Liebe Gemeinde,
Lena war fünf Jahre alt. Sie hatte eine kleine Katze, an der sie sehr hing. Eines Tages passierte es: ihre geliebte Katze wurde überfahren. Lena war aufgelöst und am Boden zerstört. Es war ihre erste Begegnung mit dem Tod. Ihre Eltern versuchten sie zu trösten und erzählten ihr von einem Katzenhimmel. Aber das tröstete sie wenig. Sie wollte ihr Kätzchen zurückhaben und betete darum. Aber es kam nicht wieder. In ihrer Not wandte sie sich an ihre Großmutter: „Warum, Oma, warum?“ Die Großmutter legte ihrem Arm um sie und nahm sie auf ihren Schoß. Und dann erzählte sie ihr, wie das damals gewesen war, als ihr Großvater starb und wie schlimm das für sie gewesen war. Damals hätte sie auch gebetet; aber Gott hätte ihren Großvater nicht zurückgebracht. Warum, das wüsste sie auch nicht... Inzwischen hatte Lena den Kopf an Großmutters Brust gelegt. Sie schluchzte. Als sie wieder zur Großmutter aufschauen konnte, bemerkte sie, dass auch sie weinte. Später erzählte Lena: „Auch wenn meine Großmutter mir keine Antwort gegeben hatte, fühlte sie danach doch alles anders an. Meine Großmutter war einfach ein Schoß. Und von diesem Schoß aus konnte ich mich dem stellen, was sich nicht ändern ließ. Aber jetzt war ich nicht mehr allein.“ *
Liebe Gemeinde, hier hat ein kleines Menschenkind Trost und Hilfe erfahren. Und das nicht durch Stärke und Weitblick, sondern durch bloßes Mit-Fühlen und Mit-Leiden. Miteinander haben die beiden, die Großmutter und ihre Enkelin, noch einmal durcherlebt, wie weh das tut, etwas oder jemand Geliebten zu verlieren. Und dieses „Miteinander“ im Leid, das hat Lena wieder Grund unter den Füßen gegeben, so dass wie wieder aufstehen konnte.
Ich gestehe: Wenn ich an Helfer und Beraterinnen, Seelsorger, Ärztinnen, Supervisoren oder Coaches denke, dann habe ich oft eher starke Menschen vor meinem inneren Auge. Fachleute eben, die ihr Metier verstehen und wissen, wie’s geht. Doch mit dem Wissen allein scheint es nicht getan. Es braucht mehr und v.a. auch anderes, damit Trost und Hilfe ankommen können.
Hören wir, was die Bibel von Jesus sagt, wie er zu uns kam und kommt. Hebräer 4,14-16:
Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.
Jesus wird uns hier als Hohepriester vorgestellt, zu dem man freimütig und ohne jede Scheu kommen kann.
Ein Priester ist einer, der sich in heiligen Dingen auskennt und der Zugang hat zu Gott. Und ein Hohepriester – das war ein besonders hoher und herausgehobener Amtsträger im Tempel im Jerusalem. Nur er durfte die inneren Räume des Tempels betreten. Er brachte Opfer dar und vor allem betete er für das Volk. 1 x im Jahr, am Versöhnungstag, betrat er – und nur er! – das Allerheiligste. Es war der Ort, wo die Lade Gottes stand. Sie wurde von zwei goldenen Cheruben bedeckt. Niemand außer ihm durfte hineingehen in diesen abgeschirmten und stillen Raum der greifbaren und doch unbegreiflichen Gegenwart Gottes.
Jesus als Hohepriester!
Dabei hatte er doch bei seinem Vater Zimmermann gelernt, aber keineswegs das Priesteramt. Den allergrößten Teil seines Lebens war er in Nazareth und Galiläa daheim; Jerusalem hingegen besuchte er nur zu besonderen Anlässen. Außerdem fehlte ihm der richtige Stammbaum, um Hohepriester werden zu können. Denn das war den Aaroniten vorbehalten; er aber kam aus dem Stamm Juda.
Und doch bezeichnet ihn der Hebräerbrief als Hohenpriester: Wir haben einen großen Hohenpriester, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat.
Das Hohepriesteramt von Jesus ist also keines, das ihm Menschen verliehen hätten, und es hängt auch nicht an seiner irdischen Abstammung. Sein Hohepriesteramt hängt vielmehr an seiner göttlichen Herkunft als Sohn Gottes. Als solcher war er Gott nahe und kannte den Himmel „wie seine Hosentasche“, hatte ihn erwandert und durchstreift. Und Gott selbst war es, der ihn gesandt hat und ihn eingesetzt und autorisiert: Jesus – der Gesandte und Gesalbte Gottes! Hohepriester qua Herkunft.
