Vom Sorgen - Predigt zum Thema Flüchtlinge zu Matthäus 6, 25-34 von Christoph Dinkel
6,25-34

Vom Sorgen

Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist ein Abschnitt aus der Bergpredigt Jesu. Ich lese Matthäus 6,25-34:

Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

Liebe Gemeinde!

1. Der Mensch ist das Tier, das sich Sorgen macht

Der Mensch ist das Tier, das sich Sorgen macht. Wir Menschen können Erinnerungen pflegen und eine Zukunft entwerfen. Unser Gedächtnis, unsere Sprache und die Medien Schrift, Ton und Bild halten die Vergangenheit präsent und ermöglichen es uns, detaillierte Pläne für Künftiges zu entwickeln. Wir können vergangenes Glück und vergangenes Unglück erinnern, wir können Erwartungen entwickeln, womit wir künftig zu rechnen haben und worauf wir uns einstellen müssen. Wir Menschen können unsere Zukunft selbst gestalten. Wir können Pläne entwerfen für unser Leben, für unsere Familie, für die Menschheit. All das können Tiere nicht. Tiere können nicht planen. Selbst wenn sie Nester bauen wie die Vögel, tun sie das nicht aus freiem Entschluss einem selbstentworfenen Plan folgend, sondern aus Instinkt, weil es ihr biologisches Programm so vorgibt. Wir Menschen haben gegenüber den Tieren eine viel größere Freiheit, was unsere Entscheidungen angehen. Doch der Preis für die Freiheit, der Preis für die Fähigkeit zur Gestaltung einer eigenen Zukunft sind die Sorgen. Der Mensch ist eben das Tier, das sich Sorgen macht.

2. Sorgen können krank machen

Das Sorgen gehört also zum Menschsein. Es ist der Preis für unsere Gestaltungsmöglichkeiten. Aus dem Sorgen werden wir nicht herauskommen, man kann es nicht abschaffen. Das Sorgen ist auch gar nicht das Problem. Das Problem ist das Maß. Das Problem ist, wenn man sich um zu vieles sorgt, wenn sich Unwichtiges als wichtig aufdrängt, wenn die Sorgenlast überhandnimmt, wenn die Zukunft von Sorgen verdunkelt wird und man sich alles mögliche Unheil ausmalt. Sorgen können krankmachen. Viele Menschen leiden unter der Last ihrer Sorgen. Sie gehen gebückt. Sie blicken finster in den Tag und fürchten hinter jeder Ecke neues Unglück. An jene, die vor lauter Sorgen den Mut zum Leben zu verlieren drohen, richtet sich Jesus mit seinem Wort: Sorget nicht! Ganz praktisch, im Stil eines Weisheitslehrers wendet er sich ihnen zu und sagt das lösende Wort: Lass jeden Tag seine eigene Sorge haben. Der morgige Tag wird für das seine sorgen. Wenn man aus den selbstgemachten Sorgen nicht mehr herausschauen kann, genügt es manchmal, dass einem einer das sagt, was man sich selbst nicht mehr sagen kann: Lebe Tag für Tag. Du musst nicht heute die Probleme für morgen lösen. Sorge dich nicht.

3. Sorgenmaschinen

Frühere Generationen mussten mit der Sorge um Nahrung und Kleidung leben. Die meisten Mitteleuropäer sind diese Sorge los. Wie gut es uns geht merken wir ganz besonders deutlich angesichts der Flüchtlinge, die in diesen Tagen in unser Land strömen. Ihr Schicksal bewegt uns. Sie haben echte Sorgen: Sorge um das Leben, um Gesundheit, um Angehörige. Sie haben viel riskiert, um dem Unglück in ihrer Heimat zu entfliehen. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft. Sie setzen auf den Wohlstand und die Hilfsbereitschaft dieses Landes und darauf, dass sie hier gebraucht werden und neue Lebenschancen finden.

Im Vergleich zu den Sorgen der Flüchtlinge kommen einem die Alltagssorgen ganz unwirklich vor. Und dennoch vergällen einem die eigenen Sorgen oft genug das Leben. Zwei moderne Erscheinungen erzeugen besonders viele Sorgen. Es handelt sich um echte Sorgenmaschinen.

