ZDF-Predigt von Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler
2,23-27

ZDF-Predigt von Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler

Predigt zu Invocavit (09.03.2014) von Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler "Ohne falsche Gewissheiten"

Predigttext: Markus 2,23-27

Liebe Gemeinde,

wow! Was für ein Bibelwort! „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“. Sagt Jesus und es klingt so, als hätte er es den dämlichen Pharisäern mal wieder richtig gezeigt.  Diesen Spaßbremsen, die den Jüngern übelnehmen, dass sie ein paar Ähren abbrechen und die Körner essen. Aber so ist es nicht. Es ist auch keine ätsch-bätsch-Erzählung, in der lebensfrohe Spontis es dumpfen Spießern mal richtig geben.

Das wäre viel zu einfach – und einfach, einfach macht es Jesus einem nie. Nein, das Bibelwort vom Ährenraufen am Sabbat atmet den Geist der Aufklärung. Aufklärung ist ja eigentlich die Zeit im 18. Jahrhundert, in der man sich bemühte, durch neues Wissen alte Unklarheiten zu beseitigen – und falsche Gewissheiten zu hinterfragen. Man wollte gerne eigenständig seinen Verstand benutzen, ohne sich ständig von anderen bevormunden zu lassen.

Deshalb lautet die aufklärerische Maxime: „Sapere aude!“ Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Gute Idee – ganz im Sinne Jesu, der Menschen lehrt, ihr Herz zu befragen, auf ihren Bauch zu hören und das Hirn einzusetzen. Gott hat uns das alles gegeben, damit wir rechten Gebrauch davon machen. Da ist also der Sabbat, an dem man Ruhe finden kann, um sich selber, Gott und Mensch mit ausreichend Zeit zu begegnen. Alle Tätigkeiten sollen unterbleiben. Sehr vernünftig!

Wir setzen uns schließlich auch europaweit dafür ein, dass der Sonntag geheiligt wird – und er nicht zu einem Werktag verkommt, an dem ganz normal gearbeitet wird und sämtliche Geschäfte offen haben. Es ist eine einsichtige und lebensdienliche Tradition, den Sabbat und den Sonntag hochzuhalten. Warum also streifen die Jünger mit Jesus fidel durch die Gegend und rupfen Ähren aus? Haben sie Hunger und futtern die zerriebenen Körner.

Da hätten sie doch zuhause ordentlich frühstücken können. Oder sind sie so glücklich, beim Gottessohn zu sein und mit ihm durch die Lande ziehen zu können, dass sie aus Jux und Dollerei in den Weizen greifen? Egal. Die Pharisäer sind verärgert. Entweder man achtet den Sabbat oder man zeigt, dass einem nichts an Gottes Gebot liegt. Entweder man hält sich an die vorgegebene Ordnung oder ist ein religiöser Anarchist. Entweder oder, kein laxes laissez-faire.

Ich gestehe, mir ist das nicht unsympathisch.

Klarheit, Sicherheit ist etwas Großartiges. Da weiß ich, was gespielt wird – ich kann mich daran halten und bin mir schnell im Klaren, was ich und vor allem, was andere richtig oder falsch machen. Die Pharisäer, die wir gerne mal als Pedanten und Kleinkrämer abkanzeln, haben also erst einmal Recht. Der Sabbat, das steht in der Heiligen Schrift, ist von Gott selbst eingesetzt – zum Wohl des Menschen. Man muss darauf schauen, dass dieser gute alte Wert nicht einfach flöten geht.

Die Schriftgelehrten weisen Jesus konsequent darauf hin, dass seine Jünger etwas tun, was nicht erlaubt ist. Ob Hunger oder Lust am Leben – wurscht. Sie meinen es jedenfalls ernst. Und Jesus? Der ist doch auch geradlinig, konsequent, ernsthaft. Bei ihm geht es immer um Leben und um den Tod. Eben. Deswegen geht er gar nicht darauf ein, warum seine Jünger im Weizenfeld gewildert haben. Er wird grundsätzlich. Jesus stößt eine alte Sicherheit um – damit neue Gewissheit einkehrt:

Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht umgekehrt.

Gott hat sich den Feiertag liebevoll für uns ausgedacht, damit es einen festen Tag gibt, an dem wir einmal nicht fremdbestimmt sind. Ein Tag, an dem uns einmal nicht die alltäglichen Zwänge und Zwecke beherrschen. Bierernst und stocksteif  irgendwelche Regeln befolgen? Nein, keinesfalls. Es geht um nichts weniger als unsere Freiheit!
Darum, dass wir bei aller sonstigen Last und Plage wieder aufschnaufen, atmen können.

Jesus will, dass Jüngern und Pharisäern klar wird: Der Sabbat, jüdisch als Ende der Woche verstanden, der Sonntag, christlich gesehen der erste Tag der Woche, sind ein himmlisches Geschenk. Sie machen dem Menschen klar, wer er ist – einer, der ein Recht darauf hat, seine Fähigkeiten in der Arbeit auszuleben. Und der das Menschenrecht besitzt, zu ruhen und zu feiern – wie Gott selbst. Der essen und trinken, vergnügt, nachdenklich, heiter und ernst sein darf nach eigenem Gutdünken.

Der Sabbat, der Sonntag sind Gaben Gottes nicht zum beliebigen, gleichgültigen Gebrauch. Sie sind die wunderbare Chance, einen festen freien Tag bewusst, aufgeklärt und lebensbejahend für sich zu nutzen. Wie – dafür  mag es vielleicht sinnige Tipps geben, aber es braucht kein Rezept, keine Bastelanleitung. Kein „du musst“, „du sollst“. Bei einem Geschenk wie dem Sabbat, dem Sonntag, kann man nicht mit einem fixen Regelwerk zu Werke gehen.  

