Wahrzeichen!
(Predigt über das Augsburger Bekenntnis und dessen 4. Artikel im Gottesdienst der ev.-luth. Kirchengemeinde in Rom in der Erlöserkirche)
Der 4. Artikel des Augsburger Bekenntnisses (CA 4):
Weiter wird gelehrt, dass wir Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott nicht durch unser Verdienst, Werk und Genugtuung [also Gott versöhnende Leistungen] erreichen können, sondern dass wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnade um Christi willen durch den Glauben, nämlich wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird. Diesen Glauben will Gott als Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, ansehen und zurechnen, wie der Heilige Paulus im 3. und 4. Kapitel des Römerbriefes sagt.
Ein Wahrzeichen, liebe Gemeinde, zeichnet jede Stadt aus. Ein Wahrzeichen, mit dessen Hilfe man die Stadt unverwechselbar identifizieren kann. In früheren Jahrhunderten mussten wandernde Handwerkergesellen genau das Wahrzeichen beschreiben können, damit man ihnen den Aufenthalt in der entsprechenden Stadt abnahm.
Rom verfügt über zwei Wahrzeichen, wenn man dem Internet-Lexikon Wikipedia glauben darf: den Petersdom und das Kolosseum. Und ausgerechnet hier, oberhalb des Kolosseums gibt es nun – dank Ihres Einsatzes – die Piazza Martin Lutero.[i] An ihn als einen deutschen „Theologen“ wird mit entsprechenden Jahreszahlen erinnert.
Ich stelle mir vor: Ich stehe auf der Piazza. Ein römischer Bürger kommt vorbei, sieht das Schild und spricht mich an. Der Mann fragt, was das denn nun soll: ein bisschen europäische Folklore oder gar Touristen-Werbung? Es kommen doch bereits viel zu viele Touristen nach Rom!
Ich weise hin auf das erklärende Schild mit der Bezeichnung teologo. Martin Luther ist nach seinem Selbstverständnis „Theologe“ gewesen, und die Bezeichnung an der Piazza klärt zugleich darüber auf, dass Luthers Theologie, sein Reden von Gott bedeutsam ist: und zwar nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch noch in der Gegenwart. Denn Luthers Reden von Gott, seine Entfaltung des Christusereignisses hat Geschichte gemacht und Kirche geformt; übrigens auch die römisch-katholische.
Der römische Bürger ist verblüfft. Der Streit zwischen Luther und dem Papst war keine Privatsache? Der Mann möchte es nun genauer wissen. Und da lande ich schnell beim Augsburger Bekenntnis von 1530. Denn in diesem Bekenntnis sind Luthers theologische Impulse aufgenommen worden und haben Kirche erneuernd gewirkt. Für mehr als 70 Millionen lutherische Christen auf der Erde gehört das Augsburger Bekenntnis bis heute zur Grundlage ihrer Kirchengemeinschaft.
Damals geschah folgendes: Kaiser Karl der V. lud zu Beginn des Jahres 1530 zu einem Reichstag nach Augsburg ein. Nach 10-jähriger Abwesenheit wollte er sich persönlich um die dringenden Angelegenheiten des Reiches kümmern. Dazu zählte vor allem die Gefahr aus dem Südosten: Die Türken waren mit ihren Heeren das Jahr zuvor bis vor die Tore von Wien gelangt. Umso dringlicher war es für den Kaiser, die religiösen Streitigkeiten im Reich zu beenden. Er forderte alle politisch Verantwortlichen im Reich auf ihre Meinung in den Glaubensdingen schriftlich darzulegen „in Liebe und Güte“, damit man wieder zur Eintracht gelangen könne.
Luthers Landesherr, der Kurfürst Johann der Beständige hörte auf die Idee seines Chefdiplomaten Gregor Brück. Dieser schlug nach Empfang der kaiserlichen Einladung vor, dass die eigene Ansicht in den Glaubensdingen „ordentlich in Schriften zusammengezogen werde mit gründlicher Bewährung derselben aus göttlicher Schrift“.[ii]
Und damit waren die Wittenberger Theologen am Zug. Martin Luther durfte später als vom Kaiser Geächteter nicht am Reichstag teilnehmen. Er war aber an den Beratungen zur Vorbereitung beteiligt und hat seine Meinung in den Gesprächsrunden geäußert. Während des Reichstags verblieb er auf der Veste Coburg.
