tabus - Predigt zu Markus 2, 23-28 von Margot Runge
2,23
Liebe Gemeinde!
Da wandern Leute durch ein Getreidefeld, und weil sie Hunger haben, reißen sie sich Ähren ab und stopfen sie in den Mund. Wer will ihnen das verwehren?
Wie engstirnig sind die, die sich darüber aufregen! Nur weil Sabbat ist! Solche Glaubensregeln sind menschenfeindlich! Viele jüdische Gebote sind unzeitgemäß und überholt! Der ganze jüdische Glaube ist überholt, vom Christentum überholt und ersetzt! Will uns das die Geschichte erzählen?
Die Episode in der Bibel ist eine Schlüsselgeschichte. Sie erzählt von Regeln in einer Kultur, von geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetzen. Das gehört sich einfach so, heißt es da. Tatsächlich halten sich die meisten dran. Irgendwann haben sie sich entwickelt. Sie ordnen das Zusammenleben. In manchen liegt tiefe Weisheit. Andere hatten in der Vergangenheit ihre Berechtigung, aber die Menschen halten auch später daran fest. Oder jemand hatte Nutzen davon.
Oft werden solche Regeln gar nicht mehr hinterfragt und ihre Grenzen nicht gesehen. Wir können sie auch Tabus nennen. Hier sind es die Sabbatgebote, die für jüdische Gläubige wichtig sind. Unsere Geschichte erzählt von einem Tabu und darüber, wie die Jesusleute damit umgehen. Sie brechen es einfach. Das Sabbatgebot sollte ursprünglich einmal denen, die schwer arbeiten, eine Ruhepause verschaffen. Nun schützt es die Armen nicht mehr, sondern wendet sich gegen Hungernde.
„Es ist kein Zweifel möglich: so hat Er gedacht. Mit diesen Sätzen hat Er seine Zeit herausgefordert. Für Ansichten wie diese ist Er hingerichtet worden.“ (Eugen Drewermann: Das Markusevangelium I, 7. Aufl. Olten 1991, 268)
Wenn wir diese Geschichte nicht als Story aus der Vergangenheit lesen, sondern als Spiegel betrachten, erzählt sie auch von uns. Denn jede Gesellschaft hat Tabus. Und es ist wie mit dem Balken im eigenen Auge und dem Splitter im Auge der anderen: wir sehen nur die Grenzen der anderen. Die eigenen erscheinen uns keineswegs als einengend, sondern als völlig selbstverständliche Grundsätze.
Es ist leicht, sich über andere Religionen zu erheben. Schnell fällt uns auf, wie einengend und widersinnig es ist, was andere glauben: Warum muß es Hungrigen verboten werden, am Sabbat Ähren abzureißen und so ihren Hunger zu stillen! Warum müssen Frauen sich vollständig verschleiern und dunkle Gewänder tragen, selbst in brütender Hitze! Auf andere Kulturen oder vergangene Zeiten herabblicken kostet nichts, im Gegenteil: es verschafft Befriedigung. Wie rückständig sind doch andere: der gesetzliche jüdische Glauben, das ungerechte Kastenwesen in Indien, der trostlose Kreislauf der Wiedergeburt im Buddhismus, der Rassismus in Südafrika ... Dagegen hebt sich unser Glauben strahlend hell und befreiend ab, und wir können zufrieden sein, wie fortschrittlich es bei uns zugeht. Oder?
Unsere Geschichte erzählt nicht nur von einem Tabu und darüber, wie die Jesusleute damit umgehen, nämlich daß sie sich darüber hinwegsetzen. Sie fragt uns auch: Was ist mit euren Tabus? Was sind eure geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetze, die ungerecht sind oder veraltet, von denen nur einige profitieren oder die sich überlebt haben? Heda ihr Zeitgenoss_nnen in Sangerhausen und der Welt: wo stecken unsere Tabus, die uns wahrscheinlich gar nicht bewußt sind, mit denen wir aber andere ausschließen oder hungrig und verletzt zurücklassen?