Jesus sagt: "Ich lebe und ihr sollt auch leben" (Joh 14,19). Das atmet den Duft der Freiheit, der eigenen Entscheidung und Gestaltung. Darum geht es bei der diesjährigen Fastenaktion: Falsche Gewissheiten zu verabschieden, selber zu denken. Denn das macht nicht nur schlau. Selber denken und erfahren schafft Leben.

Zum Beispiel: Früher in der Schule haben Handarbeitslehrerinnen regelmäßig meine Werke vor allen anderen aufgetrennt. "Du Ungeschick" sagten sie höhnisch. Jahrelang habe ich an dieser Gewissheit festgehalten: Ich bin ein rechtes Trampel.

Bis einer kam, der holte mich ins Werken, ließ mich krumm und schief töpfern und sagte: "Warum müssen Teller immer rund und Tassen plan sein? Mach wie du denkst – das ist richtig toll!" Und ich fasste Mut, genierte mich nicht länger. Weg mit der falschen Gewissheit, eine kreative Null zu sein. Solche unhinterfragten Urteile engen ein, nehmen einem jede Möglichkeit, sich weiter zu entwickeln. Ich bin längst kein handwerkliches Genie, aber ich traue mir Überraschungen zu.

Da hat jemand seinen Beruf, ein gutes Einkommen. Das wird so bleiben, denkt er. Auf einmal gerät das Weltbild ins Wanken: Die Firma macht pleite, der Job ist futsch. Haus, Wohnung müssen abgezahlt werden. Die Ausbildung der Kinder kostet Geld. So jemand braucht anstelle der zerbrochenen Sicherheit neue Gewissheit. Er braucht Menschen, die ihn schätzen, ob er Arbeit hat oder nicht. Die seine Familie unterstützen – mit Wort und Tat. Er braucht andere, die ihm neue Perspektiven geben. 

Jahrelang haben viele sich in der falschen Gewissheit gewiegt: Meine Geldanlagen sind sicher. Hohe Renditen sind selbstverständlich.

Irgendwann mussten sie feststellen, dass dem nicht so ist - und sich selber eingestehen, dass sie falschen Versprechungen geglaubt und sich selber nicht näher mit dem Finanzmarkt befasst haben. Selber denken ist natürlich mühsam, anstrengend. Aber wer sich selber aufklärt, wer Informationen sammelt und vergleicht, der wird nicht ganz so leicht betrogen. 

Diese Kirche hier heißt Martin Luther King-Kirche. Der schwarze Prediger und Bürgerrechtler hatte den Mut, falsche Gewissheiten umzustürzen und seinen eigenen Traum zu verkünden: Black and white together! Schwarz und Weiß gleichberechtigt: Im Bus, im Restaurant, in der Schule, am Arbeitsplatz – das ist ein menschenwürdiges Ergebnis davon, dass aufgeklärte Menschen falschen Gewissheiten entschlossen den Laufpass gegeben haben.
Deswegen, weil sie wie der Namenspatron dieser Kirche der göttlichen Aufforderung zum Leben und Lieben seiner Ebenbilder mit dem Kopf verstanden, im Herzen gefühlt  und in die Tat umgesetzt haben. Der Sabbat ist für den Menschen da – dieses ganze Leben ist für uns und unsere Mitmenschen da. Es ist Dynamik, Wachstum, Wandel, Wechsel, Veränderung – wir  dürfen es gestalten, uns hineinwerfen. Spüren, wie sehr Gott es will, dass wir nicht starr, nicht tot, sondern lebendig sind.

Zugleich muss man wissen: Wer falsche Gewissheiten aufgibt, wer mit Traditionen bricht, weil sie einengen, am inneren und am gesellschaftlichen Wachstum hindern, der verunsichert andere. Was, diese ungeschickte Frau will Blumenkästen in die Wand dübeln? Das schafft die nie! Wieso stellt er auf einmal so viele Fragen? Ich bin hier der Fachmann, ich allein weiß, wo´s lang geht. Was jetzt – Du willst am Sonntag ausspannen? Du hast doch da sonst immer gewaschen und gebügelt!

Wer sich einer Sache gewiss ist, der fühlt sich sicher. Solche Sicherheit  gibt Halt – und das ist gut so. Zugleich dürfen wir überprüfen, ob das berechtigt ist, was wir tun oder lassen. Ergibt es einen Sinn? Engt eine Gewissheit uns ein oder lässt sie uns wachsen, gedeihen an Leib und Seele? Diese Fragen sind übrigens auch ein gutes Kriterium, um Glauben zu überprüfen. Setzt diese Art Glaube mich unter Druck, unterwirft er mich? Oder macht mein Glaube frei und lebendig, lässt er mich Mensch sein? 

"Morgenglanz der Ewigkeit" haben wir vorhin gesungen. Eine feine kleine Idee der Gemeinde hier, für spirituelle Gourmets sozusagen. Denn Aufklärung heißt auf englisch "Enlightment", Erleuchtung. Und auf französisch "Les lumières" – Lichter. Morgenglanz der Ewigkeit: Gott bringt uns mit Jesus Erleuchtung, Aufklärung über unser Leben und Sterben. Er macht Schluss mit falschen Sicherheiten und schenkt uns neue Gewissheit:

Dass wir seine geliebten Söhne und Töchter sind, um jeden Tag zu leben. Besonders am Sabbat, am Sonntag.

Amen.