Zieh deinen Weg - Predigt zu Lukas 15,1-3.11b-32 von Manfred Wussow
15,1-3.11b-32

Zieh deinen Weg

Herbert Grönemeyer, Liedermacher,  hat einem seiner Lieder den Titel gegeben: „Zieh deinen Weg.“
Das hört sich dann so an:

Zieh deinen Weg
Folg deinen eigenen Regeln
Zieh deinen Weg
Keine Angst vor richtig und falsch
Wer die Wahrheit kennt
ist niemals überlegen
Vertritt deinen Punkt
aber zeug immer von Respekt


Das Lied erzählt von einer großen Freiheit – und von einer großen Sehnsucht: den eigenen Weg zu gehen, ohne Angst vor “richtig“ und „falsch“, aber auch ohne jede Überheblichkeit. Ganz schön brisant – und bescheiden: „Wer die Wahrheit kennt, ist niemals überlegen“.

Am Ende klingt das Lied aus – es klingt wie ein Resümee:

Lüge nicht
Geh dem Kummer nicht entgegen
Prüfe dich
ob du weißt, wovon du sprichst
Zweifel nicht
Jeder Berg lässt sich bewegen
Gib nie auf
Sei bereit fürs große Glück.


Nicht dem Kummer entgegenzugehen, wird als Wunsch und als Hoffnung formuliert. Für wen? Ist es eine Warnung, eine Ahnung, ein Wunsch? Wer sich auf den Weg macht, nur seinen eigenen Regeln folgt und ohne Angst vor „richtig“ und „falsch“ - könnte dem Kummer entgegengehen. Es gibt Menschen, die sagen im Brustton der Überzeugung: wird dem Kummer entgegengehen!

Im Lied heißt es: Lüge nicht – prüfe dich – zweifel nicht.  Eine dichte Folge von Empfehlungen. Ein Dreiklang. Und doch hat jedes Wort ein eigenes Gewicht. Ob es so reicht, passt? „ Jeder Berg lässt sich bewegen.“ Den Satz hat Grönemeyer dem Evangelium abgelauscht. Es ist ein Wort Jesu: Der Glaube versetzt Berge! Wagemut und Vertrauen liegen in diesem Wort – doch: was heißt hier Glaube? Das letzte Wort hat im Lied – das Glück. „Sei bereit fürs große Glück“! Gib nie auf! Nie!

Der Weg in die Fremde und nach Hause

Das Evangelium erzählt heute tatsächlich von einem jungen Menschen, der sich frohgemut, vielleicht sogar kühn, darauf einlässt, sein Glück zu suchen. Er macht es nicht bei Nacht und Nebel, wenn nicht schon mit dem Segen des Vaters, dann doch mit seinem Geld. Gut ausgestattet sehen wir ihn eine weite Reise antreten. Das Glück liegt in der Ferne – und doch nah genug. Und der junge Mann ist ihm auf der Spur. Als er dann wieder aufwacht – Entschuldigung, es ist bei ihm wohl lange dunkel gewesen -, findet er sich bei den Schweinen wieder. Die schönen Mädchen und die „guten“ Freunde – sie kennen ihn jetzt nicht mehr. Zu essen hat er auch nichts mehr. Bis auf das, was auch die Schweine bekommen. Ist das das große Glück?

Jedenfalls sehen wir den jungen Mann, heruntergekommen, abgerissen, seit Tagen nicht mehr gewaschen, den beschwerlichen Weg nach Hause antreten. Beschwerlich nicht nur, weil er aus der ersehnten Ferne kommt, beschwerlich auch, weil ein Verlierer heimkehrt. Von weitem zu sehen! Mit der bescheidenen Option, Tagelöhner bei seinem Vater zu werden. Ohne Erbansprüche – die sind weg. Und mit ihnen die Würde, Sohn zu sein.

Jesus erzählt die Geschichte, die wir unter dem volkstümlichen Namen „verlorener Sohn“ zu kennen glauben. Wir sehen den Vater – er muss wohl schon oft Ausschau gehalten haben – gegen alle Regeln, gegen allen Anstand mit fliegenden Fahnen und ausgebreiteten Armen auf das Häufchen Elend zulaufen, es an sich drücken und abküssen. Und dann muss alles ganz schnell gehen: Neues Gewand, edler Ring, beste Schuhe – und ein großes Fest. Sogar das Mastkalb, extra für einen besonderen Zweck vorgehalten, muss heute daran glauben.
Denn: „Mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden worden.“ -  Habt ihr etwa Vorhaltungen, Vorwürfe erwartet?

