"Von Herzen", Predigt über Jeremia 31, 31-34 von Dörte Gebhard
31,31
Liebe Gemeinde,
wir sehen, was vor Augen ist – und wissen genau, es gibt so viel mehr.
wir haben ein Herz – und ahnen, wie treu es uns ist, am Tag und im Traum.
Der heutige Predigttext, der bei Jeremia steht, verlangt eine Herzsicht, eine sorgfältige Herzdurchsicht. Hören Sie, was im Buch des Propheten im 31. Kapitel geschrieben steht:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr;
sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gebot in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den anderen lehren und sagen: „Erkenne den Herrn“, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß, spricht der Herr; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Liebe Gemeinde,
von Herzen kann man nicht gut allein predigen. Mir steht heute Nikolaus Graf Zinzendorf bei, weil einer der ‚herzlichsten‘ Theologen war, denen Gott je das Leben geschenkt hat. Wir haben heute Morgen schon einen Teil seiner herzlichen Lieder gesungen. Zinzendorf war von ganzem Herzen ein Kind Gottes und manchmal etwas kindisch, aber für das 18. Jahrhundert überaus fortschrittlich und fröhlich.[1]Er ist heute noch ein guter Predigthelfer.
Nehmen wir also unser Herz in die Hand und ‚sehen durch‘, was wir, jede und jeder von uns, schon im Herzen haben.
Zuerst kommt mir in den Sinn, was ich ungefähr auswendig kann, was ich einmal „by heart“, wie es im Englischen heißt, gelernt habe. In der Schule damals wurde gepaukt und gebüffelt und ziemlich oft auch mit voller Absicht nur für das Kurzzeitgedächtnis gelernt. Manches war so langweilig und so öde und – in der sozialistischen Diktatur, in der ich meine Kindheit verbrachte – auch so offensichtlicher Unsinn, dass wir uns richtig Mühe gaben, es schnell und gründlich wieder zu vergessen. Vergessen von Unfug ist bekanntlich ein Prozess geistiger Müllabfuhr.
Aber geblieben, ohne besondere, spätere Anstrengung, sind mir die berühmten Brocken und Fetzen, um diese Jahreszeit kommt mir der Osterspaziergang von Goethe im Sinn:
„… vom Eise befreit sind Strom und Bäche/Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,/im Tale grünet Hoffnungsglück./Der alte Winter in seiner Schwäche zog sich in rauhe Berge zurück …“
Und wir alle zusammen? Brächten wir zusammen das ganze Gedicht auf die richtige Reihe? Und wenn schon nicht mehr Goethe, den heute nicht mehr viele lesen und lernen, weil es ja daneben so viele andere interessante Sachen gibt, könnten wir etwas anderes miteinander auswendig? Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir aus dem Gesangbuch vieles schaffen könnten, aber vor allem wohl immer die jeweiligen ersten Strophen.
Das hätte Nikolaus Graf von Zinzendorf in seinem 18. Jahrhundert, er lebte von 1700 bis 1760, gar nicht gefallen. Er hatte ein extrem zwiespältiges Verhältnis zu Kirchengesangbüchern, denn alles, was mit Gott zu tun hat, sollte man im Herzen haben. So wie es bei Jeremia verheißen ist.
[Sie kennen wahrscheinlich einen Text des Grafen sehr gut auswendig, denn von ihm stammt das berühmte Tischgebet „Komm Herr Jesu, sei du unser Gast, und segne uns und was du uns bescheret hast.“]
Das letzte Gesangbuch, das der sächsische Graf selbst herausgab, hatte aber doch 2357 Liednummern! Er und seine Getreuen wollten Lieder für wirklich alle Gelegenheiten und Lebenslagen haben. Einerseits. Andererseits waren Zinzendorf eben alle Menschen suspekt, die zum Singen ein Gesangbuch brauchten, vielmehr sollte man doch aus dem vollen Herzen singen können und nicht auf ein (totes) Buch angewiesen sein. Aber um etwas Neues zu lernen und in der Welt auszubreiten, war ein nie dagewesenes, dickes Gesangbuch als Notbehelf für ihn doch vorstellbar.