Die erste Sorgenmaschine ist unsere ständige Erreichbarkeit. Früher musste man Menschen physisch aufsuchen, um mit ihnen in Kontakt zu treten. Mindestens ein Brief musste versandt werden. Seit Graham Bell das Telefon erfand, ist der Mitmensch sehr viel leichter zu erreichen. Die ultimative Erreichbarkeit hat schließlich das Smartphone mit sich gebracht. Wir sind telefonisch, per Mail oder Messanger unablässig erreichbar. Das ist in ganz vieler Hinsicht ungemein nützlich und praktisch. Die Erreichbarkeit rettet Leben, bei einem Unfall ist der Notarzt viel schneller alarmiert als früher. Vermisste oder verschüttete Personen können per Mobilfunk geortet werden. Familien können über große Distanzen eng zusammenhalten, weil sie sich über Skype hören und sehen und lebendige Eindrücke austauschen können. Ich finde die mobile Erreichbarkeit einen Riesengewinn und möchte sie nicht mehr missen.

Aber die Erreichbarkeit hat auch ihren Preis. Wie oft wird man gestört, wenn es gar nicht passt. Wie oft verfolgen einen die Probleme der Arbeit bis in die Nacht und bis in den Schlaf. Und wie schwer ist es abzuschalten, wenn man immer online ist! Das Leben online kann zur Belastung werden, zu einer Lebensweise, der die Pause und die Einsamkeit fehlen. Im Urlaub war ich volle sechs Tage offline, nicht zu erreichen. Was für eine Erholung war das! Keine Erreichbarkeit, keine Sorgen mehr! Ich habe mir geschworen, auch zu Hause öfters offline zu sein.

Die andere Sorgenmaschine sind die Massenmedien, die uns unablässig mit neuen Sorgenmeldungen bestürmen. Massenmedien leben von unserer Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit heißt Auflage, heißt Quote. Aufmerksamkeit heißt Geldverdienen. Man darf das den Massenmedien nicht übel nehmen. Wir selbst als Kunden und Nutzer erzeugen den Druck auf die Medien, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Wir selbst sorgen dafür, dass wir zu den Gejagten der Aufmerksamkeitsindustrie werden. Ständig werden uns Eilmeldungen präsentiert. Dreimal am Tag erreichen uns Breaking News. Jede große und kleine Katastrophe auf der Welt wird uns direkt aufs Smartphone geliefert. Wir sind ans Unglück der Welt per Live-Ticker angeschlossen. Unablässig wird uns ein Übermaß an Problemen, Konflikten und Katastrophen präsentiert. Unablässig wird suggeriert, es gäbe zu wenig Lösungen, zu wenig Kompetenz, zu wenig funktionierende Abläufe, weil solche Meldungen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dabei läuft das allermeiste in unserem Land doch ziemlich brauchbar und stabil. Wir haben solide Verhältnisse, werden gut regiert und verwaltet. Im globalen Vergleich ist Deutschland ein Hort der Stabilität. Doch unter dem Dauerbeschuss der Krisenmeldungen erscheint die eigene Umwelt immer weniger stabil. Wahrscheinlich, so beginnt man zu fürchten, ist der Boden unter unseren Füßen nur scheinbar sicher. Darunter könnte das Grauen lauern. Wir haben es bloß noch nicht gemerkt. Das ist die Suggestion der massenmedialen Aufmerksamkeitsindustrie. Sie ist eine Sorgenmaschine allererster Ordnung. Auch hier hilft in erster Linie der Entzug, das gezielte Abschalten, um die Sorgen nicht überhandnehmen zu lassen.

