Dieses schwache Knäbelein - Predigt zu 1. Johannes 3,1-6 von Doris Gräb
Und der Engel sprach: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren!
Liebe Gemeinde am 1. Weihnachtsfesttag!
In die Engelsbotschaft und in den Gesang der himmlischen Chöre hinein hat Johann Sebastian Bach im Weihnachtsoratorium den Choral komponiert, den wir eben auch gesungen haben: „Brich an du schönes Morgenlicht und lass den Himmel tagen! Du Hirtenvolk erschrecke nicht, weil dir die Engel sagen, dass dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein – dazu den Satan zwingen und letztlich Frieden bringen!“
Offenbar meinte Bach, dass es, um überhaupt verstehen zu können, was der Engel da verkündigt und der Engelschor singt, das klare Licht, das Morgenlicht braucht. – Und vielleicht hat er ja recht.
Denn der Heilige Abend – der ist nach alter liturgischer Tradition doch nur der Vorgeschmack auf das, was am 1. Weihnachtstag dann in ganzer Klarheit in die Herzen und die Köpfe dringen – und mit allen Sinnen gefeiert werden soll.
Und so reiben auch wir uns nun im Morgenlicht die Augen, nach dem verzaubernden Glanz der Heiligen Nacht, und sagen, ja fragen vielleicht ein wenig zaghaft, mit dem Liederdichter Johann Rist: „dass dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein – dazu den Satan zwingen, und letztlich Frieden bringen“? Ja! Wirklich wahr???
Doch, ja, doch! Auch heute Morgen klingt die Weihnachtsbotschaft von der Geburt des Heilandes wieder durch die Welt. Rund um den Globus feiern die Menschen das Fest seiner Geburt, das Fest der Liebe, das Fest der Familie, auch wenn sie die Einzelheiten vielleicht gar nicht mehr so richtig kennen.
Mehr Spenden, mehr Freundlichkeit, aber auch mehr Verletzlichkeit und Sensibilität, - und dazu der manchmal überbordende Weihnachtsschmuck: ja, an Weihnachten ist wirklich alles anders, und viel mehr von alledem in uns und um uns als an allen anderen Tagen des Jahres. Weil, ja weil eben „dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein, dazu den Satan zwingen, und letztlich Frieden bringen….“
Wie kann das nur sein? Dass die Geburt dieses Kindes überall auf der Welt Anlass zur Freude ist, auch wenn viele die Geschichte aus der Bibel gar nicht mehr kennen?
„Seht“, so heißt es in unserem Predigttext aus dem 1. Johannesbrief, „ seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“
Seht hin, hört hin! Gott liebt euch alle. Ihr alle seid gemeint. Allen Menschen auf der weiten Erde verkündigt der Engel Gottes Wohlgefallen – auch den Böswilligen, den Ungeliebten, denen, die Euch eher Angst einjagen! Und Friede soll schließlich auf der ganzen Erde, und nicht nur in euren Weihnachtszimmern sein.
Wie selbstverständlich singen wir, singt die ganze Christenheit an jedem Sonntag in ihrer Liturgie diese unglaubliche Botschaft der Engel, auch wenn wir sie immer noch nicht fassen können: Friede auf Erden – und allen Menschen ein Wohlgefallen.
Widersprüche über Widersprüche, Fragen über Fragen tun sich da auf. Wirklich? Der ganzen Welt gilt Gottes Frieden? Allen Menschen gilt Gottes Liebe, Gottes Heil? Ja, ja: weil sie alle seine Kinder sind.
Und dieses schwache Knäbelein - es ist das Zeichen, so etwas wie der Beweis dafür. So ruft es der Engel den Hirten doch zu: „Das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“
Das ganz Große, die Liebe schlechthin, der Friede schlechthin: alles das, was wir Menschen uns herbeisehnen, ja was sich die Menschheit seit Ur-Zeiten herbeisehnt: in diesem Kind ist es da! Es ist, wie jedes Neugeborene, Symbol für das Neue, für das schlechthin Lebensbejahende.
Und: an jedem Weihnachtsfest, auch gestern, auch heute, wenn unsere Augen auf die Krippe, auf das Kind gerichtet sind, da können wir es sogar erspüren, dieses neue, ungeteilte wahre Leben. Die erbärmliche Krippe birgt in sich, worauf sich die Hoffnung aller Menschen, gleich welcher Religion, welcher Herkunft, welchen Aussehens und welchen Ansehens letztlich richtet: Wohlgefallen, Heil, und Frieden.
In diesem schwachen, elendiglich untergebrachten und notdürftig versorgten Knäbelein will Gott erkannt sein. Wir sollen ihn erkennen als Den, der das Wohlgefallen, das Glück aller Menschen will, Lebensrecht und Lebenszukunft auch für alle die, die morgen und übermorgen in diese Welt hineingeboren werden.
Es ist eine schier wahnsinnige Vorstellung. Da müssen wir uns nun wirklich im Morgenlicht noch einmal heftig die Augen reiben – denn die Sprache der Tatsachen steht doch dagegen, alles spricht letztlich dagegen.
Die Hungersnot im Jemen – offenbar schlimmer als alles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben,- hat ihre Ursache in nichts anderem als in der Böswilligkeit der Menschen. Die einen tun alles dafür, dass die anderen buchstäblich ausgehungert werden. Und wir können nichts tun. Tatenlos, hilflos müssen wir davon hören und mit ansehen, welches Unheil der Hass anzurichten vermag. Und die Liste der Gräueltaten könnten wir ja noch beliebig weiter schreiben – oder aus der langen Geschichte der Menschheit wieder neu ins Bewusstsein rufen.
Nein, die Sprache der Tatsachen gibt keinen Anlass, auf eine bessere Welt zu hoffen. Oder gar daran zu glauben, dass Gott alle Menschen liebt, sogar die Böswilligen, jene, die von uns voller Angst und mit tiefem Misstrauen beobachtet werden. Im Gegenteil, so mögen manche sagen: verschleiert solch ein Glaube nicht geradezu die realen Gefahren?
