"Zwischen Traum und Wirklichkeit" - Predigt über Jesaja 9, 1-5 von Dirck Ackermann
9,1
Der Friede Gottes sei allezeit mit euch.
An Weihnachten werden Träume wahr.
Ist das so?
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit
Washington, DC, im März dieses Jahres.
Ich stehe am Lincoln Memorial.
Lincoln, der gegen die Sklaverei in seiner Gesellschaft eingetreten ist.
Was für ein historischer Ort!
Ich erinnere mich an alt bekannte Worte:
Ich have a dream, hat da einer gesagt.
Martin Luther King, am 28. August 1963.
„I have a dream“, sagte er. Und dann weiter in deutscher Übersetzung:
Heute sage ich euch, meine Freunde,
trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen
habe ich einen Traum.
Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: „Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen sind.“
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum heute …
Das ist unsere Hoffnung.
Mit diesem Glauben werde ich fähig sein,
aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.
Mit diesem Glauben werden wir fähig sein,
die schrillen Missklänge in unserer Nation
in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu verwandeln.“
Was für ein Traum von Martin Luther King!
Und dann,
wenige Jahre später.
Der Traum scheint zerplatzt. Martin Luther King 1968 erschossen. Robert Kennedy wenige Monate später ebenfalls.
Zwar keine Rassentrennung mehr, aber die WASPs, die White Anglosaxon Protestants, haben noch immer die besseren Ausgangschancen.
Erst Jahrzehnte später wird ein US-Amerikaner mit kenianischen Wurzeln zum ersten US-Präsidenten gewählt. „Yes, we can.“
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit.
Kairo, Ägypten, im Mai dieses Jahres.
Ich stehe auf dem Tahrir-Platz, auf Deutsch: Platz der Befreiung.
Noch immer stehen Zelte auf dem Platz. Noch immer wird demonstriert.
Wir sprechen mit Vertretern der Opposition.
Sie erzählen von ihrem Traum einer freien Gesellschaft.
Alle Menschen sollen teilhaben an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.
Sie sprechen von der Kraft ihrer Bewegung, die weiterhin anhält und die nicht zum Verstummen gebracht werden kann.
Sie hoffen auf einen gewaltfreien Weg in eine freie Gesellschaft, „so wie ihr es erlebt habt vor zwanzig Jahren in Deutschland“.
Gewaltfrei? Denke ich und schaue auf die Brandruine der Parteizentrale der alten Staatspartei von Mubarak.
Zwei Tage später: Wir sind noch in Kairo.
Schüsse fallen in der Nähe des Präsidentenpalasts.
Straßensperren. – Der Verkehr kommt zum Erliegen.
Wir hören von Toten. Die Stimmung ist aggressiv und gereizt.
Und heute: Dirk Römmer, Pastor wie ich aus Schleswig-Holstein, jetzt in Kairo, berichtet: Seit der ägyptische Präsident Mohammed Mursi Mitte November ein Dekret erlassen hat, das ihm sehr weitgehende Rechte verleiht, wird Ägypten von Protesten erschüttert: Fast täglich gibt es Großdemonstrationen gegen den Präsidenten und fast täglich halten dessen Unterstützer mit Kundgebungen dagegen.
„Die beiden Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber und der Hass ist unheimlich“, schreibt Römmer in diesen Tagen. Er schaut mit Sorgen in die Zukunft: „Es scheint absehbar, dass die Regierung jetzt alles daran setzt, Ägypten zu islamisieren, und das wird natürlich zu einer erheblichen Einschränkung der Freiheiten führen“, befürchtet er.
Kairo, Tahrir-Platz. Wieder ein Traum zerplatzt.
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit:
Bethlehem im Juni dieses Jahres. Ich stehe vor der Geburtskirche.
Kein munteres Treiben wie noch vor Jahren.
Das Hotel, in dem ich früher übernachtet habe – wie ausgestorben.
Die Friedenshoffnung, die selbst noch 1997 zu greifen war, heute dahin.
Bethlehem hinter Mauern, Mauern, die höher sind als die, die wir noch aus alten Berliner Zeiten kennen.