Federführend bei der Anfertigung des Bekenntnisses war Luthers Freund und Kollege Philipp Melanchthon. In Abstimmung mit anderen evangelisch Engagierten legte der Kurfürst am 25. Juni 1530 das Augsburger Bekenntnis vor bzw. ließ es durch seinen Kanzler vor dem Kaiser und den anderen hohen Herren auf Deutsch vorlesen. Ganz ursprünglich war eher so etwas wie eine regionale kursächsische Verteidigungsrede geplant. Aber durch den Prozess der Beratungen auf dem Reichstag kam mit einem Male ein Bekenntnis zustande, das die meisten evangelisch Gesinnten hinter sich versammelte.
Eine Sternstunde der Kirchengeschichte ereignete sich: Der sächsische Kurfürst, befreundete Fürsten und Städtevertreter von Nürnberg und Reutlingen traten öffentlich mit einem Bekenntnis auf. Dass ausgerechnet die geschmeidigen Diplomaten Farbe bekannten, hat schon Martin Luther amüsiert und begeistert. Spannend finde ich: Bei den Evangelischen hat niemand in jenen Jahren über die Verfasserfrage gesprochen! Das war nicht wichtig! Das Bekenntnis wurde – unbeschadet der hauptsächlich von Melanchthon geleisteten Arbeit – als Mannschaftsleistung gefeiert, gewürdigt und wahrgenommen! Nachahmenswert bis heute ist die Art und Weise, wie die Evangelischen ihren Glauben darlegten. Sie taten es als Einladung zum Frieden! Und sie profilierten ihren Glauben nicht dadurch, dass sie die Gegenseite schlecht machten!
Das Augsburger Bekenntnis mit den 28 Artikeln lässt sich in zwei Teile gliedern: einmal 21 Lehrartikel und dann 7 Artikel, in denen aus evangelischer Sicht Missstände in der Kirche benannt werden. Am meisten charakteristisch für das Augsburger Bekenntnis ist wohl doch der 4. Artikel, der von der Rechtfertigung des Menschen handelt.
In diesem Artikel geht es um die Lebensfrage des Menschen schlechthin. Es geht um die grundlegende Frage nach Heil oder Unheil, nach Licht, das gegen alle Dunkelheit ankommt, nach dem, was einem im Leben und im Sterben hilft. Der vergängliche, mit sich im Unreinen befindliche Mensch, er bedarf der Vergebung der Sünde, er bedarf einer Gerechtigkeit, über die er von Haus aus nicht verfügt. Und diese Vergebung, diese Gerechtigkeit schenkt Gott dem Menschen gratis, d.h. umsonst. Er schenkt sie ihm aus Gnade! Diese Gnade ist konkret. Sie setzt sich gegen die Gnadenlosigkeit dieser Welt durch. Und sie tut dies konkret in der Geschichte des Jesus von Nazareth. Durch Sterben und Auferstehen von Jesus Christus vergibt Gott uns die Sünde, schenkt uns Gerechtigkeit und Ewiges Leben. Dies bezeugt der Apostel Paulus im 3. und 4. Kapitel seines Römerbriefes.
Der Artikel von der Rechtfertigung allein aus Gnade, allein durch Christus, allein durch den Glauben hat Folgen. Denn nun können die Taten und Handlungen der Menschen nicht einem Verdienstdenken zugeordnet werden, wie es im Spätmittelalter weithin der Fall gewesen ist. Die Evangelischen hatten dies ausdrücklich gesagt: Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott erlangen wir nicht durch unsere Verdienste oder unsere Werke. Folge der Lehre von der Rechtfertigung. - Ich nenne nur zwei Beispiele aus dem Augsburger Bekenntnis für kritisierte Missbräuche:
Kirchliche Gebräuche machen nicht vor Gott gerecht, sie dürfen nicht absolut gesetzt werden (CA 26). Und das Lesen einer Messe gegen Geld, um einem anderen einen geistlichen Mehrwert zukommen zu lassen, ist ebenfalls ausgeschlossen (CA 24).