Ansonsten sollte der Organist, Herr Bär, oder die Organistin so inspiriert sein, dass er oder sie im Moment ein passendes Lied zum Lobe Gottes dichten könnte, dass das Zeug zum Ohrwurm haben müsste, damit es die Gemeinde gleich singen könnte. Der Heilige Geist ist dann dafür verantwortlich, ob die Gesänge so zu Herzen gehen, dass sie auf Dauer konserviert werden oder ob sie schnell wieder vergessen sind. Zinzendorf war überzeugt, dass sich Qualität durchsetzen wird. Der Heilige Geist würde alles erhalten, was in Harmonie mit den oberen, himmlischen Heerscharen zu singen ist, alles andere sollte gern und getrost schnell untergehen. Und diese Bitte hat Gott erhört, seine Hoffnung ist vollkommen in Erfüllung gegangen, im schweizerischen Gesangbuch unserer Tage sind noch genau fünf Lieder von ihm enthalten.
Aber natürlich war der Graf auch ein demütig-eitles Knopfloch, er ließ denn recht viel und täglich und oft singen, damit etwas bleiben, sich vor allem aber dem Herzen einbilden sollte. Effizienter weise organisierte man in den Brüdergemeinden Gottesdienst und frohes Schaffen gelegentlich gleichzeitig. Beten und Arbeiten kann man im selben Moment, wenn man auswendig singen kann …
Aus (Bethlehem in) Pennsylvania/USA wird berichtet: „Dabei ging’s recht munter und lebendig zu; der eine schusterte, der andere schneiderte, der dritte machte Pulver für die Apotheke, der vierte kopierte, einige schälten Rüben, einige strickten, andere spannen, nähten usw., und dabei wurde von der Liebe recht herzlich und frei diskutiert und mitten drunter die schönsten [Blut]versel gesungen.“
Stellen Sie sich diese umwerfende Innovation vor, wenn dieser Gottesdienst etwas länger dauerte, weil wir mehr Lieder singen würden und wir alle beispielsweise 34 Strophen auswendig könnten, Sie aber Wolle dabeihätten und Socken für die Enkelkinder strickten und andere ihre Kartoffeln für das Mittagessen schälten und Gemüse rüsten würden, die Musiker unter uns Noten von Hand abschrieben und vervielfältigten. Sie könnten auch Ostereier bemalen oder Weihnachtsdekorationen basteln oder Urlaubsfotos sortieren, je nach Jahreszeit. Dazu aber aus vollem Herzen singen und Gott für alle Gute fröhlich danken wie ein kleines Kind.
Graf Zinzendorf liebte die Kinder und war selbst ein sozusagen ein Riesenbaby. Er konnte es mit dem Kindischsein auch richtig übertreiben. Nicht wenige seiner Zeitgenossen hielten ihn für verrückt, wenn er Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist immer wieder „Papa, Mama und ihr Flämmlein, unser Bruder Lämmlein“ nannte oder über die Versöhnung dichtete, es seien „Jesu Beulen, die uns heilen“.
Kinder solle man traktieren, so meinte er, aber wie ein rohes Ei. Mit aller Sorgfalt also, die man sich nur denken kann, müsse man die jungen Herzen hüten. Er gestand auch allen Kindern ihren eigenen, phantasievollen Kinderglauben zu – in einer Zeit, als man Kinder als kleine Erwachsene zu behandeln pflegte und eigentlich nur schaute, ob sie schon zur Arbeit taugten oder eben noch nicht.
Jeremia hatte von Gott ausgerichtet: Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den anderen lehren und sagen: „Erkenne den Herrn“, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß, spricht der Herr …
Kaum ein Mensch hat wohl wie Graf Zinzendorf daran geglaubt, dass Gott alle seine Gebote in die Herzen aller Menschen schreiben kann, wie es der Prophet Jeremia prophezeit hatte. Damit war es ihm sehr ernst. Zinzendorf glaubte sogar, dass Gott sich auch in die Herzen der Frauen einschreibt und dass es nützlich ist, wenn ein Frauenherz zu anderen Frauenherzen spricht. Er ließ schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Gemeindeanlässen Frauen zu Frauen reden. Alle Gemeindeämter wurden doppelt besetzt, mit Männern und mit Frauen. Das war Sensation und Skandal zugleich.