Die Sicht, die man früher hatte, wenn man von Jerusalem nach Bethlehem ging – nun versperrt durch Grenzanlagen.
Grenzkontrollen, Wartezeiten.
Bedrückende Stimmung.
Weihnachten 2012.
Ich höre Worte des Jesaja. Worte eines Träumers, eins Visionärs:
Das Volk, das im Finstern wandelt,
sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande,
scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel,
du machst groß die Freude.
Vor dir wird man sich freuen,
wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist,
wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wir verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde
und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Jesaja hat einen Traum.
Einen Traum inmitten einer schwierigen Situation.
Jerusalem ist besetzt oder zumindest von einem überlegenen Feind stark bedroht.
Israel als Gesamtstaat existiert nicht mehr.
Das davidische Großreich, nur noch reine Fixion.
Der Tempel, wahrscheinlich schon zerstört.
Besatzungsrecht. Militärgewalt.
Doch Jesaja erzählt von seinen Traum.
So wie Martin Luther King an die Grundlagen des US-amerikanischen Staatenbundes, an die US-Verfassung anknüpft, so knüpft Jesaja in seinem Traum an die Grundlagen des Reiches Davids an:
Ein neuer Thronfolger aus der Dynastie Davids ist geboren.
Er wird wieder herrschen wie einst David.
Er trägt Königsnamen wie die Thronfolger des Pharaos des alten Ägyptens:
„Wunderbarer, weiser Ratgeber“,
„Starker göttlicher Held“,
„Ewiger Vater und Patron“,
„Fürst des Friedens“.
Einen machtvollen Herrscher erträumt sich Jesaja mit gängiger Königsideologie.
Er soll Frieden bringen, Sicherheit und Wohlstand.
Er herrscht, indem er Recht ausübt und Gerechtigkeit walten lässt.
Eine Vision einer Friedensordnung durch Recht und Gerechtigkeit.
Eine Vision vom Gerechten Frieden. Von einer Friedensordnung als Rechtsordnung. Eine Vision, wo Sicherheit und Frieden nicht gewahrt wird durch militärische Macht und Wahrung nationaler Interessen garantiert werden.
Soldatenstiefel und Militärmäntel, gezeichnet von den Spuren der sinnlosen Gewalt, sind nicht mehr nötig. Sie werden verbrannt.
Stattdessen herrscht Frieden in Recht und Gerechtigkeit unter dem Thron eines gerechten Herrschers.
Jesaja hat einen Traum. Was für ein Traum!
Ein Traum wie der von Martin Luther King.
Oder ein Traum, wie ihn die Christen nach Ende des zweiten Weltkriegs hatten: ein Traum von einem weltweiten Frieden, wo nicht zunächst nach den Bedingungen des militärischen Handelns gefragt wird, sondern nach denen des Friedens. Ein Traum von einem Frieden, wo die Menschrechte und Grundfreiheiten geachtet werden. Ein Traum von einer internationalen Friedensordnung, in der sich Christen einsetzten für die Versöhnung zwischen Völkern, Rassen und Klassen.
Geht dieser Menschheitstraum an Weihnachten in Erfüllung?
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit.
Wir erleben weiterhin zerplatzte Träume:
Der arabische Frühling ist nicht in einen Sommer gemündet.
In Syrien eskaliert weiterhin die Gewalt.
Der Traum von Afghanistan als einer stabilen friedvollen Region liegt in weiter Ferne.
Die Verwirklichung der Idee der Vereinten Nationen als einer internationalen Friedensorganisation bleibt ständige Herausforderung der internationalen Politik.
Und Jesajas Traum?
Jesaja erträumt sich eine monarchische Idealgestalt.
Das Kind in Jesajas Traum ist machtvoll, prächtig, glorreich wie die Herrscher des alten Ägyptens.
An Weihnachten passiert aber etwas Anderes, etwas Neuartiges.
Das Kind von Bethlehem ist arm,
Kind von obdachlosen Eltern,
aus Galliläa stammend. Keine wirklich ehrenvolle Herkunft.