Und doch feiern wir Weihnachten, doch sind wir voller Freude zur Krippe gekommen – gestern Abend, im Schein der Kerzen – und heute genau so, im Morgenlicht des neuen Tages. Weil da eben dieses unauslöschliche Zeichen ist, auf das der Engel die Hirten damals hingewiesen und es sozusagen an den Himmel geschrieben hat: dieses schwache Knäbelein, in dem sich die Sehnsucht nach Frieden und einem Wohlgefallen für alle, wirklich für alle Menschen auf dieser Erde zum Ausdruck kommt. Das Vollendete im Unvollendeten.
In einer erbärmlichen und übel riechenden Behausung das Kind, das das göttliche Kind ist – und uns alle zu Gottes Kindern macht. – „In unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut…“ so sagt – und singt Martin Luther.
„Allen Menschen ein Wohlgefallen!“ Das ist das göttliche Heilsversprechen, das Weihnachten zu diesem wunderbaren Fest macht. Es ist zugleich Ausdruck einer unüberbietbaren menschlichen Hoffnung, ja, Ausdruck des Gefühls, dass doch wir Menschen, trotz allem, was uns trennt, dennoch zueinander gehören zu einer einzigen großen Menschheitsfamilie – als Kinder Gottes.
Deswegen wird Weihnachten auch überall auf der Welt gefeiert, auch dort, wo die Geschichte von der Geburt des Heilandes im Stall von Bethlehem nahezu unbekannt ist, weil es die Sprache der Hoffnung aller Menschen spricht. Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen..
Der Schriftsteller Navid Kermani hat am Abend seines 50. Geburtstags – so sagte er - Ende November anlässlich der Verleihung des Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen in Köln eine Rede darüber gehalten, was denn eigentlich wichtig, das allerwichtigste sei im Leben von uns Menschen.
Er hat im Rahmen einer Reise durch das östliche Europa diesseits und jenseits der Kriegs-Linien den unterschiedlichsten Menschen diese Frage gestellt.
Und die Antwort, - ich zitiere, „sie läuft auf die üblichen Wünsche hinaus: Gesundheit, Familie, Arbeit, einen Partner, der verlässlich ist und einen zurückliebt; Geld nicht, aber doch ein Auskommen, von dem man in Würde leben kann; Freunde. In manchen Ländern ist das Wichtigste noch schlichter: sauberes Wasser, genügend Nahrung, ein Dach überm Kopf….Manche würden noch Gott anführen, der ihnen näher als die eigene Herzschlagader sei, die jenseitige Existenz…“
Also: so verwandt, so ähnlich sind wir uns in dem, was uns wahrhaft wichtig ist – in der ganzen großen Menschheitsfamilie, ob Freund, ob Feind, ob reich, ob arm, ob gebildet,oder wenig gebildet.
Und dann kommt Navid Kermani zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung. Und er zitiert dabei einen Song-Text von Neill Young, einem amerikanischen Sänger auf dem Höhepunkt der Proteste gegen den Vietnam-Krieg, deren erbittertster Gegner damals Richard Nixon war. Da singt er: Sogar Richard Nixon, der Feind, der Lügner, der fürchterliche amerikanische Präsident, - has got soul - hat eine Seele. Auch dein Feind ist ein Menschenkind, ist ein Gotteskind.
Genau das ist auch die Botschaft jenes schwachen Knäbelein aus Bethlehem Schließlich erwachsen geworden, von ihm selbst ausgesprochen – und vor allem, gelebt: auch dein Feind, auch der, oder die, die du abgrundtief missachtest, oder fürchtest, hat eine Seele – ist ein Gotteskind, ist letztlich dein Bruder, deine Schwester.
Das erleben auch wir an diesem Weihnachtsfest wieder: vor der Krippe angekommen, die Augen auf das schwache Knäbelein gerichtet, weitet sich unser Blick - und das zutiefst menschliche Gefühl einer Verbundenheit mit der ganzen Menschheit, über allen Argwohn und alles Misstrauen hinweg, es kann wachsen.
Die Fremdheit der anderen mag bleiben, derer, die eine andere Kultur, eine andere Religion, auch zu uns bringen. Auch wird es immer wieder vorkommen, dass abgrundtiefer Hass, agressive Bosheit und die ideologische Verwirrung der Geister Feindschaft, Krieg und Terror verbreiten. Dennoch, im Angesicht des göttlichen Kindes, und im Hören auf die Friedenbotschaft der Engel kann immer wieder neu auch unser Mut wachsen, zusammenzustehen, nicht nur im wackeligen Haus Europa, nein, auch in der einen Menschheitsfamilie, der großen Familie der Gotteskinder.
Diesen Anblick und diese Botschaft, wir wollen sie heute Morgen in unserem Herzen bewegen und bewahren – wie Maria, die alle die Worte, die sie damals gehört und das, was sie gesehen hatte, in ihrem Herzen bewegt hat.
„Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott.“ – Auch wir werden gleich wieder umkehren, aus der Kirche hinaus gehen, aber nicht ohne vorher noch aus tiefstem und dankbaren Herzen gesungen zu haben: „Oh du fröhliche, o du selige Gnaden bringende Weihnachtszeit.“
Amen
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Engelschor und Fangesang – Predigt zu Offenbarung des Johannes 7,9-12 von Wolfgang Vögele
Der Seher Johannes, der auf der Insel Patmos gefangen ist, schreibt:
„Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen, und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm! Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“
1.
Liebe Schwestern und Brüder,
in diesem Fall gleichen sich Himmel und der Erde: Zu besonderen Anlässen wie Weihnachten versammelt sich eine große Menge - von Menschen oder Engel. Der Seher Johannes von Patmos flüstert das Stichwort von der „große[n] Schar, die niemand zählen konnte“, ins Ohr.