Und Lukas, der die Geschichte überliefert, farbenprächtig und überaus sinnlich, erzählt mitten in seinem Evangelium eine – Ostergeschichte. Die Geschichte von einem neuen Leben. Unverhofft, nicht erwartet. Sogar gegen alle Realität, gegen alle Vernunft.
Wenn uns etwas einleuchtet – bei klarem Verstand, dann das:
„Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.“

Verlorener Sohn?

Ist der Typ, den es am Ende doch noch nach Hause verschlägt, ein verlorener Sohn?
Wir sind sehr im Bann dieses Gedankens. Schön moralisch eingepackt, mit Goldschleife „Erfahrung“ zusammengebunden, bedient der jüngere Sohn dann tatsächlich als „verlorener Sohn“  fromme und weniger fromme Erwartungen – und bestätigt alte Ängste.  Aber genau betrachtet: Er hat sich auf seinen Weg gemacht. Ohne „richtig“ und „falsch“.  Und der Vater hat ihn gehen lassen. Da schwingt auch kein falscher Unterton mit. Es deutet sich auch keine tragische Geschichte an. Der Vater hat schon am Anfang dieses Weges ein mütterliches Herz. Ohne moralischen Zeigefinger, ohne letzte Worte, ohne große Geste. Nicht einmal verhalten äußert sich die Sorge. Der Sohn darf gehen.

Und zurückkehren. Dabei  hätte er bei den Schweinen bleiben können. Stolz und unnahbar. Kein Hahn hätte nach ihm gekräht. Klug und clever hätte er – vielleicht – sogar einen Aufstieg hinbekommen. Wieder von unten und von vorne angefangen. Aus eigener Kraft. Jung und unbeugsam. Das Muster eines Stehauf-Männchens. Womöglich hoch angesehen. Und geachtet in fremder Erde beigesetzt. Aber:  als der Vater ihn in die Arme schließt, als Sohn, nicht als Tagelöhner, ist er gefunden. Er hat sich selbst auch gefunden. Und den Weg, der ihm das Glück schenkt, das er für sich suchte. Die Geschichte, die Jesus erzählt, ist eine Oster-Geschichte. Nur wer auferstanden ist, kann auf den Tod zurückschauen, kann ihn hinter sich lassen, ist ihm entronnen. Jetzt kann seine Geschichte erzählt werden.

In dieser Geschichte spielt es eine große Rolle, dass der jüngere Sohn das Wagnis eingeht, in der Fremde sein Glück zu suchen. Was er erlebt, erfährt und erleidet, formt nicht nur seine Biographie, sondern wird in dieser Geschichte aufbewahrt. Auch für andere! Und in ein neues Licht gerückt! Ich frage provokativ: Kann ein Mensch stolz sein, verlorener Sohn gewesen zu sein? In den Lebensläufen macht sich so etwas nicht gut … Wir haben unsere Träume gestriegelt, die Schubladen für Klischees fein lasiert, unsere Ängste in große Worte gepackt.

Offene Geschichte

Jetzt habe ich was gesagt! Der ältere Bruder, in der Hierarchie ganz oben, nicht einmal informiert, hört, als er von der Arbeit nach Hause kommt, müde, hungrig und dreckig, die Musik, das Lachen, die Freude. Die Auskunft, die er noch auf dem Feld bekommt, macht ihn wütend. Dass für „den“ – er hat keinen Namen mehr und heißt nur noch „dieser dein Sohn“ – ein Fest gefeiert wird, ist eine Frechheit. Jesus erzählt verhalten davon … uns soll der Mund nicht schäumen.

So sehen wir den Vater wieder hinausgehen. Wieder schwenkt der Lichtkegel auf ihn. Der Vater wendet sich – jetzt - dem älteren Sohn zu. Er, der gute, brave Sohn, ist – jetzt -  in der Gefahr, verloren zu gehen. Sich zu verlieren! Aber die beiden scheinen sich nicht zu verstehen. Ob er denn nicht wüsste, dass ihm alles gehören würde, fragt der Vater. Um ihn dann zur Mitfreude einzuladen. Komm, sagt er, dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden … wenn das kein Grund ist, ausgelassen zu feiern? Sich von Herzen zu freuen?