Das Kind wird nicht auf einen Thron gehoben, sondern in einer Futterkrippe gelegt.
Das Kind, das da geboren wird, wird nicht ehrenvoll in Recht und Gerechtigkeit herrschen, sondern wird als Verbrecher am Kreuz hingerichtet.
Das Kind trägt keinen königlichen Namen als Wunder-Rat, Gott-Held usw., sondern den einfachen Namen Jesus.
Das Kind wird verehrt von einem unköniglichen Hoftstaat, von Schafhirten, Subproletariern jener Zeit. Und von drei umherziehenden Frühesoterikern, die einem fragwürdigen Licht gefolgt sind.
An Weihnachten wird der Menschheitstraum ganz anders wahr: Gott schlägt sich auf unsere Seite.
Er kommt mitten in unsere Welt von zerplatzen Träumen.
Er stellt sich auf die Seite der Armen, der Gewaltopfer,
derjenigen, die im Dunkel leben.
Als Kind von Bethlehem leidet Gott mit,
irrt durch die Kriegsschauplätze unserer Welt,
weint die Tränen der Kranken und Verlassenen.
An Weihnachten hat Gott seinen Platz eingenommen.
Nicht auf einem Thron im Himmel als königlicher Herrscher,
sondern er ist bei uns
mitten in unserem Leben mit unseren zerplatzen Träumen.
„Er äußert sich all seiner G'walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding“, heißt es in dem Weihnachtslied, das wir gleich singen werden.
Gott duldet keine Apartheid, keine Trennung zwischen Völkern, Rasse und Rasse, Klasse und Klasse, nicht einmal die Trennung zwischen sich selbst und seinen Geschöpfen.
Das sagt etwas über ihn, Gott, das sagt aber auch etwas über uns.
Seit Gott selbst die Gestalt unserer Leiden angenommen hat,
kann uns die Frage nicht gleichgültig lassen, ob jemand im Dunkel lebt oder nicht,
ob jemand arm ist oder nicht,
ob jemand in Frieden leben kann oder nicht,
ob jemand unterdrückt wird oder nicht,
Diese Fragen können uns nicht unberührt lassen.
Seit Gott selbst im Dunkel gelebt hat,
arm war,
unterdrückt,
unter Gewaltherrschaft gestorben ist,
ist unser Verhältnis zu den Schicksalen von Menschen nicht nur eine Frage der Moral oder der politischen Vernunft;
es ist vielmehr eine Frage des Glaubens.
Seit Gott die Gestalt der Knechtschaft angenommen hat, müssen wir trotz aller zerplatzen Träume nicht in Resignation verfallen oder in neue unerfüllbare Träume flüchten.
Das Leben mit allem Glück, aber auch mit all seinen Wunden,
das Leben in seinem Gelingen, aber auch mit all seinem Scheitern,
das Leben mit all seinem Licht, aber auch mit all seinen Schattenseiten,
dieses Leben bekommt eine unendliche Kostbarkeit und Bedeutung.
Denn Gott selbst nimmt Anteil an diesen Leben mit all seinen widersprüchlichen Seiten.
Gott kommt mitten in dieses Leben hinein zwischen Träumen und der harten Wirklichkeit.
Der Glaube an diesen Gott ist das Gegengift gegen alle Resignation und allen Zynismus angesichts der vielen zerplatzten Träume.
Daher setzen wir uns ein für Frieden durch Recht und Gerechtigkeit,
darum setzen wir uns ein für die Versöhnung zwischen Völkern, Klasse und Klasse, Rasse und Rasse.
Darum bleibt uns das Schicksal der Armen und Gedemütigten nicht gleichgültig, sondern wir streben eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse an.
Weihnachten 2012.
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit.
Gott kommt zu uns mitten in diese unsere Wirklichkeit, damit wir das Träumen nicht verlernen von einer Welt, in der Frieden herrscht in Recht und Gerechtigkeit. Damit wir uns einsetzen für ihre Verwirklichung. Oder um es mit Martin Luther King zu sagen: Mit diesem Glauben werden wir fähig sein,
aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
An Weihnachten werden Träume wahr.
