Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann?
Darf ich fragen, ob Sie Herrn Ebed-Melech kennen? Leider - er ist vergessen! Aber ab heute sollten Sie sich seinen Namen schon merken! Ausländer, dunkelhäutig, ein Kuschiter. Die Vorfahren aus Afrika. Beim König Zedekia hat er einen hohen Posten im Finanzministerium.
Seine Geschichte zu erzählen, heißt auch, eine andere zu entdecken. Die Geschichte Jeremias. Jeremia ist Prophet. Oder soll ich sagen: Prediger? Er redet im Namen Gottes – und sich um Kopf und Kragen. Gefährliche Situationen häufen sich. Jeremia prangert das Gefälle von Reich und Arm an, die Ungerechtigkeit im Lande, die Machtspiele – und dass sich die Menschen ihre Götter machen und ihnen nachlaufen. Dabei wollen sich viele, wenn schon, mit Gott schmücken und in seinem Namen gar große Politik machen. Wenn da nicht dieser Jeremia wäre…
Sogar mit königlicher Billigung wird Jeremia in eine Zisterne geworfen, der Störenfried, Defätist und Besserwisser in ein unterirdisches Wasserloch. Durch eine kleine Öffnung notdürftig abgeseilt, fällt er in den Schlamm. Er kann sich kaum bewegen. Das Atmen fällt schwer. Ein entsetzlicher Gestank. Hier soll Jeremia vermodern. Der König hat dem Drängen des Mob – übrigens alles ehrenwerte Leute mit Rang und Namen - einfach nachgegeben. Lakonisch heißt es nur: „Er ist in euren Händen; denn der König vermag nichts gegen euch.“
Aber Ebed-Melech, Zeuge dieser Untat, stürzt zum König. Ob willkommen oder nicht: Jetzt redet er!
Langsam: Heben wir uns diese Geschichte für den Schluss auf!
Hoffnungsgeschichte
Diese übel riechende Episode hat ihren Platz im Jeremia-Buch gefunden. Wenn Sie sie nachlesen möchten: im 38. Kapitel. Viele Kapitel gehen voraus. Reden, Konflikte, Hoffnungen! 38 Kapitel!
Wie alles angefangen hat? Jeremia erzählt:
Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
(Jeremia 1, 4-10)
Ein Bewerbungsgespräch sieht anders aus! „Sein Wort geschah zu mir!“ sagt Jeremia. „Sein Wort“! Die Ebenen verwischen. Immer wieder tauchen die Worte „ich“ auf oder „mir“. Doch immer auch: ER. Es ist von einer Begegnung die Rede, die Jeremia nicht gesucht hat. Und auch nicht einfach gefunden hat. Gott spricht Jeremia einfach an. Nicht nur einmal.
Generationen von Menschen haben sich diese Geschichte angeeignet und zu ihrer eigenen gemacht. Generationen von Menschen haben sie auch gelesen und sich in ihr gefunden. In Synagogen, Klöstern und Kirchen, zu Hause, im Gefängnis, im KZ.
Geboren werden, seine Nische im Leben finden, Schmied seines Glückes zu sein, gehört zu unseren vertrauten Erfahrungen. Doch so weit schon vor der Geburt von Gott ausgesucht und zum Propheten bestellt zu sein, gar für Völker und Königreiche, wie es dem Jeremia geschieht – unheimlich. Darf Jeremia denn kein eigenes Leben haben? Keine eigenen Träume? Es ist, als ob Gott selbst seine eigene Weite, gar seine Ewigkeit in dieses Leben legt – und sich seinem Propheten Jeremia so anvertraut, wie ER ist. Wie ER!
Du kommst aus meinem Herzen. Ich liebe dich. Du warst noch nicht geboren. Ich aber sah schon deinen Weg. Du wusstest noch nicht, wie du heißt. Ich hörte schon, was du sagst.
Mich wühlt diese Geschichte auf. Jetzt soll ich sogar über sie predigen. Für wen soll ich denn jetzt sprechen – für Jeremia? Für Gott? Für mich? In welches Spiel bin ich nur geraten? Ob ich da noch einmal heraus komme?
Dass Gott tatsächlich die Traute hat, Jeremia an seinem Weg zu beteiligen, fällt sofort auf. Es ist eine Liebeserklärung für viele Menschen, die unbekannt, vergessenen oder verstoßen sind. Es ist auch eine Liebeserklärung für die Menschen, die sich verfahren haben, die scheitern, die nicht verstehen, wie sich die Dinge gegen sie verschwören. Mit den Mächtigen wird Jeremia sich anlegen müssen – den Schwachen wird er eine Stimme geben. So übermächtig die Völker und Königreiche die Atlanten auch ausfüllen - bei Tageslicht besehen passen sie auf eine Seite. Mit jedem Menschen, der – Hunger hat!