Auf dem Weg vom Ohr zum geistigen Auge gleiten Erinnerungsbilder von riesigen Menschenmengen ins Bewußtsein. Verschwommen sehe ich zuerst Tausende von Fußballfans auf der Südtribüne des Dortmunder Stadions. Gemeinsam schwenken die Gruppen Fahnen in den Vereinsfarben Schwarz-Gelb. Sie strecken ihre Schals in die Höhe, und wedeln damit im Rhythmus des Klatschens. Ich sehe auch das riesige Feld auf den Elbwiesen bei Wittenberg. Dort trafen sich im Mai Zehntausende von Kirchentagsbesuchern zum Abschlußgottesdienst und feierten singend und betend die Erinnerung an die Reformation. Ich sehe als nächstes das Feld vor dem Kapitol in Washington, D.C., wo sich im Januar 2017 die Anhänger des neuen amerikanischen Präsidenten in kleinen Gruppen drängten. Sie verfolgten, wie er den Amtseid ablegte und bejubelten seine Einführung. Ich erinner die wie immer übervollen Christvespern und -metten am Heiligen Abend, als sich die Menschen auch in dieser Kirche drängten und wie jedes Jahr nach dem Segen stehend „Oh du fröhliche“ sangen. Ich erinnere mich, wie nach der Weihnachtsgeschichte (Lk 2) auf den Feldern bei Bethlehem Hirten und Engel gemeinsam eine „große Schar“ bildeten und den Frieden auf Erden besangen, bevor sie zur Krippe aufbrachen, um kniend und staunend das Baby von Maria und Joseph zu bewundern. Und ich höre von Johannes von Patmos, daß sich auch vor dem Thron Gottes einmal in ferner Zukunft eine große Schar aus Engeln und Glaubenden versammeln wird. Und wer kann die Teilnehmerzahl angeben?
Manchmal kann man über Teilnehmerzahlen streiten. Vom Berliner Kirchentag haben viele Besucher den Weg auf die schattenlose Wiese an der Elbe bei Wittenberg nicht gefunden. Es sangen und beteten viel weniger Teilnehmer als die Veranstalter geplant hatten. Noch schlimmer war es in Washington. Aus der Luft aufgenommene Fotos bewiesen, daß an der Einführung des Milliardärs als Präsident viel weniger Anhänger teilnahmen, als das bei seinem Vorgänger der Fall war. Trotzdem jubelten die Marketingleute des Präsidenten über dessen triumphale Einführung und sprachen von „alternativen Fakten“, auf die sich Fernsehzuschauer und Zeitungsleser genauso verlassen könnten. Je mehr Teilnehmer, desto mehr Zustimmung, Gemeinschaftsgefühl und Erinnerung. Bei Fußballfans, Politfans, Hirten, Engeln und Glaubenden entscheidet die Menge, die Anzahl: Alle zusammen können lauter singen, inbrünstiger jubeln, besser applaudieren, für dieses Wir-Gefühl sorgen, das Fans, Anhänger und Hirten nicht vermissen wollen. Das ist so wichtig, daß die Marketingstrategen der Politik die Zahl der Teilnehmer verschönern und vergrößern müssen.
Johannes von Patmos schreibt auf, was ihm als Vision erschien. Er muß nicht die faktische Zahl der Glaubenden vor dem Thron angeben. Wie er schreibt, versammeln sich vor dem Thron Gottes 144000 Glaubende. Das sind zwölf Mal zwölftausend Menschen, die Zahl der Stämme Israels in Potenz. Keine fake news, sondern eine symbolische Zahl. Vor dem Thron stehen die Menschen von Gottes Wohlgefallen. Von ihnen singen am Heiligen Abend die Engel.
2.
Als Johannes auf Patmos aufschreibt, was ihm von seinen Visionen in Erinnerung geblieben ist, sehen sich die kleinen urchristlichen Gemeinden im römischen Imperium heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Römische Spitzel, Polizisten und Soldaten suchen Christen zu entlarven, bloßzustellen und zu verhaften. Wer nicht auf den göttlichen Kaiser in Rom schwört, wird ohne Gnade hingerichtet. So viele Christen kommen ums Leben, daß der Bestand der Gemeinden gefährdet ist. Der Glaube droht wieder unterzugehen. Die, die noch glauben und den Verfolgern bisher entkommen sind, retten sich in Visionen, die in ihnen Funken von Hoffnung am Leben erhalten. In vielen Teilen der Welt werde noch heute Christen verfolgt: Die koptischen Christen in Ägypten, die zehn Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen, feiern Weihnachts- und Ostergottesdienste seit dem letzten Jahr nur unter starken Sicherheitsvorkehrungen. Bischöfe, Pfarrer und Gemeindeglieder haben bis heute Angst vor Anschlägen. Bei Attentaten und Bombenanschlägen während der Gottesdienste kamen in den letzten beiden Jahren Dutzende von Christen ums Leben.
Manchmal hält die Hoffnung der Wirklichkeit nicht stand. Trotzdem haben die christlichen Gemeinden im ersten Jahrhundert die Verfolgungen des Kaisers Domitian überlebt. Und die koptischen Christen feiern weiter Weihnachts- wie Ostergottesdienste. Die ersten Christen wie die Kopten haben ihre Glaubenshoffnung nicht aufgegeben. Visionen sind Hoffnungen, die zu eindringlichen Bildern geronnen sind. Glaube kann ohne Hoffnung nicht auskommen, auch dort, wo Christen nicht der Verfolgung ausgesetzt sind, auch dort, wo Glaube immer mehr verloren zu gehen droht.
Wer in einen Gottesdienst kommt, der setzt sich mit der Frage nach der Gegenwart Gottes auseinander. Wo läßt er sich finden - in einer Welt, die von Zahlen und Summen, Geldwert und Aktiendepots, Sachzwängen und Einschaltquoten bestimmt wird? Die Hirten staunten über das Baby, die Glaubenden in Johannes‘ Vision danken begeistert für Gottes Thron.