Er nahm auch an, dass Gott die Herzen von Christinnen und Christen aller Konfessionen meint. Ungefähr 200 Jahre bevor die Ökumene so richtig erfunden wurde, produzierte Zinzendorf ökumenische Liederbücher mit Liedern aus der ganzen Welt und aus allen Zeiten. Ob darin alles immer ganz genau theologisch stimmte und jedes Detail der Schrift beachtet war, war ihm weniger wichtig. Eine Gemeinde war nicht besonders himmlisch, wenn sie außergewöhnliche Gotteserkenntnisse hatte, sondern wenn nur ein Haufen bewegter Herzen zusammenkam und es recht lebhaft zuging, gern mit Menschen aus allen christlichen Kirchen seiner Zeit.
Liebe Gemeinde,
natürlich ging es Jeremia nicht nur um ein paar Lieder. Selbstverständlich können wir nicht nur ein paar Gedichte und Verse, selbstredend haben wir nicht nur Texte und Worte gespeichert.
Jede und jeder von uns kann aus dem Stegreif jede Menge Geschichten erzählen, alle selbsterlebten zuerst, die sich so ins Herz eingegraben haben, dass wir sie als Film vor dem inneren Auge sehen und so als seien sie erst gestern passiert. Die große Liebe und die Katastrophen des Lebens, das unerwartete Glück und die Diagnose einer Krankheit. Alles wissen wir von den wirklich entscheidenden Momenten im Leben noch ganz genau, wie das Wetter war und dass Tante Alma an diesem Tag nicht dabei war, weil sie zu erkältet gewesen ist und ungefähr die Hälfte der Heutigen war noch gar nicht geboren und fast nichts war damals schon so, wie es inzwischen geworden ist …
Manches erzählen wir allerdings und mit Bedacht auch nicht. Niemand hat wohl ein ganz unbeschwertes Herz. Nicht wenige Geheimnisse tragen wir mit uns über die Jahre unseres Lebens und bis ins kühle Grab oder teilen sie nur mit wenigen anderen, gleichschlagenden Herzen.
Natürlich forsche ich nicht unserem biologischen Herzen nach, wie es die Ärzte tun müssen und zu unserer Heilung auch tun, sondern so altertümlich, wie man zu Jeremias Zeiten über das Herz dachte. Dort, so stellten sie sich damals vor, wohnte alles:
der Wille des Menschen, manchmal wankend, manchmal unbeirrbar,
die Möglichkeiten zum Guten und zum Bösen, der Ursprung jeder Tat, sei sie böse und verstockt oder liebevoll,
die Sehnsucht und die Liebe, nicht selten schön und schrecklich zugleich,
die Weisheit, sein Leben klug zu führen, zu bedenken, dass ein Mensch sterben muss und jeder flüchtige Moment daher seinen Wert hat.
Im Herzen, so dachten sie, seien alle Dimensionen der menschlichen Existenz an einem Ort gut aufgehoben. Verstand und Gefühl, Kopf und Bauch waren früher nur eines und ein Ganzes. Sie hatten noch nichts auseinandergenommen und auseinandergedacht.
Aber natürlich herrschte deshalb noch lange nicht Friede, Freude und Herzlichkeit allerwegen; unsere Vorfahren kannten sich genau wie wir aus mit den Wunden und Rissen und Brüchen und lebenslangen Narben, die man am Herzen haben kann und wohl auch hat. Jeremia nennt des Menschen Herz „ein trotzig und verzagt Ding“, er kannte das Feuer, das dort brennen kann und er wusste zu berichten, wie ein Herz bricht.
Im Herzen, so glaubten Jeremia und die Seinen, so glaubten Zinzendorf und seine Getreuen, begegnen sich an einer winzigen Stelle Himmel und Erde: Dort entsteht das, was uns – sehr irdisch – was wir selbst entscheiden, was uns feige bleiben oder Mut finden lässt, was uns zur Tat schreiten lässt und dort trifft uns das, was über uns kommt, was größer ist als wir, was unser Herz erfüllt, ob es uns gefällt oder nicht, dem wir ausgeliefert sind, das wir erleiden müssen. Dort lebt unsere Ohnmacht gegenüber manchen Gefühlen, dort ist der Ort, an dem wir nichts machen können.