4. Entlastungsmöglichkeiten

Der moderne sorgengeplagte, dauerreichbare und daueralarmierte Mensch sucht nach Entlastung. Wir sind da gar nicht anders als die Menschen zur Zeit Jesu. Aus der Sicht Jesu waren auch seine Mitmenschen von einem Zuviel an Sorgen geplagt. Ihnen bietet Jesus Bilder der Entlastung an: Schaut euch die Vögel am Himmel an. Sie säen nicht, sie ernten nicht und doch finden sie genug zu essen. Schaut euch die Lilien auf dem Felde an. Auch wenn ihr euch noch so viel Mühe gebt. So schön wie sie werdet ihr nicht. Ihr macht euch zu viele Sorgen. Ihr macht euch die falschen Sorgen. Entspannt euch, lasst locker. Dem Sorgen seiner Mitmenschen stellt Jesus sein Gottvertrauen gegenüber. Gott schenkt den Vögeln Nahrung, Gott schenkt den Lilien Schönheit – auch ohne ständiges Sorgen werdet ihr Menschen genug bekommen.

Wenn wir nach Entlastung suchen, dann können wir wie Jesus auf die Vögel und auf die Lilien schauen – und ich glaube das wird auch uns helfen. Wir brauchen überzeugende Bilder der Entlastung. Für mich war der Blick an den Sternenhimmel diesen Sommer eine wichtige Entlastung. In den Tagen besonderer Sternschnuppenaktivität Anfang August habe ich jeden Abend eine halbe oder eine ganze Stunde den Himmel beobachtet. Wir waren auf der Schwäbischen Alb, wo es viel dunkler war als hier in Stuttgart. Wenn man länger schaut, nimmt man wahr, dass es am Himmel abertausende Sterne gibt. Plötzlich sieht man, was die Alten das Himmelszelt nannten: die gewölbte Kuppe des Firmaments. Und dann sieht man die Sternschnuppen: winzige, kurze Lichtereignisse. Besonders schön ist es, wenn man sie gemeinsam sieht und sich mit anderen an diesen Lichtern freuen kann. Den Vögeln und den Lilien möchte ich deshalb die Sternschnuppen an die Seite stellen. Auch sie lehren einen Leichtigkeit, lehren einen den Abstand von den eigenen Sorgen, lehren einen das Vertrauen, dass die Wirklichkeit größer ist als unser Sorgen, dass wir einen stabilen Ort im All haben und in der Welt zu Hause sind.

5. Echte Sorgen und die Sorge ums Reich Gottes

Unsere Sorgen lasten manchmal schwer auf uns. Wie viel schwerer aber wiegen die Sorgen, die die Flüchtlinge plagen, die derzeit nach Deutschland kommen! Sie haben ihre Heimat verloren. Sie sind in der Fremde, hören eine unbekannte Sprache, wissen nicht wie es weitergeht. Ihnen zu helfen ist derzeit eine zentrale Aufgabe der Politik. Ihnen zu helfen ist auch eine zentrale Aufgabe für uns als Christenmenschen. Vom Landesbischof kam die Frage, ob es in den Gemeinden nicht Wohnungen gibt, die leer stehen und die für Flüchtlinge geeignet wären. Unsere Gemeinde selbst hat keine Wohnung. Ich gebe die Frage aber an Sie weiter: Wenn Sie etwas anzubieten haben oder wissen, melden Sie sich bitte. Heute werden wir beim Opfer, der Kollekte am Ausgang für die Flüchtlingshilfe des Diakonischen Werkes sammeln. Auch auf diesem Weg können sie helfen, die Sorgen der Flüchtlinge zu lindern.

Jesus sagt: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“, so wird euch das andere alles zufallen. Wer Flüchtlingen hilft, der sorgt sich um das, was aus der Sicht Jesu wirklich wichtig ist. Die Sorge um den Nächsten ist für Jesus die angemessene Form der Sorge. Sie rückt das Sorgen und Kreisen um sich selbst in den Hintergrund. Wer anderen hilft, hilft sich also auch selbst, indem er Abstand gewinnt von den falschen Sorgen, die einem sonst das Leben vergällen.