Viele Menschen der Gegenwart zählen ihr Lohnsteueraufkommen, ihre Follower auf Instagram und die Freunde auf facebook. Gott verschwindet irgendwo hinter den Statistiken. Entsprechend kleiner gestalten sich die Hoffnungen, welche Menschen bewegen: Kurzurlaube, Shoppingerlebnisse und Wellness-Wochenenden. In der Politik ist Jamaica gescheitert. An seiner Stelle drohen das Gespenst von Neuwahlen und langwierige Verhandlungen über die Wiederauflage einer Großen Koalition. Wer das Leben mit Zahlen erklärt, macht sich nur noch Hoffnungen auf Wachstumsraten. Aber das Leben geht nicht in Wachstumsraten auf; Geburt, Liebe, Alter und Sterben lassen sich nicht in den Algorithmen des berechneten Lebens einschließen. Der berechnete Mensch erniedrigt sich selbst zum lieblosen und also liebesbedürftigen Menschen. Und diese Menschen ohne Liebe sehnen sich nach Gott, wenn sie ihn denn nur finden würden in der Gegenwart von Warenströmen und Einkaufsräuschen.
An dieser Stelle öffnet sich der schmale Pfad des Glaubens doch noch einmal. Wer sich die Hoffnung auf die Gegenwart Gottes nicht nehmen läßt, der singt von der Weihnachtskrippe und macht sich Gedanken über den Thron.
3.
Hirten knien und Engel schweben staunend vor dem Stall und bewundern das schlafende Baby. Bei Johannes von Patmos stehen die Hundertvierundvierzigtausend vor dem Thron Gottes. Die Vision, die Johannes von der Zukunft des Glaubens entwirft, geht auf die Propheten zurück. Bei Jesaja sitzt Gott im Himmel auf einem Thron, und bei Hesekiel kommen schon die vier „Wesen“ vor, von denen Johannes auch spricht: Engel, Löwe, Stier und Adler. Bei näherem Hinsehen hat sich Johannes von Patmos die Bilder seiner Visionen aus der hebräischen Bibel geborgt. In der erhofften Zukunft erkennen die Glaubenden bewährte biblische Vergangenheit. Ein Thron gehört zur Innenarchitektur eines Palastes: Der König darf als einziger sitzen, während Lakaien, Bedienstete und Höflinge ihm ergeben stehend seine Aufwartung machen. Und Gott wird zum unnahbaren, absoluten Herrscher mit Zepter, Krone und Reichsapfel. Niemand darf ihn anschauen. Niemand darf ihn ansprechen. Niemand darf ihn berühren. Es genügt für die Glaubenden, seine Gegenwart zu spüren. Oder doch nicht?
Die beiden Weihnachtsszenen – Hirten und Engel auf dem Feld bei den Schafen und die knienden Hirten auf dem Feld – verwandeln auch dieses Gottesbild eines absoluten Monarchen. Das göttliche Baby löst eine große Verwandlung aus. Unnahbarkeit verwandelt sich in Nähe. Majestät verwandelt sich in Zärtlichkeit. Verbote verwandeln sich in Glauben. Aus „Nicht ansprechen! Nicht anschauen! Nicht berühren!“ wird „Schaue hin! Laß dich anrühren! Staune!“ Am Heiligen Abend hat sich Gott in einer Weise verändert, die sich zuvor niemand auch nur vorstellen konnte. Aus dem unnahbar thronenden Kaiser ist ein kleines, anrührendes Kind geworden. Gott schreit. Gott trinkt Milch. Gott wird in Windeln gewickelt. Gott schläft. Gott öffnet die kleinen, vom Schlaf verklebten Augen.
Dieser Gott, liebe Schwestern und Brüder, kümmert sich um die Menschen, nicht um die Statistiken. Und auch das hat Johannes von Patmos gewußt, denn er nennt den schreienden, in Windeln gewickelten Gott: das Lamm. Das Lamm und das in Windeln gewickelte Christkind haben gemeinsam, daß sie gerade erst geboren, unschuldig, noch nicht richtig auf die Welt vorbereitet sind, dabei zart, zerbrechlich und schutzbedürftig. Und genau dann, wenn wir dieser Spur folgen, die Johannes von Patmos in seiner Vision legt, entdecken wir Gott.
4.
Und nun kommt die „große Schar“ ein zweites Mal ins Spiel. Denn vor dem Thron des Lammes und auf der Südtribüne des Dortmunder Fußballstadions schweigen die Menschenmengen ja nicht, sondern sie jubeln begeistert. Sie singen. Sie klatschen. Selbstverständlich unterscheiden sich die gegrölten und manchmal vom Alkohol aufgeputschten Fangesänge von den Melodien der himmlischen Heerscharen. Aber beides lebt doch von der ungebändigten Freude, dem großen Enthusiasmus und der spontanen Begeisterung. Torjubel ist der ungebändigte kleine Bruder des Gotteslobs.
Und das jubelnde Gotteslob läßt an die riesigen Posaunenchöre des Kirchentags denken, an alle geistlichen Konzerte und die Gospelaufführungen von Kinderchor, Kammerchor und Kantorei. Das gemeinsame Singen vergrößert die großen Scharen noch, die sich zum Lob Gottes versammelt haben: Jauchzet, frohlocket! Auf preiset die Tage!
Wer Gott nicht mehr findet in der Welt von Terabytes, Milliardensubventionen und Facebookfreunden, der rennt an eine Mauer aus Statistiken und verzweifelt. Wer sich einmal umdreht und der Blickrichtung folgt, die das Kind in der Krippe an Weihnachten vorgibt, der entdeckt Glauben und Enthusiasmus, Freude und Fröhlichsein. Es tut gut, sich an Weihnachten daran zu erinnern, daß genau darin die Zukunft des Glaubens besteht. Kein Kollegium aus klerikalen Funktionären wird diesen Glauben kaputtmachen können. Übrigens auch kein Familienstreit an Weihnachten und keine verbrannte Weihnachtsgans oder ein Christbaum, der vor lauter Vorbereitungsstreß in Flammen aufgegangen ist.