Jeremia hat das am eigenen Prophetenleibe erfahren. Er schließt mit einem großen Trost für unsere und alle Herzen:
Das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gebot in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein. […] ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Das Böse und das Leid unserer Herzen wird zuletzt nicht mehr sein und bis dahin ist unser Auftrag, die Herzen aufmerksam zu pflegen, die anderen und milde zu sein mit dem eigenen, alles zu tun, was ein Herz schon jetzt erleichtern könnte.
An Pflegemitteln fehlt es nicht. Zinzendorf schätzte besonders die Wirkungen der Farbe und der Musik auf die Herzen. Er ließ deshalb die Schlafsäle in der Herrnhuter Gemeinde hell, weiß streichen und er ließ sie sogar heizen! Das war ein unerhörter Luxus zu seiner Zeit, aber der Graf hatte Gottvertrauen und Geld. Auch die hygienischen Umstände bildeten einen starken Kontrast zu den Üblichkeiten der damaligen Zeit. Zinzendorf glaubte nicht nur, dass es der Herr den Seinen im Schlaf geben würde, sondern auch, dass das fröhliche Erwachen am Morgen über den ganzen Tag entscheiden würde. Daher sorgte er sich darum, dass die meisten Menschen in Herrnhut von harmonischem Gesang geweckt würden und nicht von irgendwelchen schrecklichen oder aufschreckenden Geräuschen. Deshalb ließ er zeitweilig singende Gruppen durch das Dorf ziehen, um die Schlafenden sanft zu wecken. Denn, so glaubte er, wer jeden Tag auf Erden gut aus dem Bett kommt und mit einem getrosten Herzen aufsteht, wird auch am jüngsten Tage fröhlich erwachen. Das schenke Gott uns allen.
Und sein Friede, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne bis dahin in Christus Jesus, Amen.
[1] Vgl. zur ganzen Predigt Zimmerling, Peter: Ein Leben für die Kirche. Zinzendorf als Praktischer Theologe, Göttingen 2010.
wir sehen, was vor Augen ist – und wissen genau, es gibt so viel mehr.
wir haben ein Herz – und ahnen, wie treu es uns ist, am Tag und im Traum.
Der heutige Predigttext, der bei Jeremia steht, verlangt eine Herzsicht, eine sorgfältige Herzdurchsicht. Hören Sie, was im Buch des Propheten im 31. Kapitel geschrieben steht:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr;
sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gebot in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den anderen lehren und sagen: „Erkenne den Herrn“, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß, spricht der Herr; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Liebe Gemeinde,
von Herzen kann man nicht gut allein predigen. Mir steht heute Nikolaus Graf Zinzendorf bei, weil einer der ‚herzlichsten‘ Theologen war, denen Gott je das Leben geschenkt hat. Wir haben heute Morgen schon einen Teil seiner herzlichen Lieder gesungen. Zinzendorf war von ganzem Herzen ein Kind Gottes und manchmal etwas kindisch, aber für das 18. Jahrhundert überaus fortschrittlich und fröhlich.[1]Er ist heute noch ein guter Predigthelfer.
Nehmen wir also unser Herz in die Hand und ‚sehen durch‘, was wir, jede und jeder von uns, schon im Herzen haben.
Zuerst kommt mir in den Sinn, was ich ungefähr auswendig kann, was ich einmal „by heart“, wie es im Englischen heißt, gelernt habe. In der Schule damals wurde gepaukt und gebüffelt und ziemlich oft auch mit voller Absicht nur für das Kurzzeitgedächtnis gelernt. Manches war so langweilig und so öde und – in der sozialistischen Diktatur, in der ich meine Kindheit verbrachte – auch so offensichtlicher Unsinn, dass wir uns richtig Mühe gaben, es schnell und gründlich wieder zu vergessen. Vergessen von Unfug ist bekanntlich ein Prozess geistiger Müllabfuhr.