Wie alles anfängt
Verzeihen Sie, ich habe Ihnen den Vorspann der Geschichte Jeremias vorenthalten. Darf ich Ihnen die Geschichte ein wenig anders erzählen als in der Bibel überliefert? Mit Überraschungselementen und einer gehörigen Portion Mut? Sie werden schnell merken, in welche Richtung es geht – und gehen kann. Dies sind meine Worte! Zu mir geschah das Wort des HERRN im 15. Jahr der Kanzlerschaft Angela Merkels, im 4. Jahr der Präsidentschaft Donald Trumps und im 6. Jahr des EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm,
zur Zeit, als ein neuartiges Virus, Corona, die ganze Welt überzog, viele Nationen Unternehmen und Menschen in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten, die Kirchensteuereinnahmen in Deutschland zurückgingen und weltweit über Rassismus diskutiert wurde
Und des HERRN Wort geschah zu mir …
Immer zu jung
Nicht zu taugen, ist eine mutige Auskunft. Jeremia unterbricht den Redefluss Gottes? Ob die Nummer zu groß ist oder vielleicht auch einfach nur zu früh kommt? Ich würde es gerne wissen, gerne auch erzählen. Aber alles ist nur angedeutet, hingehaucht. Doch! Ein Augenblick wird festgehalten: „Ich bin zu jung“.
So einfach sich das anhört – es ist eine zauberhafte Formulierung. Zu jung heißt eigentlich: zu klein, zu unbedeutend, zu unwichtig. Aber die Übersetzung „zu jung“ ist andererseits zu genial, um sie zu klein zu reden. Denn „jung sein“ bedeutet, wachsen zu können, nicht fertig zu sein, noch neu anzufangen. „Jung sein“ drückt Weite aus, aber auch Wagnis, Offenheit, aber auch Unbekümmertheit. Jeremia sagt nicht nur, er sei „zu jung“ – er muss jung sein (und jung bleiben), um sich von Gott anstecken zu lassen und: um ihn überhaupt aushalten zu können!
Später wird Jeremia klagen, Gott habe ihn verführt. Bezirzt wie ein junges Ding. Einfach hereingelegt.
Rainer Maria Rilke schrieb 1907 ein Jeremia-Gedicht:
Welchen Mund hast du mir zugemutet, damals, da ich fast ein Knabe war: eine Wunde wurde er: nun blutet aus ihm Unglücksjahr um Unglücksjahr. http://rainer-maria-rilke.de/090013jeremia.html
Das Bild ist eindrücklich: Mund – wund. Blutig geredet.
Allerdings: Den leisen Schrei, die verhaltene Bitte hören wir auch: Hilf mir! Lass mich nicht allein! Da rührt Gott Jeremias Mund an. Die Hand ist leer und offen. In der Hand liegen keine Worte. Keine fertigen Formulierungen. Keine ausgereiften Argumente. Einfach leer! Aber die Berührung ist zärtlich.
Wie er die Berührung empfindet und was sie mit ihm macht, erzählt Jeremia nicht. Doch gar nicht so lange danach, als er sich in das Getümmel wirft, es mit Autoritäten und Institutionen aufnimmt, weiß er sich getragen. Ihm wachsen die Worte zu. Er findet sie, er formt sie, er steht für sie ein. Es sind seine Worte. Dass er dann alles, was er sagt, sagen kann als Gottes Wort, überrascht ihn, überrascht andere, überrascht uns bis heute.
Gelernt hat es Jeremia nicht. Dabei muss er jedes Wort bewähren und für jedes Wort geradestehen. „So spricht der Herr“ - wollen Sie einmal zählen, wie oft Jeremia das sagt? Einige Menschen in seiner Umgebung sind dabei richtig glücklich – andere sehen darin nur eine Kampfansage und blecken mit den Zähnen.
Dass Jeremia auch die Einsamkeit, gelegentlich sogar die Verlorenheit Gottes mittragen muss, konnten nur die wenigsten ahnen. Gott kann mit jedem Wort verlieren, das in seinem Namen gesagt und gewagt wird. Unbeteiligt ist Jeremia dabei auch nicht.
Obwohl doch „zu jung“, sieht Jeremia oft alt aus. Er beobachtet alles – und eckt an. Er muss sich rechtfertigen – und findet kein Gehör. Er muss mahnen – und wird totgeschwiegen. Er setzt sich für Recht und Gerechtigkeit ein – und wird als Feind diffamiert. Er weiß um das Unheil in der Welt – und die Fachleute und Berater reden alles schön.
Auserwählt und ausgesondert
In unseren Straßenbildern, Nachrichtensendungen und Arbeitswelten taucht die große Welt tatsächlich täglich auf. Mit vielen Sprachen, Gesichtern und Traditionen. Manchmal ist die Welt so klein, dass sie in meine Tasche passt – und manchmal so groß, dass ich mich in ihr verliere. Dass wir uns nach Hoffnungsgeschichten sehnen, ahnen wir nicht nur.