Ist das so?
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit
Washington, DC, im März dieses Jahres.
Ich stehe am Lincoln Memorial.
Lincoln, der gegen die Sklaverei in seiner Gesellschaft eingetreten ist.
Was für ein historischer Ort!
Ich erinnere mich an alt bekannte Worte:
Ich have a dream, hat da einer gesagt.
Martin Luther King, am 28. August 1963.
„I have a dream“, sagte er. Und dann weiter in deutscher Übersetzung:
Heute sage ich euch, meine Freunde,
trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen
habe ich einen Traum.
Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: „Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen sind.“
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum heute …
Das ist unsere Hoffnung.
Mit diesem Glauben werde ich fähig sein,
aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.
Mit diesem Glauben werden wir fähig sein,
die schrillen Missklänge in unserer Nation
in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu verwandeln.“
Was für ein Traum von Martin Luther King!
Und dann,
wenige Jahre später.
Der Traum scheint zerplatzt. Martin Luther King 1968 erschossen. Robert Kennedy wenige Monate später ebenfalls.
Zwar keine Rassentrennung mehr, aber die WASPs, die White Anglosaxon Protestants, haben noch immer die besseren Ausgangschancen.
Erst Jahrzehnte später wird ein US-Amerikaner mit kenianischen Wurzeln zum ersten US-Präsidenten gewählt. „Yes, we can.“
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit.
Kairo, Ägypten, im Mai dieses Jahres.
Ich stehe auf dem Tahrir-Platz, auf Deutsch: Platz der Befreiung.
Noch immer stehen Zelte auf dem Platz. Noch immer wird demonstriert.
Wir sprechen mit Vertretern der Opposition.
Sie erzählen von ihrem Traum einer freien Gesellschaft.
Alle Menschen sollen teilhaben an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.
Sie sprechen von der Kraft ihrer Bewegung, die weiterhin anhält und die nicht zum Verstummen gebracht werden kann.
Sie hoffen auf einen gewaltfreien Weg in eine freie Gesellschaft, „so wie ihr es erlebt habt vor zwanzig Jahren in Deutschland“.
Gewaltfrei? Denke ich und schaue auf die Brandruine der Parteizentrale der alten Staatspartei von Mubarak.
Zwei Tage später: Wir sind noch in Kairo.
Schüsse fallen in der Nähe des Präsidentenpalasts.
Straßensperren. – Der Verkehr kommt zum Erliegen.
Wir hören von Toten. Die Stimmung ist aggressiv und gereizt.
Und heute: Dirk Römmer, Pastor wie ich aus Schleswig-Holstein, jetzt in Kairo, berichtet: Seit der ägyptische Präsident Mohammed Mursi Mitte November ein Dekret erlassen hat, das ihm sehr weitgehende Rechte verleiht, wird Ägypten von Protesten erschüttert: Fast täglich gibt es Großdemonstrationen gegen den Präsidenten und fast täglich halten dessen Unterstützer mit Kundgebungen dagegen.
„Die beiden Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber und der Hass ist unheimlich“, schreibt Römmer in diesen Tagen. Er schaut mit Sorgen in die Zukunft: „Es scheint absehbar, dass die Regierung jetzt alles daran setzt, Ägypten zu islamisieren, und das wird natürlich zu einer erheblichen Einschränkung der Freiheiten führen“, befürchtet er.
Kairo, Tahrir-Platz. Wieder ein Traum zerplatzt.
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit:
Bethlehem im Juni dieses Jahres. Ich stehe vor der Geburtskirche.
Kein munteres Treiben wie noch vor Jahren.
Das Hotel, in dem ich früher übernachtet habe – wie ausgestorben.
Die Friedenshoffnung, die selbst noch 1997 zu greifen war, heute dahin.
Bethlehem hinter Mauern, Mauern, die höher sind als die, die wir noch aus alten Berliner Zeiten kennen.
Die Sicht, die man früher hatte, wenn man von Jerusalem nach Bethlehem ging – nun versperrt durch Grenzanlagen.