Zweiter Versuch.
Da wandern Leute durch ein Getreidefeld, und weil sie Hunger haben, reißen sie sich Ähren ab und stopfen sie in den Mund. Wer will ihnen das verwehren?
Einfach Getreide abreißen? Das Feld gehört ihnen doch überhaupt nicht. Das ist Sachbeschädigung, Diebstahl von fremdem Eigentum. Zugegeben, es ist nur Mundraub – aber wo kämen wir denn hin, wenn Leute ohne einen Cent in der Tasche unbeschwert ernten, was andere angebaut haben?
Ja wo kämen wir hin, wenn die Hungernden sich einfach an den Gärten der Reichen bedienen? Wo kämen wir hin, wenn die Armen nicht mehr darauf warten, was ihnen zugeteilt wird, auf die Almosen, sondern wenn sie ihren Anteil einfordern?
Die indischen Reispflanzerinnen lachen über die Patentanwälte der Saatgutkonzerne und kultivieren wieder ihre eigenen Reissorten.
Kaffeearbeiter setzen faire Löhne durch. Die Pharmafirmen müssen in Afrika kostenlos Medikamente gegen Durchfall und Aids zur Verfügung stellen. Das reife Getreide wiegt sich auf den Feldern nicht für Spekulationen an der Börse oder für die Dieselfabriken, sondern für Hungernde. Eine fröhliche Wirtschaft ist das. Doch da kommen die Grundsätze von Besitz und Eigentum ins Wanken. Sind das nicht auch Tabus?
Natürlich nennt sie niemand so. Sie gelten als selbstverständliche Grundregeln einer Gesellschaft: Eigentum ist unantastbar. Alle – einzelne, Familien und auch Nationen - sind, mindestens grundsätzlich, für sich selbst verantwortlich. Wir unterscheiden sorgfältig zwischen Mein und Dein, Männern und Frauen, Einheimischen und Ausländer_nnen. Alles andere käme uns absonderlich, abwegig, ja verrückt vor. Ist es das tatsächlich?
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt deutlich, wie zeitbedingt Normen sind. Über geschiedene Frauen rümpft niemand die Nase mehr wie vor einem Jahrhundert über Effi Briest in Theodor Fontanes Roman. Und daß Vergewaltigung in der Ehe verurteilt werden soll, bestreitet wohl niemand. Daß das erst seit 1997 in Deutschland ein eigener Straftatbestand ist, würde die meisten verwundern – so selbstverständlich erscheint es uns heute, nur 16 Jahre später.
Worüber werden unsere Nachkommen einmal verwundert die Köpfe schütteln? Wo kultivieren wir heute innere und äußere Schranken, die Leute verletzen und ausgrenzen – Flüchtlinge, Behinderte, Transsexuelle, finanziell Klamme etwa? Wir müßten andere fragen, solche, die von außen zu uns kommen mit dem Blick von Fremden. Wir müßten auf die hören, die durch alle Raster fallen und bei uns keine Anerkennung finden. Manche Restriktionen erscheinen so selbstverständlich, daß selbst die Betroffenen sie für normal halten.
Jesus macht ihnen Mut, sich nicht mit der Verkrüppelung abzufinden. Er verteidigt die Hungernden. Er schützt und verteidigt das Recht derer, die sich ihr Recht einfach nehmen. Er liefert ihnen Argumente, wenn sie die Regeln brechen. Um der Menschen willen ist es für Jesus erlaubt, selbst Glaubensgrundsätze – das Sabbatgebot - in Frage zu stellen.
Mit unverschämter Freiheit hat Jesus quer gedacht und Dinge einfach anders gemacht. Er mußte dafür bezahlen, aber er hat sich nicht Angst machen lassen. Er hat Feststehendes in Frage gestellt, Leute angesteckt, Freiheit um sich herum verbreitet. Und wir, wir dürfen auch frei sein. Endlich.