Wer von und über Weihnachten singt, der singt zugleich über die Hoffnungen des Glaubens, über den Frieden Gottes, der jede Statistik umkehrt und jedes harte Kosten-Nutzen-Denken in Liebe und Zärtlichkeit auflöst. Liebe Schwestern und Brüder, wir kommen vom Kind in der Krippe, das wir am Heiligen Abend bestaunt haben. Wir hoffen auf den himmlischen Thronsaal, wo uns das Kind in Gestalt des Lammes wiederbegegnen wird. Das ist Grund genug, auch jetzt gemeinsam zu singen. Und ich bitte Sie, daß wir aufstehen: O du fröhliche, o du selige…
Amen.
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Er ist Brot und verteilt keine kleinen Brötchen - Predigt zu Johannes 6,30-35 von Heinz Behrends
Diese Woche war es fast überall verregnet, aber wer vorletzte Woche durch die Felder wanderte, konnte sich über die großen Staubwolken wundern, die zum Himmel stiegen. Mähdrescher waren bei der Arbeit. Die großen und die kleinen Kornfelder wurden abgeerntet. Eben noch konnte man die weiten gelben Flächen bewundern. Den Weizen auf seinem kurzen Halm, die langen Halme von Gerste und Roggen mit langen Grannen, die schönen Rispen des Hafers. Pralles Leben. Kraftvoll werden sie gemäht und in große Speicher gebracht, getrocknet und auf ihre Qualität geprüft. Das geschieht alles, Jahr um Jahr, damit wir an unseren Tischen unser Brot essen können. Roggenbrötchen, Dinkel-Hirse mit Sesamkörnern, Baguette aus Weizen, Gerstebrot, Hafermüsli. Brot ist Leben. „Davon lebt die Welt“ meldete die Ausgabe der „ZEIT“ auf einer ganzen Seite in ihrer Ausgabe vom letzten Wochenende. „Weizen ist eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel des Menschen“, hieß es im Untertitel. „Weizen deckt 19 Prozent des Kalorienbedarfs der Menschheit, gleich hinter Reis. 760 Millionen Tonnen werden weltweit allein an Weizen geerntet.“ Phantastische Zahlen. Sie garantieren Leben. Und wo er fehlt, ist Leben bedroht. In diesen völlig verregneten Tagen können wir ahnen, was es bedeutet, wenn die Kornfelder durch die Witterung gefährdet sind. Wir leben von dem Brot, das aus dem Korn ersteht. Wenn es auf dem Tisch liegt, zieht es uns an. Alle Sinne sind angeregt. Der Duft von frischem Brot zieht in die Nase. Brot ist schön anzusehen. Ich höre es knacken, wenn frisches Brot gebrochen wird. Ich nehme es in die Hand, es schmeckt. So war es immer, auch zur Zeit Jesu von Nazareth. Darum liegt es sehr nahe, dass ein so genialer Prediger und Lehrer wie er Brot zur Veranschaulichung seiner Botschaft wählt. Und mehr noch. „Ich bin das Brot des Lebens“, sagt er (Joh 6,35). Brot bekommt durch ihn sakramentale Qualität. Diesen Sprung zu verstehen von dem Brot, das ich riechen und anfassen kann, hin zur der sakramentalen Deutung hat mich Huub Osterhuis, der holländische Priester gelehrt. Er erzählt die Geschichte eines Durchschnittsmenschen, nennen wir ihn Adam. Um es gleich klarzustellen, es könnte auch eine Frau sein, die Eva heißt. Er ist verheiratet, hat Kinder und findet sich in seiner Welt vor. Er arbeitet mit Freude, manchmal auch mit Widerwillen. Er arbeitet mit Kopf, Händen und mit seiner Seele. Seine Arbeit hat einen Wert, einen Geldwert. Er setzt seine Lebenskraft in Arbeit um, das in Geld ausgezahlt wird. Er macht sich selbst zu Geld. Er verdient es für sich und für die er sich verantwortlich weiß. Mit dem Geld kauft er Wohnung, Urlaub und Brot. Er setzt sich selbst um zu Brot. Wenn das Brot zum Abendbrot auf dem Tisch liegt, kann er sagen: In diesem Brot ist alle meine Arbeit, meine Kraft für Euch. Dieses Brot, das bin ich. Das ist mein Leib. Arbeit, Mühe, Liebe und Sorge verwandeln sich in Brot, werden sichtbar im Brot.
Jede Mutter, die gekocht hat, jeder Mann am Herd könnte es genauso sagen, wenn das Essen für die Gäste auf den Tisch kommt. „Seht, das bin ich – für Euch“.
„Ich bin das Brot“, sagt Jesus, „seht, das ist mein Leib“. Das ist er mit seiner ganzen Existenz, seiner Liebe für die Menschen, Gott leibhaftig.
In dem Brot, das auf den Tisch kommt, kann unser Adam sagen: „Das bin ich selbst. Jeder Tag Arbeit, jedes Jahr Anstrengung kostet mich ein Jahr meines Leibes. So werde ich aufgezehrt, ich verbrauche mich für andere. Hier winkt übrigens schon das Wort Jesu aus Johannes 12,24: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bringt es keine Frucht“.
„Ich bin das Brot des Lebens“(Joh 6,35). Was legt er da auf den Tisch? Ewiges Leben ist seine Antwort. Leben, das bleibt. Der russische Autor Solschenizyn erzählt in seinem Buch „Krebsstation“ von Jefrem, der plötzlich im Krankensaal die anderen fragt: „Wovon lebt der Mensch?“ „Von der Versorgung mit Nahrungsmittel“, sagt der erste. „Vom Arbeitslohn“, sagt der Pfleger, „Von Luft und Wasser“, der nächste. „Von der Qualifikation“, sagt der Vierte. Der Vertreter des Systems, ein Professor, antwortet: „Von der Ideologie und den gesellschaftlichen Interessen.“ Jefrem ärgert sich über die letzte Antwort und sagt: „Halt’s Maul.“ Die Antwort auf seine Frage bleibt offen. Er sucht weiter. Manchmal sind wir Prediger und Predigerinnen wie der Professor. Wir proklamieren allbekannte Parolen, behaupten eine Ideologie, reden von Jesus in einem dogmatischen Pathos. Es ist wenig überzeugend.