Grenzkontrollen, Wartezeiten.
Bedrückende Stimmung.
Weihnachten 2012.
Ich höre Worte des Jesaja. Worte eines Träumers, eins Visionärs:
Das Volk, das im Finstern wandelt,
sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande,
scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel,
du machst groß die Freude.
Vor dir wird man sich freuen,
wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist,
wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wir verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde
und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Jesaja hat einen Traum.
Einen Traum inmitten einer schwierigen Situation.
Jerusalem ist besetzt oder zumindest von einem überlegenen Feind stark bedroht.
Israel als Gesamtstaat existiert nicht mehr.
Das davidische Großreich, nur noch reine Fixion.
Der Tempel, wahrscheinlich schon zerstört.
Besatzungsrecht. Militärgewalt.
Doch Jesaja erzählt von seinen Traum.
So wie Martin Luther King an die Grundlagen des US-amerikanischen Staatenbundes, an die US-Verfassung anknüpft, so knüpft Jesaja in seinem Traum an die Grundlagen des Reiches Davids an:
Ein neuer Thronfolger aus der Dynastie Davids ist geboren.
Er wird wieder herrschen wie einst David.
Er trägt Königsnamen wie die Thronfolger des Pharaos des alten Ägyptens:
„Wunderbarer, weiser Ratgeber“,
„Starker göttlicher Held“,
„Ewiger Vater und Patron“,
„Fürst des Friedens“.
Einen machtvollen Herrscher erträumt sich Jesaja mit gängiger Königsideologie.
Er soll Frieden bringen, Sicherheit und Wohlstand.
Er herrscht, indem er Recht ausübt und Gerechtigkeit walten lässt.
Eine Vision einer Friedensordnung durch Recht und Gerechtigkeit.
Eine Vision vom Gerechten Frieden. Von einer Friedensordnung als Rechtsordnung. Eine Vision, wo Sicherheit und Frieden nicht gewahrt wird durch militärische Macht und Wahrung nationaler Interessen garantiert werden.
Soldatenstiefel und Militärmäntel, gezeichnet von den Spuren der sinnlosen Gewalt, sind nicht mehr nötig. Sie werden verbrannt.
Stattdessen herrscht Frieden in Recht und Gerechtigkeit unter dem Thron eines gerechten Herrschers.
Jesaja hat einen Traum. Was für ein Traum!
Ein Traum wie der von Martin Luther King.
Oder ein Traum, wie ihn die Christen nach Ende des zweiten Weltkriegs hatten: ein Traum von einem weltweiten Frieden, wo nicht zunächst nach den Bedingungen des militärischen Handelns gefragt wird, sondern nach denen des Friedens. Ein Traum von einem Frieden, wo die Menschrechte und Grundfreiheiten geachtet werden. Ein Traum von einer internationalen Friedensordnung, in der sich Christen einsetzten für die Versöhnung zwischen Völkern, Rassen und Klassen.
Geht dieser Menschheitstraum an Weihnachten in Erfüllung?
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit.
Wir erleben weiterhin zerplatzte Träume:
Der arabische Frühling ist nicht in einen Sommer gemündet.
In Syrien eskaliert weiterhin die Gewalt.
Der Traum von Afghanistan als einer stabilen friedvollen Region liegt in weiter Ferne.
Die Verwirklichung der Idee der Vereinten Nationen als einer internationalen Friedensorganisation bleibt ständige Herausforderung der internationalen Politik.
Und Jesajas Traum?
Jesaja erträumt sich eine monarchische Idealgestalt.
Das Kind in Jesajas Traum ist machtvoll, prächtig, glorreich wie die Herrscher des alten Ägyptens.
An Weihnachten passiert aber etwas Anderes, etwas Neuartiges.
Das Kind von Bethlehem ist arm,
Kind von obdachlosen Eltern,
aus Galliläa stammend. Keine wirklich ehrenvolle Herkunft.
Das Kind wird nicht auf einen Thron gehoben, sondern in einer Futterkrippe gelegt.