Das, liebe Gemeinde, war damals das Bekenntnis der Gläubigen. Und das glauben und bekennen wir als Christen auch heute: Jesus Christus ist Gottes Sohn; er kam von Gott und ist wieder bei Gott. Und genau in dieser Bewegung liegt das Geheimnis. So nah wollte er uns Menschen sein, dass er als Mensch zu uns gekommen ist. Als Mensch unter Menschen. An Weihnachten feiern wir das Wunder seiner Geburt. Doch er bleibt ja kein Kind. Er wird älter. Er geht bei seinem Vater in die Lehre. Er hat Konflikte mit seiner Familie. Er findet neue Freunde. Er erlebt Gastfreundschaft. Und er erfährt Anfeindung und Grausamkeit böswilliger und machtgieriger Menschen. Am Schluss behandeln sie ihn wie einen Verbrecher, mobben und verspotten ihn: „Du kannst andern helfen? Hilf dir doch selbst, wenn du kannst!“ Sie foltern ihn, legen ihn aufs Kreuz und töten ihn. Doch Gott hat ihn auferweckt.
Gottes geliebter Sohn, er wurde so ganz und gar Menschenkind und Spielball der Menschen von der Krippe bis zum Kreuz. Jesus, der den Himmel durchschritten hat, er hat auch zutiefst das Leid der Erde durchlitten. Er in seiner Person ist die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen Gott und Welt. Denn er kennt beides wie kein anderer. Ja sogar die Hölle ist ihm nicht fremd. Und dieser Jesus ist unser Hohepriester!
Das lateinische Wort für Priester heißt Pontifex. Übersetzt: „Brückenbauer.“ Jesus, der Brückenbauer. Wenn wir beim Bild der Brücke bleiben, dann steht der eine Pfeiler im Himmel, in der reinen Gegenwart Gottes. Und der zweite Pfeiler steht auf der Erde, mitten in unserer Welt mit ihrer Ungerechtigkeit, mit ihrem Leid und Schmerz und den vielen offenen Fragen: Warum, Gott, warum?
Durch sein Kommen, durch sein Leben, Leiden und Sterben hat Jesus diese Brücke gebaut. Er weiß, wovon einer redet, wenn er erzählt, wie er ausgelacht wird. Er kann mitfühlen, wie weh der Verlust ihres geliebten Menschen tut. Und er leidet auch mit einer kleinen Lena, die um ihre Katze trauert. Er fühlt die Schmerzen, wenn jemand gefoltert wird. Und er weiß aus eigener Erfahrung, wie ausgeliefert ein Flüchtlingskind ist.
Ein Hohepriester, der nicht erhaben über allem schwebt, sondern das Leben kennt. Zu dem kann man kommen. Freimütig und mit allem, was einem Kummer macht. Er legt zuallererst einmal den Arm um einen. Und – im Bilde gesprochen – nimmt er einen dann wie Großmutter ihre kleine Enkelin – auf den Schoß und weint mit einem. Was für ein wunderbarer Hohepriester! Er zeigt nicht nur den Weg zu Gott, er geht ihn mit. Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu ihm, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.
Von unserer menschlichen Natur aus hätten wir es gern, dass es Versuchung, Leid, Schuld und Tod gar nicht gäbe. Sie gehören aber zur Welt und zum Leben, so schmerzlich das ist. Sie halten uns auf dem Boden. Und im besten Fall lehren sie uns, auch mit anderen gnädig zu sein, mit ihnen zu fühlen und zu leiden.
Und zu unserer evangelischen Tradition gehört ja das „Priestertum aller Gläubigen“. Wo also allen Christen zugesprochen und aufgetragen ist, seinem Mitbruder und seiner Mitschwester ein Priester und eine Priesterin zu sein. Sie alle haben als Christ und Christin die Kompetenz eines Brückenbauers oder einer Brückenbauerin. Dazu bedarf es weder eines Ingenieur- noch eines Theologiestudiums. Was ausreicht, ist die Bereitschaft, aus die Steine und Bruchstücke des eigenen Lebens ernst zu nehmen und sie einzubringen. Gerade auch aus den schmerzlichen. Denn aus den Stücken Ihrer und meiner Lebens- und Glaubenserfahrung kann etwas wunderbares werden.
Ein junger Mann kommt mir in den Sinn. Strahlend und ganz praktisch hat er seinen Glauben an Jesus gelebt. Er fühlte sich Gott so nah, dass er es sich gar nicht anders vorstellen konnte. Eines Tages meldete er sich ganz aufgelöst. Was war geschehen? Er war an Freunde geraten, die so ganz anders dachten. Und so ganz anderen Ideen folgten. Das Vertrauen zu Gott, das ihm bisher so sicher gewesen war, war ihm entglitten und auch die Freude war ihm immer mehr verloren gegangen. Es war eine bittere Erfahrung für ihn gewesen. Doch im Nachhinein, sagt er, war es auch eine wichtige Erfahrung. Weil er dadurch erkannt habe, dass der Glaube ein Geschenk sei und keineswegs ein Besitz oder etwas Selbstverständliches. Und ich bin mir sicher, dass er mit dieser schmerzlichen Erfahrung anderen noch eine wichtige Hilfe und ein Brückenbauer sein wird.
Die kleine Lena, deren Katze überfahren worden war, ist später übrigens Ärztin geworden. Sie sagte: „Was ich für meine Patienten sein will? Ein Schoß! Ein Schoß wie der meiner Großmutter. Ein Ort, von dem aus sie sich dem stellen können, was sie nicht ändern können, und an dem sie nicht allein sind.“ *
Amen.
* Freie Nacherzählung einer Geschichte aus dem Buch „Aus Liebe zum Leben“ von Rachel Naomi Remen