Aber der ältere Sohn …. Ja, was macht er? Kommt er, feiert er mit? Schließt er den jüngeren Bruder auch in seine Arme? Jesus lässt die Geschichte am Ende einfach offen. So, als ob er sie uns anvertraut. Wir müssen sie weiter erzählen. Wir!
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie möchte ich denn die Geschichte weiter erzählen? Wie soll sie denn ausgehen? Welchen Schluss gebe ich ihr? Provokativ tritt ungeschminkt die Frage auf wie ein Star: Kann ein Mensch stolz sein, nicht verloren gegangen zu sein? Wie hört sich das an, wenn er – oder sie – es so sagt? Selbstgerecht? Überheblich? Vielleicht sogar - verbittert? Enttäuscht? Es ist längst nicht ausgemacht, was Glück ist – was Geschenk – was Verdienst. Es ist auch nicht ausgemacht, was im Erfolg Verlust, was im Ruhm Angst, was in der Größe Niedertracht ist. Es ist nicht ausgemacht …
Ich könnte mich um mein Leben reden … Worte verlieren, bevor ich sie gefunden habe… den Ausgang verpassen. Doch: wenn die Geschichte offen bleibt – bleibe ich dann auch offen? Wenn ich ihr kein Ende gebe – kann ich neu anfangen?

Wer stolz ist, nicht so sein wie „der“ oder „die“, bleibt mit sich allein - und kann sich auch nicht freuen, nicht einmal mitfreuen. Die gute Welt gerinnt zu einer kalten … Eine böse Ahnung beschleicht mich: was ist, wenn man draußen bleibt? Nicht mehr dazu gehört? Mit ganz viel Tugend, mit Erfolg, mit dem besten Ruf? Am Ende ist das klar: Das Fest wird – gefeiert! Gastgeber ist der Vater. Er lädt ein. Er lässt sich das Fest etwas kosten. Jetzt wird auch nicht mehr geredet – zumindest nicht vor der Türe! Ich spitze neugierig die Ohren – ob ich etwas von drinnen erhasche?

Das große Mahl

Jesus erzählt ein Gleichnis von dem ganz großen Glück. Das größte Glück in dieser Geschichte ist: ein Mensch, der tot war, ist wieder lebendig geworden – ein Mensch, der verloren war, ist wieder gefunden. Jetzt wird ein festliches Mahl angerichtet! Jetzt wird gefeiert!

Was fällt Jesus ein, uns so durcheinander zu bringen?  Die Dinge auf den Kopf zu stellen? Tatsächlich: der ungewohnte, überraschende Blick räumt uns die Möglichkeit ein, uns in dieser Geschichte wieder zu finden und gleichzeitig hinter die Kulissen zu schauen, die wir meisterhaft auf unseren Bühnen errichtet haben. Feiere ich mit? Wer bin ich auf diesem Fest? Wie kommentiere ich das Ungewohnte, das Unerwartete? Kein Mensch geht allein verloren, kein Mensch wird allein gefunden.

Das Evangelium lässt Menschen feiern, ausgelassen und fröhlich sein.
Ich kenne viele Menschen, die Angst davor haben, ihr Leben zu verändern, denen der Mut fehlt, sich „aufzumachen“, die keine Barmherzigkeit erwarten können – und ich kenne viele Menschen, die verliebt in ihre kleine Welt keinen Traum mehr haben – und sich und anderen keinen zugestehen. Sie schlachten das Schwein für ihre – Tugend.
Die Geschichte vom verlorenen Sohn schenkt uns Worte, darüber zu reden – und barmherzig zu werden.

Übrigens: das Wort „Barmherzigkeit“ meint, hebräisch, den Mutterschoß. Wenn von Gott gesagt wird, er sei barmherzig – wird er als Mutter vorgestellt.
Ein tolles Bild für den – Vater. Am Anfang steht die Geborgenheit. In ihr wächst das Glück. Wie das Leben.

Noch einmal Grönemeyers Lied. Seine letzten Worte:
„Gib nie auf
Sei bereit fürs große Glück“
enden heute an einer langen Tafel.

Ich muss mir jetzt mein Plätzchen am Tisch suchen. Ich habe Hunger.

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.

 

Perikope
21.06.2015
15,1-3.11b-32