Amen.
Da wandern Leute durch ein Getreidefeld, und weil sie Hunger haben, reißen sie sich Ähren ab und stopfen sie in den Mund. Wer will ihnen das verwehren?
Wie engstirnig sind die, die sich darüber aufregen! Nur weil Sabbat ist! Solche Glaubensregeln sind menschenfeindlich! Viele jüdische Gebote sind unzeitgemäß und überholt! Der ganze jüdische Glaube ist überholt, vom Christentum überholt und ersetzt! Will uns das die Geschichte erzählen?
Die Episode in der Bibel ist eine Schlüsselgeschichte. Sie erzählt von Regeln in einer Kultur, von geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetzen. Das gehört sich einfach so, heißt es da. Tatsächlich halten sich die meisten dran. Irgendwann haben sie sich entwickelt. Sie ordnen das Zusammenleben. In manchen liegt tiefe Weisheit. Andere hatten in der Vergangenheit ihre Berechtigung, aber die Menschen halten auch später daran fest. Oder jemand hatte Nutzen davon.
Oft werden solche Regeln gar nicht mehr hinterfragt und ihre Grenzen nicht gesehen. Wir können sie auch Tabus nennen. Hier sind es die Sabbatgebote, die für jüdische Gläubige wichtig sind. Unsere Geschichte erzählt von einem Tabu und darüber, wie die Jesusleute damit umgehen. Sie brechen es einfach. Das Sabbatgebot sollte ursprünglich einmal denen, die schwer arbeiten, eine Ruhepause verschaffen. Nun schützt es die Armen nicht mehr, sondern wendet sich gegen Hungernde.
„Es ist kein Zweifel möglich: so hat Er gedacht. Mit diesen Sätzen hat Er seine Zeit herausgefordert. Für Ansichten wie diese ist Er hingerichtet worden.“ (Eugen Drewermann: Das Markusevangelium I, 7. Aufl. Olten 1991, 268)
Wenn wir diese Geschichte nicht als Story aus der Vergangenheit lesen, sondern als Spiegel betrachten, erzählt sie auch von uns. Denn jede Gesellschaft hat Tabus. Und es ist wie mit dem Balken im eigenen Auge und dem Splitter im Auge der anderen: wir sehen nur die Grenzen der anderen. Die eigenen erscheinen uns keineswegs als einengend, sondern als völlig selbstverständliche Grundsätze.
Es ist leicht, sich über andere Religionen zu erheben. Schnell fällt uns auf, wie einengend und widersinnig es ist, was andere glauben: Warum muß es Hungrigen verboten werden, am Sabbat Ähren abzureißen und so ihren Hunger zu stillen! Warum müssen Frauen sich vollständig verschleiern und dunkle Gewänder tragen, selbst in brütender Hitze! Auf andere Kulturen oder vergangene Zeiten herabblicken kostet nichts, im Gegenteil: es verschafft Befriedigung. Wie rückständig sind doch andere: der gesetzliche jüdische Glauben, das ungerechte Kastenwesen in Indien, der trostlose Kreislauf der Wiedergeburt im Buddhismus, der Rassismus in Südafrika ... Dagegen hebt sich unser Glauben strahlend hell und befreiend ab, und wir können zufrieden sein, wie fortschrittlich es bei uns zugeht. Oder?
Unsere Geschichte erzählt nicht nur von einem Tabu und darüber, wie die Jesusleute damit umgehen, nämlich daß sie sich darüber hinwegsetzen. Sie fragt uns auch: Was ist mit euren Tabus? Was sind eure geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetze, die ungerecht sind oder veraltet, von denen nur einige profitieren oder die sich überlebt haben? Heda ihr Zeitgenoss_nnen in Sangerhausen und der Welt: wo stecken unsere Tabus, die uns wahrscheinlich gar nicht bewußt sind, mit denen wir aber andere ausschließen oder hungrig und verletzt zurücklassen?