Aber geblieben, ohne besondere, spätere Anstrengung, sind mir die berühmten Brocken und Fetzen, um diese Jahreszeit kommt mir der Osterspaziergang von Goethe im Sinn:
„… vom Eise befreit sind Strom und Bäche/Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,/im Tale grünet Hoffnungsglück./Der alte Winter in seiner Schwäche zog sich in rauhe Berge zurück …“
Und wir alle zusammen? Brächten wir zusammen das ganze Gedicht auf die richtige Reihe? Und wenn schon nicht mehr Goethe, den heute nicht mehr viele lesen und lernen, weil es ja daneben so viele andere interessante Sachen gibt, könnten wir etwas anderes miteinander auswendig? Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir aus dem Gesangbuch vieles schaffen könnten, aber vor allem wohl immer die jeweiligen ersten Strophen.
Das hätte Nikolaus Graf von Zinzendorf in seinem 18. Jahrhundert, er lebte von 1700 bis 1760, gar nicht gefallen. Er hatte ein extrem zwiespältiges Verhältnis zu Kirchengesangbüchern, denn alles, was mit Gott zu tun hat, sollte man im Herzen haben. So wie es bei Jeremia verheißen ist.
[Sie kennen wahrscheinlich einen Text des Grafen sehr gut auswendig, denn von ihm stammt das berühmte Tischgebet „Komm Herr Jesu, sei du unser Gast, und segne uns und was du uns bescheret hast.“]
Das letzte Gesangbuch, das der sächsische Graf selbst herausgab, hatte aber doch 2357 Liednummern! Er und seine Getreuen wollten Lieder für wirklich alle Gelegenheiten und Lebenslagen haben. Einerseits. Andererseits waren Zinzendorf eben alle Menschen suspekt, die zum Singen ein Gesangbuch brauchten, vielmehr sollte man doch aus dem vollen Herzen singen können und nicht auf ein (totes) Buch angewiesen sein. Aber um etwas Neues zu lernen und in der Welt auszubreiten, war ein nie dagewesenes, dickes Gesangbuch als Notbehelf für ihn doch vorstellbar.
Ansonsten sollte der Organist, Herr Bär, oder die Organistin so inspiriert sein, dass er oder sie im Moment ein passendes Lied zum Lobe Gottes dichten könnte, dass das Zeug zum Ohrwurm haben müsste, damit es die Gemeinde gleich singen könnte. Der Heilige Geist ist dann dafür verantwortlich, ob die Gesänge so zu Herzen gehen, dass sie auf Dauer konserviert werden oder ob sie schnell wieder vergessen sind. Zinzendorf war überzeugt, dass sich Qualität durchsetzen wird. Der Heilige Geist würde alles erhalten, was in Harmonie mit den oberen, himmlischen Heerscharen zu singen ist, alles andere sollte gern und getrost schnell untergehen. Und diese Bitte hat Gott erhört, seine Hoffnung ist vollkommen in Erfüllung gegangen, im schweizerischen Gesangbuch unserer Tage sind noch genau fünf Lieder von ihm enthalten.
Aber natürlich war der Graf auch ein demütig-eitles Knopfloch, er ließ denn recht viel und täglich und oft singen, damit etwas bleiben, sich vor allem aber dem Herzen einbilden sollte. Effizienter weise organisierte man in den Brüdergemeinden Gottesdienst und frohes Schaffen gelegentlich gleichzeitig. Beten und Arbeiten kann man im selben Moment, wenn man auswendig singen kann …
Aus (Bethlehem in) Pennsylvania/USA wird berichtet: „Dabei ging’s recht munter und lebendig zu; der eine schusterte, der andere schneiderte, der dritte machte Pulver für die Apotheke, der vierte kopierte, einige schälten Rüben, einige strickten, andere spannen, nähten usw., und dabei wurde von der Liebe recht herzlich und frei diskutiert und mitten drunter die schönsten [Blut]versel gesungen.“
Stellen Sie sich diese umwerfende Innovation vor, wenn dieser Gottesdienst etwas länger dauerte, weil wir mehr Lieder singen würden und wir alle beispielsweise 34 Strophen auswendig könnten, Sie aber Wolle dabeihätten und Socken für die Enkelkinder strickten und andere ihre Kartoffeln für das Mittagessen schälten und Gemüse rüsten würden, die Musiker unter uns Noten von Hand abschrieben und vervielfältigten. Sie könnten auch Ostereier bemalen oder Weihnachtsdekorationen basteln oder Urlaubsfotos sortieren, je nach Jahreszeit. Dazu aber aus vollem Herzen singen und Gott für alle Gute fröhlich danken wie ein kleines Kind.
