In den Versen, die unserem Predigttext vorausgehen, wird erzählt, dass die „Juden“ hinaus in die Wüste wanderten, um Johannes zu hören. Sie hielten ihn eine Zeit lang für einen Messias, waren in jedem Fall von ihm fasziniert. Manche Gemeinden erinnern am morgigen Tag an Johannes den Täufer.
Viele der „Juden“, die in unserem Text nur mit „ihr“ angeredet werden, hatten die Heilung am Teich Bethesda miterlebt: Es gab einen Kranken am Teich Bethesda. Er hatte 38 Jahre gewartet, als erster in die Flut des Wassers zu steigen und so geheilt zu werden. Es half ihm keiner. Jeder war sich selbst der nächste. Dann kam Jesus und ein über Jahrzehnte lang Gelähmter konnte gehen.
Was geschah mit den „Juden“ nach dem Tod des Johannes und nach der Heilung des Kranken durch Jesus? Sie kehrten zu ihrem Bibelstudium zu Haus oder in der Synagoge zurück. Sie saßen über ihren alten Texten, erwogen, welche Auslegung die richtige ist. Was Jesus mit dem Wundern am Teich Bethesda bewirkt hatte, berührte sich nicht. Seine Predigt war ohne Wirkung auf sie. Das ist die Situation, in die hinein Jesus spricht:
Lesung Johannes 5,39 - 47
Bleiben wir daran hängen, dass Jesus offenbar sehr enttäuscht von „den Juden“ war, bleiben wir also bei der historischen Situation kleben, so verkennen wir die Tiefendimension dieser Verse. Die „Juden“ sind hier ein Symbol dafür, wie es gehen kann; wenn man die Schrift zwar liest und doch keinen Zugang zu ihr findet. Angeredet werden zwar die Juden der Zeit Jesu, gemeint sind aber alle, die es mit Jesus Ernst meinen.
Wir schweifen einen Moment ab. Die Menschen der Stadt, in der wir leben, lesen zum überwiegenden Teil nicht in der Bibel. Es interessiert sie nicht. Sie meinen, dass sie diese Worte nicht brauchen. Die alten Texte haben für sie keine Bedeutung.
Haben wir uns davon anstecken lassen, und ist unser Leben auch ein Leben ohne die Schrift? Wenn eben für alle die Bibel unbrauchbar ist, sollte ich dann auf sie hören? Das mag in früheren Generationen anders gewesen sein, aber jetzt und heute ist eine andere Zeit. Sind die Bibel und mit ihr das Hören auf ihre Wahrheit, die Erkundung des wahren Schriftsinnes auch bei uns abhanden gekommen?
Wir hören: „Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin. (Ja), „sie ist es, die von mir zeugt.“ So fremd uns diese Worte klingen mögen, so klar und „steil“ ist ihre Aussage: Wer das wahre Leben, das hier das „ewige Leben“ heißt, sucht, kann die Antwort in der Schrift finden. Sie ist das Tor zu einem neuen Leben.
Lassen Sie uns bitte einen weiteren Bogen schlagen! 1
Die Fragen: „Wer bin ich? Wo komme ich her? Was macht mich im Wesentlichen nicht austauschbar“ gehören für Christen und Nichtchristen zu den entscheidenden Fragen, die wir uns stellen. (Sicher nicht täglich, aber sie brechen immer und immer mal auf.) Keiner kommt an ihnen vorbei.„Was ist das Ziel, woraufhin ich lebe? Wo und wie kann ich mich immer von neuem zurüsten lassen, dieses Ziel zu erreichen? Wie kann ich weiter leben, wenn mein Leben durch grausame Ereignisse aus den Fugen gerät?“
Es gibt die Naturwissenschaften, die viel über uns sagen. Wir wissen, dass wir aus dem Tierreich hinaus gewachsen sind. Jeder Säugling macht im Mutterleib durch, was in der Natur über die Jahrmillionen geschah. Die Psychologen klären uns auf, wie viel Anteile unsere Eltern und unsere Erziehung an uns ausmachen. Sie helfen uns, mit unseren Schwächen fertig zu werden. Ist damit meine Frage, wer ich im Kern und unverwechselbar bin, beantwortet? Sagt mir die Evolutionswissenschaft oder die Psychologie, wer dieses Ich eigentlich ist, das sich im Leben behaupten muss? Jede Einzelwissenschaft über den Menschen erkennt immer über den Menschen und seine „Seele“, aber jeder verantwortliche Wissenschaftler sagt gleichzeitig, das er nicht weiß, was der Mensch eigentlich und im Kern ist. Je mehr Hypothesen, desto mehr Fragen gibt es. Das ist Fakt.
„Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin. (Ja), sie ist es, die von mir zeugt.“
Warum setzt Jesus alles daran, dass Menschen die Bibel „richtig“ lesen, in seinem Sinn „richtig“ das Wort hören?