Gott hat sein Volk von Anfang an und für alle Zeit auserwählt! Stellvertretend übernimmt es Jeremia, die Liebeserklärung Gottes wachzuhalten und einen neuen Bund anzukündigen. Die alte Geschichte ist verkorkst. Ob das die Hassliebe erklärt, die Jeremia entgegenschlägt? Jeremia hat doch nur gesagt, was alle wissen… schon lange wissen!
Propheten wird nachgesagt, sie würden etwas voraussagen können– also mehr wissen als die Zeitgenossen. Sie hätten geheimnisvolle, aber zuverlässige Quellen, die nicht jedermann zugänglich seien. Hat Jeremia auch etwas vorausgesagt? Ja! Das Unheil – das Unheil, das Hass, Größenwahnsinn und Ungerechtigkeit die Welt zerstören. Aber Jeremia hat auch Heil verkündet – eine neue Zuwendung Gottes. Doch da lagen schon überall die Scherben herum. Zerstörte Hoffnungen. Gebrochene Biografien.
Jeremia konnte einer der vier großen Propheten werden! Viele Menschen haben an seinem Buch – wohl auch an seinem Lebenslauf - mitgeschrieben und ihre Erfahrungen und Hoffnungen eingetragen. Mal zwischen den Zeilen, mal an den Rändern. Jeremia hatte immer Menschen um sich, die ihn stützten, gelegentlich eine Mauer um ihn bauten und ihn sogar vor sich selber schützten. Die Hand, von der in der Berufungsgeschichte erzählt wird, taucht immer wieder auf. Jeremia wird getragen. Festgehalten. Über Abgründe geleitet. Gottes Hände sehen sehr menschlich aus.
Gottes Rettung in Lumpenresten
Jetzt muss ich aber die Geschichte von Ebed-Melech weiter erzählen! Wir haben sie uns für den Schluss aufgehoben. Sie erinnern sich? Jeremia ist in eine Zisterne geworfen. Schlamm. Willkür. Machtmissbrauch. - Ebed-Melech stürzt zum König. Ob willkommen oder nicht: Jetzt redet er! Es gilt, Jeremia zu retten. Sofort! Sein Hauptargument wird tatsächlich in den Annalen überliefert: „Dort muss er vor Hunger sterben“. Dort – da drüben! Mit noch drei anderen zieht Ebed-Melech Jeremia aus der Zisterne hoch. Liebevoll wird sogar erzählt, dass er Lumpenreste und alte Kleidungsstücke herunterlässt, damit die Seile nicht so einschneiden, wenn das stinkende Häufchen Elend herausgezogen wird. Wie lange Jeremia da unten in der Hölle war? Die Akten sind verschollen, die Spuren aber nicht verwischt.
Wenn doch alle den Mut hätten, Menschen zu retten – einfach weil sie Hunger haben! Der eine kleine Satz schließt die Welt neu auf. Und eigentlich alles, was Jeremia gesagt hat. „So spricht der Herr!“ – Dass Ebed-Melech auch Gott rettet, hätte er sich nicht träumen lassen. Würde Jeremia umkommen – Gott hätte verloren. Wieder einmal mehr. Schon wieder! Und das Recht bliebe auf der Strecke wie die Wahrheit, die sich in Lüge verkehrt, wie die Gerechtigkeit, die in Ohnmacht verwandelt wird.
Aus den Augenwinkeln schiele ich nach Ebed-Melech. Er lächelt – sagen muss er nichts mehr.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist ein normaler Gemeindegottesdienst in der Ferienzeit, unter Coronabedingungen zudem in Kurzform. Die Predigt möchte vielseitige und unterschiedliche Identifikati-onsangebote machen. Es gibt auch Berufungsgeschichten in der Gemeinde, die „freige-legt“ werden könnten. – Ich werde die Predigt frei halten und im Augenkontakt mit den Menschen dialogischer. Die ausformulierte und veröffentlichte Predigt ist auch eine Gesprächsgrundlage.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Mensch Jeremia als Zeitgenosse! Er wird „erwischt“ und „angerührt“, er findet das eigene Wort und kann es als Gottes Wort sagen. Dann aber auch die Figur Ebed-Melechs, der von hinten in die Geschichte tritt, um die Berufung Je-remias zu retten
Beflügelt und gereizt hat mich auch, die Predigt vorab lesen und kommentieren zu lassen. Eine gute Idee!
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
… dass man alt aussehen darf, wenn man „jung“ bleibt.
… dass eine fremde Geschichte die eigene aufschließt
… dass das Geheimnis Gottes pränatal ist
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt ist konziser und klarer geworden, die Linienführung straffer. Einerseits dadurch, dass die „Erstleserin“ ins Spiel kommt, andererseits aber auch durch die längere, aber unterbrochene Vorbereitung. Die Gefahr, Gedanken immer weiter zu ziselieren und den ursprünglichen Schwung einzuhegen, ließ sich aber auch erblicken.