Graf Zinzendorf liebte die Kinder und war selbst ein sozusagen ein Riesenbaby. Er konnte es mit dem Kindischsein auch richtig übertreiben. Nicht wenige seiner Zeitgenossen hielten ihn für verrückt, wenn er Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist immer wieder „Papa, Mama und ihr Flämmlein, unser Bruder Lämmlein“ nannte oder über die Versöhnung dichtete, es seien „Jesu Beulen, die uns heilen“.
Kinder solle man traktieren, so meinte er, aber wie ein rohes Ei. Mit aller Sorgfalt also, die man sich nur denken kann, müsse man die jungen Herzen hüten. Er gestand auch allen Kindern ihren eigenen, phantasievollen Kinderglauben zu – in einer Zeit, als man Kinder als kleine Erwachsene zu behandeln pflegte und eigentlich nur schaute, ob sie schon zur Arbeit taugten oder eben noch nicht.
Jeremia hatte von Gott ausgerichtet: Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den anderen lehren und sagen: „Erkenne den Herrn“, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß, spricht der Herr …
Kaum ein Mensch hat wohl wie Graf Zinzendorf daran geglaubt, dass Gott alle seine Gebote in die Herzen aller Menschen schreiben kann, wie es der Prophet Jeremia prophezeit hatte. Damit war es ihm sehr ernst. Zinzendorf glaubte sogar, dass Gott sich auch in die Herzen der Frauen einschreibt und dass es nützlich ist, wenn ein Frauenherz zu anderen Frauenherzen spricht. Er ließ schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Gemeindeanlässen Frauen zu Frauen reden. Alle Gemeindeämter wurden doppelt besetzt, mit Männern und mit Frauen. Das war Sensation und Skandal zugleich.
Er nahm auch an, dass Gott die Herzen von Christinnen und Christen aller Konfessionen meint. Ungefähr 200 Jahre bevor die Ökumene so richtig erfunden wurde, produzierte Zinzendorf ökumenische Liederbücher mit Liedern aus der ganzen Welt und aus allen Zeiten. Ob darin alles immer ganz genau theologisch stimmte und jedes Detail der Schrift beachtet war, war ihm weniger wichtig. Eine Gemeinde war nicht besonders himmlisch, wenn sie außergewöhnliche Gotteserkenntnisse hatte, sondern wenn nur ein Haufen bewegter Herzen zusammenkam und es recht lebhaft zuging, gern mit Menschen aus allen christlichen Kirchen seiner Zeit.
Liebe Gemeinde,
natürlich ging es Jeremia nicht nur um ein paar Lieder. Selbstverständlich können wir nicht nur ein paar Gedichte und Verse, selbstredend haben wir nicht nur Texte und Worte gespeichert.
Jede und jeder von uns kann aus dem Stegreif jede Menge Geschichten erzählen, alle selbsterlebten zuerst, die sich so ins Herz eingegraben haben, dass wir sie als Film vor dem inneren Auge sehen und so als seien sie erst gestern passiert. Die große Liebe und die Katastrophen des Lebens, das unerwartete Glück und die Diagnose einer Krankheit. Alles wissen wir von den wirklich entscheidenden Momenten im Leben noch ganz genau, wie das Wetter war und dass Tante Alma an diesem Tag nicht dabei war, weil sie zu erkältet gewesen ist und ungefähr die Hälfte der Heutigen war noch gar nicht geboren und fast nichts war damals schon so, wie es inzwischen geworden ist …
Manches erzählen wir allerdings und mit Bedacht auch nicht. Niemand hat wohl ein ganz unbeschwertes Herz. Nicht wenige Geheimnisse tragen wir mit uns über die Jahre unseres Lebens und bis ins kühle Grab oder teilen sie nur mit wenigen anderen, gleichschlagenden Herzen.