6. Sorget nicht – das Ethos des Wanderradikalen

Sorget nicht, empfiehlt Jesus seinen Anhängern. Und seine Empfehlung war dabei ursprünglich sehr umfassend und radikal gemeint. Jesus spricht zu seinen Jüngern, die mit ihm unterwegs sind, die nicht wissen, wo sie abends ihr Haupt hinlegen sollen, die ihr Leben riskieren für das Reich Gottes. Das Maß an Gottvertrauen, das Jesus vorlebt und seinen Jüngern abverlangt, ist für uns gutsituierte Wohlstandsbürger provozierend groß. Nur wenige Menschen können so radikal leben wie Jesus. Kein Wunder, dass die Menschen von ihm erzählten er gehe über Wasser. Jesus fand Sicherheit, wo andere nur Abgründe sahen. Aus Jesu Sicht sind wir alle Kleingläubige, wir müssen es mit Beschämung eingestehen.

Wo kann man Gottvertrauen lernen? Jesus stellt uns die Kinder vor Augen. Wer vertraut wie ein Kind, der ist auf dem Weg zum Himmel, sagt er. Im Urlaub habe ich nach Jahrzehnten wieder einmal „Tom Sawyer“ von Mark Twain gelesen. Tom ist ein Musterbeispiel für Gottvertrauen. Tom wächst bei seiner Tante Polly auf. Seine Mutter ist gestorben. Die Tante liebt Tom und Tom liebt die Tante, doch ständig macht sich die Tante Sorgen um ihn. Tom jedoch ist ohne Sorge. Er lebt in den Tag hinein, sieht überall Abenteuer und neue Herausforderungen. Ständig kommt er in Konflikte mit seinem Bruder, mit den Lehrern und mit seiner Tante. Oft genug bezieht er Prügel. Doch Tom nimmt solche Konflikte nicht schwer. Twain schreibt: „Zwei Minuten später, oder in noch kürzerer Zeit, hatte Tom alle seine Sorgen vergessen. Nicht, dass sie weniger schwer waren oder weniger auf ihm lasteten, wie eines Mannes Sorgen auf eines Mannes Schultern, nein durchaus nicht, aber ein neues mächtiges Interesse zog seine Gedanken ab […]. Dieses starke und mächtige Interesse war eine eben errungene, neue Methode im Pfeifen, die ihm ein Freund kürzlich beigebracht hatte.“

Tom Sawyer ist ein Meister in der Bewältigung von Sorgen. So vieles erregt seine Aufmerksamkeit, dass er sich mit Sorgen nicht lange aufhält. Tom Sawyer sieht überall Chancen. Bei einem Ausflug verirrt er sich mit seiner Freundin in einer tiefen Höhle. Die Kerzen gehen aus, sie sind tagelang in der Finsternis verschollen. Das Dorf trauert schon um sie, da entdeckt Tom ganz am Ende eines Stollens Licht. Er rettet seiner Freundin und sich das Leben. Alle sind glücklich. Doch Tom zieht es zurück in die Höhle. Noch mitten in der Todesgefahr hat er die Spur eines großen Goldschatzes entdeckt. Diesen Schatz hebt er zusammen mit seinem Freund Huckleberry Finn.

Ausgestattet mit einem Übermaß an Gottvertrauen weiß Tom aus allen Lagen etwas zu machen. Als seine Tante ihn damit bestraft, dass er statt zu spielen den Gartenzaun streichen muss, deutet Tom die Situation so um, dass aus der Strafe Belohnung wird. Seine Freunde, die über ihn spotten wollen, gaukelt er vor, dass er den Zaun gerne streiche, dass es niemand so könne wie er. Er gibt sich ganz dem Streichen des Zauns hin, bis die Freunde ebenfalls den Zaun streichen wollen. Doch Tom erlaubt es nicht. Schließlich lässt er es sich die Erlaubnis durch Geschenke abhandeln. Die anderen streichen für ihn den Zaun. Er selbst hat fast nichts gearbeitet und zugleich reiche Schätze gesammelt. Aus einer Last hat Tom Gewinn gezogen. Seine Sorgen hat er in ein Vergnügen verwandelt. Jesus sagt: Wer Gott vertraut wie es die Kinder tun, der ist auf dem Weg zum Himmel. – Amen.

Perikope
20.09.2015
6,25-34