Was legt er auf den Tisch, wenn er sich selbst als Brot bezeichnet?
Er lehnt zwei Antworten als unmöglich ab. Als man ihn nach der Speisung der 5000 zum Brotkönig machen will, entzieht er sich. Ein Führer mit Macht über die Menschen will er nicht sein.
Und er lehnt die Antworten der Tradition seines Volkes ab. Die Väter haben das Manna in der Wüste gegessen. Brot kam vom Himmel, aber es verfaulte am nächsten Tag. Die Geschichte vom Brot in der Wüste aus dem Himmel ist für die Zuhörer Jesu so etwas, was wir heute ein Narrativ nennen. Eine Geschichte, die Erfahrung, Gewissheit vermittelt und Identität stiftet. Jesus widerspricht ihr. Das ist eine Provokation. „Die Väter sind gestorben, aber wer mich isst, der wird leben“, sagt er. Damit bringt er die Leute gegen sich auf – mit tödlichem Ausgang. Man stellt sich die Wiederkunft des Messias so vor, dass er Manna austeilt. Auf die Frage, was er tun werde, antwortet er so, wer er ist. Er backt keine kleine Brötchen, um sie zu verteilen.
„Ich bin das Brot des Lebens. Wer von mir isst, wird nicht hungern.“ (Joh 6,35)
Wer ihn isst, der hat ewiges Leben. Wenn Johannes von ewigem Leben spricht, dann meint er nie ein Nacheinander, sondern ein Gleichzeitiges. Das ewige Leben habe ich mitten in diesem Leben. Es ist schon da. Ich muss mich nicht selber steigern in meinen Leistungen, in meinem Bemühen. Ich kann stolz und dankbar sein, wenn meine Arbeit zu Brot wird, ja, aber ich muss und kann das Leben nicht selber schaffen. Ich muss mich nicht selber gebären, nicht selber ständig neu erfinden. Mein Leben erschöpft sich nicht in meinen Entwürfen. Es ist schon da. Das ist Gnade. Die Merkmale vollkommenen Lebens beschreibt Jesus in seiner Bergpredigt: Barmherzig, hungrig nach Gerechtigkeit, sanftmütig, friedfertig, gewaltlos.
Unser Zeitgeist unterliegt dem Wahn, das wir selber schaffen müssen, was Leben ist, sich selbst überbieten. Wer das versucht, will jagen, vorne sein, übertreffen. Er kann nicht spielen, er ist atemlos und wird nie satt. Er versucht, das Leben an seinem Rand zu erleben, im Extremen, in immer neuen Erfahrungen, die nicht reflektiert werden, sondern vorbeirauschen. Das ist der Unglaube.
Das Brot ist da, es liegt auf dem Tisch. Glaube heißt dann: „Ja, so ist es. Das sehe ich. Das ergreife ich.“ In Jesus Christus wird das Leben leibhaftig. Leben, das Bestand hat, ewiges Leben. Um den Glauben kann ich nur bitten. Der Duft des Brotes möge mich anziehen.
Wenn ich dann zum Abendmahl vor dem Altar stehe und meine Hand nach dem Brot des Lebens ausstrecke, sage ich: „Ich bin machtlos, ich bin bedürftig, ich bin dankbar“. Ich kann da nur mit zitternden Händen stehen, bettelnd, unsicher, erwartungsvoll. Es ist meine Zustimmung zu dem, der sagt: „Ich bin das Brot des Lebens. Das ist mein Leib. Brot des Lebens. Nimm hin und iss.“
Und am Ende, das soll heute nicht unerwähnt bleiben, ist die ausgestreckte Hand gleichzeitig eine Geste des Protestes. Protest gegen alle Macht der Ungerechtigkeit, des zugelassenen Hungers auf unserer Erde. Der Erde, auf der Korn genug wächst: Reis, Hafer, Roggen, Weizen und Gerste für alle.
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Manchmal schmeckt einem das Leben nicht - Predigt zu Johannes 6,30-35 von Peter-Michael Schmudde
Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Am Anfang kannst Du nicht genug bekommen: Wenn Du aufwachst, wartet es schon auf Dich: Das Brot des Lebens. Es schmeckt nach Kakao, Kindergarten und Käse, nach Murmeln und Ball und Roller, nach Buntpapier und Knete, nach Schnee und Blüten und Äpfeln mit Zimt. Du hast keine Mühe. Es ist da: Wenn Deine Eltern Dich küssen und in die Luft werfen, wenn sie Drachen mit Dir fliegen lassen oder im Sommer ans Meer fahren. Es ist da, weil Dir jeder Tag das Beste verspricht. Und weil Du jeden Tag neu anfangen kannst. Du hungerst nach jedem neuen Tag, weil Du groß werden willst, weil es so lange dauert, bis die Kerzen auf dem Geburtstagskranz wieder brennen, weil es unendlich ist bis zum Lichterbaum.
Das Leben. Das Brot des Lebens. Es hilft Dir größer zu werden und stärker und neugierig zu bleiben. Es ist da und ist so selbstverständlich: Das Leben.
Und er sagt: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Irgendwann schmeckt das Brot nach Brotbüchse und Matheheften, nach Turnhalle und Schulhof, nach Pflicht und nach frühem Aufstehen.
Es schmeckt nach Ermahnungen der Eltern. Es schmeckt auch nach schlechten Noten und heimlichen Ferienwünschen. Und wenn es Dir schmeckt, dann ist immer zu wenig davon da. Die Festmähler werden weniger. Und Du merkst ganz langsam, dass das alltägliche Brot manchmal langweilig ist oder hart.