Die Antwort heißt nach meinem Dafürhalten: „Weil die Schrift allein uns eine umfassende Lehre vom Menschen vermittelt. Sie sagt und zeigt mir, wer ich in der Traditionskette der Glaubenden bin, unauswechselbar, einmalig, angenommen mit meinen Fehlern. Warum kann sie das? Die biblische Lehre vom Menschen ist keine Wissenschaft. Sie geht nicht vom Menschen aus, sondern ausschließlich von Gott. Von Gott etwas zu wissen, von Gott und Christus etwas zu wissen, heißt bis heute, Antworten zu bekommen, die wir sonst nicht bekommen. Die Ähnlichkeit zu Christus, zu der ich aufgerufen werde, die Analogie zu Gottes Verhalten und Walten sind der Schlüssel zu der Frage, warum und wofür ich eigentlich lebe. Geradezu prophetisch nannte sie einst Platon das schönste Band aller Bänder, das mich hält.I2I
Im Juli dieses Jahres jährt sich der 80. Todestag des Pfarrers Paul Schneider, den man den „Prediger von Buchenwald“ nannte. Er war der erste Märtyrer der evangelischen Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus.I3I
Als er durch behördliche Willkür des NS-Staates aus seiner Pfarrstelle versetzt im Hunsrück versetzt wurde, hielt er sich nicht daran. Erst nach einer Zeit gab er seinen starken Widerstand dagegen auf. Er kritisierte in seinen Predigten die totalitäre Herrschaft der Partei, die an die Stelle Gottes gesetzt wurde und schloss sich der Bekennenden Kirche an. Er vollführte nie den „Deutschen Gruß“. Er weigerte sich, den sogenannten Arierparagraphen anzuerkennen, der es getauften Juden untersagte, in der evangelischen Kirche zu predigen.
Irgendwann war das Fass für das NS-Regime übergelaufen, und man brachte ihn in das KZ Buchenwald. Unerschrocken hat er dort Bibelworte beim Lagerappell aus seiner Zelle heraus gerufen, ja geschrien. Er glaubte, dass es allein dieses Wort der Schrift sein kann, das Menschen in der Hölle von Buchenwald Kraft und Trost gibt.
Am 18. Juli 1939 verstarb er an den Folgen einer überdosierten Strophantinspritze. Papst Johannes Paul II. erwies ihm auch die Ehrung seitens der katholischen Kirche.
Wie kann es sein, dass ein Mensch solchen Mut hat, seinen Widersachern mit dieser Unerbittlichkeit entgegen zu treten? Ich meine, dass solches Verhalten möglich ist, wenn einer „keine Ehre von Menschen“ sucht und unabhängig vom Ruhm wird. Jesus sagt in unserem Predigttext die Worte: „Ich nehme nicht Ehre von Menschen.“
Der Vorwurf an „die Juden“ lautet: „Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander nehmt, die von dem alleinigen Gott sucht ihr nicht?“
Eng verkoppelt wird in diesen Worten die Mahnung, in der Schrift das ewige Leben und Jesus selbst zu suchen und in der Nachfolge danach zu streben, keine Ehre haben zu wollen. „Ich nehme nicht Ehre von Menschen.“ Wenn das so ist, wenn ich nicht unentwegt danach strebe, anerkannt zu werden, es mir Schritt für Schritt egal wird, was andere über mich sagen, ob sie mich loben oder tadeln, dann schwindet analog die Furcht vor Menschen.
Ich nehme nicht Ehre von den Menschen. Wer das buchstabiert, geht in die Schule der Furchtlosigkeit. Das eine bedingt das andere. Es gibt in unserem Land eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen, die meinen, dass uns die Asylsuchenden die Perspektive nehmen. Sie argumentieren, dass wir erst an uns und noch mal an uns, dann erst an Fremde denken sollten. In Kassel waren es offenbar Menschen mit diesem Gedankengut, die den Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf seiner Veranda erschossen. Was geschieht mit uns? Etwas plump gefragt, was „macht das mit uns“? Terroristen aller Couleur, stehen sie nun rechts oder links, wollen uns Angst machen und Furcht einflößen: „Wenn du das sagst, wenn du das tust, wirst du sehen, was wir aus dir machen.“
Der heutige Bibeltext ruft uns zu einer Art von Training auf, an der Seite von Jesus unabhängig von Ehrungen werden. Dieses Training wird, so meine ich, die Furchtlosigkeit bei uns wachsen lassen. Es ist enorm wichtig, dass wir uns unserer Quellen erinnern, die Schrift und Jesus in ihr verinnerlichen und so Stück für Stück furchtlos zu werden.
ANMERKUNGEN
Anm. 1 Das folgende ist der Versuch, die komprimierte Theologie der analogia fidei, die Eberhard Jüngel in seinem Aufsatz „Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie“ entfaltet, auf das Niveau einer Gemeindepredigt herunter zu brechen.
(In: Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, Tübingen 2002, S. 291–317.)
Anm. 2 Nach E. Jüngel, a. a. O. S. 7.
Anm. 3 Als Quelle zu der Kurzbiografie liegen zugrunde:
Renate Trautmann, Friedrich Bartsch, Helmut Burgert (Hrsg.): Das Bildnis des evangelischen Menschen, Berlin 1960, S. 248 sowie Philipp H. Hildmann: Schneider, Rudolph, in RGG (4.Auflage) , Tübingen 2004, S. 944.
Liturgische Hinweise:
Als Tageslied wähle ich 382, 1-3 (Ich steh vor dir mit leeren Händen)
An St. der Epistel wird die atl. Lesung vorgetragen: Jeremia 23, 16–29
Vor der Predigt soll 450,1–2 (Morgenglanz der Ewigkeit) gesungen werden.
Predigtlied ist 450,1–4 (Herr Jesu, Gnadensonne