Zweiter Versuch.
Da wandern Leute durch ein Getreidefeld, und weil sie Hunger haben, reißen sie sich Ähren ab und stopfen sie in den Mund. Wer will ihnen das verwehren?
Einfach Getreide abreißen? Das Feld gehört ihnen doch überhaupt nicht. Das ist Sachbeschädigung, Diebstahl von fremdem Eigentum. Zugegeben, es ist nur Mundraub – aber wo kämen wir denn hin, wenn Leute ohne einen Cent in der Tasche unbeschwert ernten, was andere angebaut haben?
Ja wo kämen wir hin, wenn die Hungernden sich einfach an den Gärten der Reichen bedienen? Wo kämen wir hin, wenn die Armen nicht mehr darauf warten, was ihnen zugeteilt wird, auf die Almosen, sondern wenn sie ihren Anteil einfordern?
Die indischen Reispflanzerinnen lachen über die Patentanwälte der Saatgutkonzerne und kultivieren wieder ihre eigenen Reissorten.
Kaffeearbeiter setzen faire Löhne durch. Die Pharmafirmen müssen in Afrika kostenlos Medikamente gegen Durchfall und Aids zur Verfügung stellen. Das reife Getreide wiegt sich auf den Feldern nicht für Spekulationen an der Börse oder für die Dieselfabriken, sondern für Hungernde. Eine fröhliche Wirtschaft ist das. Doch da kommen die Grundsätze von Besitz und Eigentum ins Wanken. Sind das nicht auch Tabus?
Natürlich nennt sie niemand so. Sie gelten als selbstverständliche Grundregeln einer Gesellschaft: Eigentum ist unantastbar. Alle – einzelne, Familien und auch Nationen - sind, mindestens grundsätzlich, für sich selbst verantwortlich. Wir unterscheiden sorgfältig zwischen Mein und Dein, Männern und Frauen, Einheimischen und Ausländer_nnen. Alles andere käme uns absonderlich, abwegig, ja verrückt vor. Ist es das tatsächlich?
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt deutlich, wie zeitbedingt Normen sind. Über geschiedene Frauen rümpft niemand die Nase mehr wie vor einem Jahrhundert über Effi Briest in Theodor Fontanes Roman. Und daß Vergewaltigung in der Ehe verurteilt werden soll, bestreitet wohl niemand. Daß das erst seit 1997 in Deutschland ein eigener Straftatbestand ist, würde die meisten verwundern – so selbstverständlich erscheint es uns heute, nur 16 Jahre später.
Worüber werden unsere Nachkommen einmal verwundert die Köpfe schütteln? Wo kultivieren wir heute innere und äußere Schranken, die Leute verletzen und ausgrenzen – Flüchtlinge, Behinderte, Transsexuelle, finanziell Klamme etwa? Wir müßten andere fragen, solche, die von außen zu uns kommen mit dem Blick von Fremden. Wir müßten auf die hören, die durch alle Raster fallen und bei uns keine Anerkennung finden. Manche Restriktionen erscheinen so selbstverständlich, daß selbst die Betroffenen sie für normal halten.
Jesus macht ihnen Mut, sich nicht mit der Verkrüppelung abzufinden. Er verteidigt die Hungernden. Er schützt und verteidigt das Recht derer, die sich ihr Recht einfach nehmen. Er liefert ihnen Argumente, wenn sie die Regeln brechen. Um der Menschen willen ist es für Jesus erlaubt, selbst Glaubensgrundsätze – das Sabbatgebot - in Frage zu stellen.
Mit unverschämter Freiheit hat Jesus quer gedacht und Dinge einfach anders gemacht. Er mußte dafür bezahlen, aber er hat sich nicht Angst machen lassen. Er hat Feststehendes in Frage gestellt, Leute angesteckt, Freiheit um sich herum verbreitet. Und wir, wir dürfen auch frei sein. Endlich.
Amen.
Perikope