Doch Er sagt Dir wieder: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Dann kommt ein Hunger, den Du nicht kanntest. Und das, was Du täglich zu Dir nimmst, schmeckt nach ziellosen Liebesbriefen und Trennungstränen. Es schmeckt nach Sehnsucht und Aufbruch. Es schmeckt nach Zukunft. Manchmal auch nach nichts. Es schmeckt nach Konfirmandenstunden und langweiligen Predigten, nach erstem Bier und nach nächtelangem Lernen. Manchmal liegt Zukunftsangst darauf. Und Du fragst Dich, ob das jetzt immer so weiter geht.
Du würzt es mit Freunden, die es mit Dir teilen. Manchmal sind es die falschen und manchmal die richtigen. Es schmeckt nach Entscheidungen: Wie willst Du Dein Brot verdienen? Und sein Geschmack mischt sich mit Wolken von Mopedbenzin und Zigaretten, mit Wodka und Cola. Und morgens schmeckt Dir sein fader Geschmack manchmal nicht.
Und Er sagt: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Ab und zu schaust Du auch neben Dich. Du siehst, wie andere zu kauen haben am Leben. Du hast die Welt inzwischen ein bisschen besser im Blick. Und Du merkst, dass es so wenig gerecht zugeht. Manch einer hat sich verschluckt. Andren schmeckt es nicht, was ihnen täglich vorgesetzt wird. Und dann gibt es die, denen das Lebensbrot völlig fehlt. Du gibst ab von dem, was Du hast.
Inzwischen wiederholst Du die Worte dessen, der da spricht: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Vielleicht hast Du den Menschen gefunden, der mit Dir teilt, was er zu kauen hat am Leben. Es ist gut zu teilen, das hast Du inzwischen gemerkt. Wenn es gut geht, schmeckt es auch ganz gut, das Lebensbrot. Und es hat seine Würze mit den Kindern, die Du großwerden siehst. Mit der Arbeit die Dich fordert. Mit den Festen, die Du feierst.
Und immer noch spricht Er zu Dir: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Du hast Entscheidungen gefällt. Aus den Möglichkeiten ist Deine Wirklichkeit geworden. Ob es Dir immer schmeckt? Oder ist inzwischen das Kauen so schwer geworden und Dein Hunger so klein?
Inzwischen weißt Du: Das Leben schmeckt manchmal nicht nur nach Zahnweh, sondern auch nach Krankenhäusern und Friedhöfen, nach langen einsamen Abenden, nach Sehnsucht und fauligem Laub auf herbstnassen Straßen. Es schmeckt nach Kälte zwischen grauen Häuserwänden und schlechten Nachrichten.
Manchmal geht sein Geschmack Dir verloren.
Doch Einer spricht: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Wie wird es sein an dem Tag, wo Dein Hunger aufhört? Wenn Du zu schwach bist, weiter zu kauen am Brot des Lebens? Wirst Du den Weg gehen können, der Dich woanders hinführt? Und wohin gehst Du dann?
Einer lädt Dich an seinen Tisch. Und er spricht: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Und Du stehst mit den anderen um den Tisch des Herrn. Ein kleines Stück Brot, ein winziger Weinhauch vom Kelch.
Und Du schaust Dich um und siehst sie vor Dir: Sie alle, denen das Brot des Lebens manchmal schmeckt. Du siehst sie, die sich manchmal die Zähne daran ausbeißen, am Leben, wie Du. Und manchmal schlucken wir alle so schwer an dem Brot unseres Lebens.
Und Du siehst Dich im Kreis der Jünger von damals. Der seltsame Freund nimmt das Brot und den Wein. Und er gibt es allen und spricht: Das ist mein Leben für Dich, Leib und Blut, das bin ich – für Dich.
Und Du sitzt dabei als sie trauern um ihren Glauben am Abendbrottisch in Emmaus, siehst, wie einer das Brot teilt. Und wie dann der Eine plötzlich da ist, der spricht: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Joh 6,35)
Und Du wünschst Dir, dass es heute so sein könnte: Dass er das Brot des Lebens mit Dir teilt. Heute hier. Und morgen bei sich zu Haus.
Ja: Ich will es nehmen, das Leben, das Du mir gibst. Denn davon werde ich leben. Amen.
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Gottes Cross Media Liebe – Predigt zu Johannes 1,35-42 von Markus Kreis
Bei Twitter klappt das gut mit den Followern. Wie sieht es mit der Nachfolge Jesu aus, liebe Gemeinde? Im Bibeltext geht alles klar. Obwohl er mit über 700 Zeichen mehr als fünf Mal so viel hat wie ein Tweet haben darf. Aber die Satzwechsel zwischen Jesus und seinen Jüngern sind twitterkurz. Die maximal 140 Zeichen braucht keiner der Sprecher. Die meisten Sätze kommen mit 14 aus. Jesu Schlusssatz braucht 50. Und zack, gleich neue Follower gekäscht.
Die Welt der Bibel damals ist nicht mehr die von heute. Die Zahl der Nachfolger Jesu scheint zu stocken. Zumindest in unseren Breitengraden. Die beliebtesten Tweeter der Welt werden von fast 100 Millionen Followern favorisiert. Mesut Özil, Deutschlands Spitzentweeter, folgen zehn Millionen.
Die Kirche ist mit ihren Häuptern weit entfernt von solchen Ziffern. Unbeschadet der hohen Zahl an Christen. Woran mag das liegen? Haben Christen keine Smartphones? Liegt es daran, dass man Fotos, Videos und Musikdateien an die Kurztexte anhängen kann? Was hat es mit der Nachfolge auf sich?