Aus Gnade macht Gott den gottlosen, sündigen Menschen gerecht um Christi willen. Das bedeutet: Gottes Liebe tritt an die Stelle menschlicher religiöser Leistung; das Christ-Sein hat Vorrang vor allem Tätig-Werden; es muss heilsam unterschieden werden zwischen der Person und ihren Werken. Das alles ist aufregend bis heute! Und es bleibt herausfordernd! Unser Artikel von der Rechtfertigung, er kennzeichnete einen Umbruch in der Kirchengeschichte. Aber er trennt uns heute nicht mehr von der römisch-katholischen Kirche! Denn seit 1999 gibt es mit der Gemeinsamen Erklärung einen Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre!
Auf der Piazza Martin Lutero, da sage ich dem interessierten römischen Bürger vielleicht: Das Augsburger Bekenntnis ist ein Wahrzeichen des Protestantismus. Das Wort Wahrzeichen kommt vom Althochdeutschen „Wortzeichen“.[iii] Ein Wahrzeichen ist demnach kein Selbstgänger, es muss mit Worten erklärt und beschrieben werden genauso wie die Botschaft des christlichen Glaubens. – Martin Luther hat durch seine Lehre von der Rechtfertigung, wie sie im 4. Artikel des Augsburger Bekenntnisses begegnet, eine Konzentration in der Lehre von Gott, d.h. in der Theologie geschaffen: Der Glaube an Gott und seinen Sohn Jesus Christus ist Evangelium, d.h. eine froh machende und befreiende Botschaft. Das hat Martin Luther auf seine Art und Weise herausgestellt für die Christen aller Zeiten!
Vielleicht sage ich dem römischen Bürger auch: Wie Sie hier von der Piazza, vom Colle Oppio das Wahrzeichen Roms sehen, so hat Martin Luther durch seine Verkündigung uns Jesus Christus als Erlöser, als Wahrzeichen des christlichen Glaubens vor Augen gestellt! Und das berechtigt alle Mal dazu, einen Platz nach ihm zu benennen.
Die Lebensfrage des Menschen schlechthin beantwortet Gott in Jesus Christus für uns mit einem Ja. Gottes bedingungslose Liebe lässt leben! Das, liebe Gemeinde, ist nicht selbstverständlich. Das ist nicht etwas, was wir wie das Einmaleins lernen und abhaken. Das ist eine Verheißung, die wir uns nur immer wieder neu zusagen lassen können. Das ist eine Verheißung, die gegen die Zwänge der Leistungsgesellschaft unser Ohr und unser Herz im Gottesdienst am Sonntag sucht! Das ist eine Verheißung, die wir immer wieder neu bitter nötig haben gegen alle Dunkelheiten und Finsternisse, die uns zusetzen. So auch den Zuruf Jesu: „Mein Sohn, meine Tochter, deine Sünden sind dir vergeben.“ (Markus 2,5)[iv]
Unser vierter Artikel aus dem Augsburger Bekenntnis ist in der knappen Gestalt der theologischen Lehre formuliert. Aber wir brauchen immer wieder die lebendige Anrede, wie sie z.B. in Luthers Lied erklingt.
Jesus Christus spricht zu mir: „Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen; ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen; denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein, uns soll der Feind nicht scheiden.“ (EG 341,7)
AMEN
[i] Am 16. September 2015 weihte der Bürgermeister auf eine innerprotestantische, stadtrömische ökumenische Initiative unter der Federführung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rom hin den Martin-Luther-Platz, die Piazza Martin Lutero ein. Dieser Platz befindet sich in einer Grünanlage, in einem Park auf dem Hügel Colle Oppio.
[ii] s. Christian Bogislav Burandt, Gegen Fürsten, Tod & Teufel. Eine Erzählung um das Augsburg Bekenntnis, Leipzig 2014, S. 14; in dem Buch auch alle Ereignisse und Fakten rund um das Augsburger Bekenntnis.
[iii] s. „Wahrzeichen“ im Internet bei Wikipedia vom 16.10.2015.
[iv] Evangelium für den 19. Sonntag nach Trinitatis im Gottesdienst am 11.10.2015.