Natürlich forsche ich nicht unserem biologischen Herzen nach, wie es die Ärzte tun müssen und zu unserer Heilung auch tun, sondern so altertümlich, wie man zu Jeremias Zeiten über das Herz dachte. Dort, so stellten sie sich damals vor, wohnte alles:
der Wille des Menschen, manchmal wankend, manchmal unbeirrbar,
die Möglichkeiten zum Guten und zum Bösen, der Ursprung jeder Tat, sei sie böse und verstockt oder liebevoll,
die Sehnsucht und die Liebe, nicht selten schön und schrecklich zugleich,
die Weisheit, sein Leben klug zu führen, zu bedenken, dass ein Mensch sterben muss und jeder flüchtige Moment daher seinen Wert hat.
Im Herzen, so dachten sie, seien alle Dimensionen der menschlichen Existenz an einem Ort gut aufgehoben. Verstand und Gefühl, Kopf und Bauch waren früher nur eines und ein Ganzes. Sie hatten noch nichts auseinandergenommen und auseinandergedacht.
Aber natürlich herrschte deshalb noch lange nicht Friede, Freude und Herzlichkeit allerwegen; unsere Vorfahren kannten sich genau wie wir aus mit den Wunden und Rissen und Brüchen und lebenslangen Narben, die man am Herzen haben kann und wohl auch hat. Jeremia nennt des Menschen Herz „ein trotzig und verzagt Ding“, er kannte das Feuer, das dort brennen kann und er wusste zu berichten, wie ein Herz bricht.
Im Herzen, so glaubten Jeremia und die Seinen, so glaubten Zinzendorf und seine Getreuen, begegnen sich an einer winzigen Stelle Himmel und Erde: Dort entsteht das, was uns – sehr irdisch – was wir selbst entscheiden, was uns feige bleiben oder Mut finden lässt, was uns zur Tat schreiten lässt und dort trifft uns das, was über uns kommt, was größer ist als wir, was unser Herz erfüllt, ob es uns gefällt oder nicht, dem wir ausgeliefert sind, das wir erleiden müssen. Dort lebt unsere Ohnmacht gegenüber manchen Gefühlen, dort ist der Ort, an dem wir nichts machen können.
Jeremia hat das am eigenen Prophetenleibe erfahren. Er schließt mit einem großen Trost für unsere und alle Herzen:
Das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gebot in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein. […] ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Das Böse und das Leid unserer Herzen wird zuletzt nicht mehr sein und bis dahin ist unser Auftrag, die Herzen aufmerksam zu pflegen, die anderen und milde zu sein mit dem eigenen, alles zu tun, was ein Herz schon jetzt erleichtern könnte.
An Pflegemitteln fehlt es nicht. Zinzendorf schätzte besonders die Wirkungen der Farbe und der Musik auf die Herzen. Er ließ deshalb die Schlafsäle in der Herrnhuter Gemeinde hell, weiß streichen und er ließ sie sogar heizen! Das war ein unerhörter Luxus zu seiner Zeit, aber der Graf hatte Gottvertrauen und Geld. Auch die hygienischen Umstände bildeten einen starken Kontrast zu den Üblichkeiten der damaligen Zeit. Zinzendorf glaubte nicht nur, dass es der Herr den Seinen im Schlaf geben würde, sondern auch, dass das fröhliche Erwachen am Morgen über den ganzen Tag entscheiden würde. Daher sorgte er sich darum, dass die meisten Menschen in Herrnhut von harmonischem Gesang geweckt würden und nicht von irgendwelchen schrecklichen oder aufschreckenden Geräuschen. Deshalb ließ er zeitweilig singende Gruppen durch das Dorf ziehen, um die Schlafenden sanft zu wecken. Denn, so glaubte er, wer jeden Tag auf Erden gut aus dem Bett kommt und mit einem getrosten Herzen aufsteht, wird auch am jüngsten Tage fröhlich erwachen. Das schenke Gott uns allen.
Und sein Friede, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne bis dahin in Christus Jesus, Amen.
[1] Vgl. zur ganzen Predigt Zimmerling, Peter: Ein Leben für die Kirche. Zinzendorf als Praktischer Theologe, Göttingen 2010.
Perikope