Das Kind, das da geboren wird, wird nicht ehrenvoll in Recht und Gerechtigkeit herrschen, sondern wird als Verbrecher am Kreuz hingerichtet.
Das Kind trägt keinen königlichen Namen als Wunder-Rat, Gott-Held usw., sondern den einfachen Namen Jesus.
Das Kind wird verehrt von einem unköniglichen Hoftstaat, von Schafhirten, Subproletariern jener Zeit. Und von drei umherziehenden Frühesoterikern, die einem fragwürdigen Licht gefolgt sind.
An Weihnachten wird der Menschheitstraum ganz anders wahr: Gott schlägt sich auf unsere Seite.
Er kommt mitten in unsere Welt von zerplatzen Träumen.
Er stellt sich auf die Seite der Armen, der Gewaltopfer,
derjenigen, die im Dunkel leben.
Als Kind von Bethlehem leidet Gott mit,
irrt durch die Kriegsschauplätze unserer Welt,
weint die Tränen der Kranken und Verlassenen.
An Weihnachten hat Gott seinen Platz eingenommen.
Nicht auf einem Thron im Himmel als königlicher Herrscher,
sondern er ist bei uns
mitten in unserem Leben mit unseren zerplatzen Träumen.
„Er äußert sich all seiner G'walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding“, heißt es in dem Weihnachtslied, das wir gleich singen werden.
Gott duldet keine Apartheid, keine Trennung zwischen Völkern, Rasse und Rasse, Klasse und Klasse, nicht einmal die Trennung zwischen sich selbst und seinen Geschöpfen.
Das sagt etwas über ihn, Gott, das sagt aber auch etwas über uns.
Seit Gott selbst die Gestalt unserer Leiden angenommen hat,
kann uns die Frage nicht gleichgültig lassen, ob jemand im Dunkel lebt oder nicht,
ob jemand arm ist oder nicht,
ob jemand in Frieden leben kann oder nicht,
ob jemand unterdrückt wird oder nicht,
Diese Fragen können uns nicht unberührt lassen.
Seit Gott selbst im Dunkel gelebt hat,
arm war,
unterdrückt,
unter Gewaltherrschaft gestorben ist,
ist unser Verhältnis zu den Schicksalen von Menschen nicht nur eine Frage der Moral oder der politischen Vernunft;
es ist vielmehr eine Frage des Glaubens.
Seit Gott die Gestalt der Knechtschaft angenommen hat, müssen wir trotz aller zerplatzen Träume nicht in Resignation verfallen oder in neue unerfüllbare Träume flüchten.
Das Leben mit allem Glück, aber auch mit all seinen Wunden,
das Leben in seinem Gelingen, aber auch mit all seinem Scheitern,
das Leben mit all seinem Licht, aber auch mit all seinen Schattenseiten,
dieses Leben bekommt eine unendliche Kostbarkeit und Bedeutung.
Denn Gott selbst nimmt Anteil an diesen Leben mit all seinen widersprüchlichen Seiten.
Gott kommt mitten in dieses Leben hinein zwischen Träumen und der harten Wirklichkeit.
Der Glaube an diesen Gott ist das Gegengift gegen alle Resignation und allen Zynismus angesichts der vielen zerplatzten Träume.
Daher setzen wir uns ein für Frieden durch Recht und Gerechtigkeit,
darum setzen wir uns ein für die Versöhnung zwischen Völkern, Klasse und Klasse, Rasse und Rasse.
Darum bleibt uns das Schicksal der Armen und Gedemütigten nicht gleichgültig, sondern wir streben eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse an.
Weihnachten 2012.
Wir leben zwischen Traum und Wirklichkeit.
Gott kommt zu uns mitten in diese unsere Wirklichkeit, damit wir das Träumen nicht verlernen von einer Welt, in der Frieden herrscht in Recht und Gerechtigkeit. Damit wir uns einsetzen für ihre Verwirklichung. Oder um es mit Martin Luther King zu sagen: Mit diesem Glauben werden wir fähig sein,
aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Perikope