Crossmedial ist unser Nachfolgebibeltext nicht zu nennen. Jedenfalls nicht in diesem Sinn. Er ist nur und nichts als Text. Und als Text ist er im Vergleich recht schlecht geraten. Da ist keine Musik drin, eher der Ton eines Stücks von Beckett. Die einzigen Bilder: Lamm Gottes und Fels. Dann ein bisschen „Name Dropping“, etwas Mund zu Mund Propaganda, zum Schluss ein nickname – und fertig ist die Story vom Anfang eines Welterfolgs.
Dazu kommt ein Cliffhanger. Ein Cliffhanger ist etwas aus der Trickkiste von Erzählern. Dabei wird so vorgegangen, dass das Ende einer Story offen bleibt. Und damit der Fortgang der Geschichte. Zum Beispiel so:
Der Held hält sich mit aller Kraft einarmig fest an einer schmalen Kante in offenem Fels hoch über dem Meer. Der Wind stürmt, das Gestein bröckelt. Schwarzblende, Unterbrechung, Ende des Kapitels. Wie geht es weiter? Wird er abstürzen? Wird er sich retten? Wird er gerettet werden? Ein Cliffhanger sorgt dafür, dass man an der Story dran bleibt. Dass man wissen will wie es weiter geht. Dass man dem Helden quasi im Gedanken beistehen möchte.
In unserem Bibeltext findet sich ein Cliffhanger, der nie zu Ende erzählt werden wird. Gegen jede Regel! Kommt und seht! Jesu Antwort weckt Neugier. Neugier, die nicht befriedigt wird. Jesu Bleibe über den Tag. Ja, was ist mit der? Was hat die Zwei veranlasst, sich Jesus zu verschreiben? Das will ich wissen, verflixt und zugenäht.
Heute kaum mehr Follower. Kein Wunder bei diesem Dialogangebot, oder? Als das sorglose Zwitschern und Treiben der Vögel noch Gottes Tun zeigte, da mag das noch gefunzt haben. Aber heute? Crossmedial ist unser Bibeltext nicht zu nennen. Jedenfalls nicht in diesem Sinn.
Aber in einem anderen Sinn. Dieser Text ist crossmedial schlechthin. Ihn kann man besser verstehen, wenn man das Kreuz Jesu versteht. Crossmedial heißt: Sein Sinn vermittelt sich im Kreuz Jesu. Oder wie der Bibeltext gesagt: Im Dasein Jesu als Lamm Gottes. Und das heißt, in dessen Bedeutung für Gott und sein Tun. Im Blick auf Gott bedeutet das Kreuz Jesu:
Er erschafft mit seinem Wort aus dem Nichts einen Neuanfang. Ansatzlos, unvorhergesehen, unvermittelt. Ohne unser Tun und Denken. Gegen unser Tun und Denken. Gott arbeitet still und leise in unserem Gehirn. Aber nicht nur in unserem Geist. Sondern weil das Gehirn ein Organ ist, zugleich in unserem Körper. Gott schafft neues Denken, neues Tun, neue Bedeutung. Ohne unser Wissen und Wollen, gegen unser Wissen und Wollen. In uns neues Wissen und Wollen.
Gottes Tun im Kreuz wirkt unwiderstehlich. Wen es berührt, der kennt nichts anderes mehr. Der sieht nur noch die Wahrheit von Gottes Kreuz. Was immer ihm sich sonst noch als Wahrheit einflüstert oder anbietet. Die Wahrheit vom Kreuz wirkt bei uns wie ein Adblocker.
Als Adblocker wird ein Programm bezeichnet, das im Hintergrund des Computers arbeitet. Es sorgt dafür, dass beim Surfen Werbung nicht angezeigt wird. Und zwar, obwohl sie mit Webseiten gekoppelt ist. Solch unterdrückte Werbung spielte sich sonst ein als Musik, Bild, Video, Verbal- oder Schrifttext oder auch als Pop-Up.
Unser Bibeltext erzählt von diesem Wirken Gottes in Jesus. Da steht geschrieben: Zwei Johannesjünger hörten Jesus reden, folgten ihm nach und Jesus wandte sich um. Was kann das heißen? Zunächst einmal sonnenklar: Das kann den Vorgang beschreiben, den einer wahrnimmt, der am Weg steht und Jesus und die Jünger beobachtet. Sie sind ihm auf der Spur. Er dreht sich um zu ihnen.
Es steckt aber noch mehr drin. Es kann den Vorgang meinen, der in den Köpfen der Jünger geschieht, während sie Jesus auf der Spur sind. Oder ihn tracken, wie man heute im Computerdeutsch sagt. Tracken heißt: Man verfolgt - zu welchem Zweck spielt hier keine Rolle - die Datenspur, die einer im WorldWideWeb hinterlässt.
Und dann würde der Satz „Jesus dreht sich um“ bedeuten: Sie bekamen ein anderes Bild von ihm. Jesus wurde für sie ein anderer, während sie ihm nachfolgten. Er bekam für sie eine sich wendende Bedeutung. Zum Beispiel von einem Allerweltmenschen zu einem ganz besonderen. Zum Messias. Zu dem einen Menschen Gottes. Ist das nicht schön, diese Nachfolgestory? Dank Tracking und Following kann man auch im Netz Gott ins Netz gehen!
Hören wir, wie es weiter zugeht. Sie sind unterwegs und entdecken eine interessante Frau. Oder einen interessanten Mann. Nun, das passiert immer wieder mal. Aber stellen Sie sich vor: Angesichts dessen vergessen Sie sowohl sich als auch das, was Sie eigentlich vorhatten. Und in einem Anfall blinder Gefühle gehen Sie diesem interessanten Menschen einfach hinterher, folgen ihm nach. Ohne dass dieser etwas weiß von Ihnen, geschweige denn, von den Ihnen selbst verborgenen Gefühlen.
Und plötzlich dreht dieser Mensch sich um. Und sie erkennen, dass er an ihrer Mimik und Gestik erkennt: Der da will etwas von mir. Verfolgt irgendein Ansinnen. Und Sie hören, dass er Ihnen wie Jesus die Frage stellt: Was willst Du eigentlich?
Bei aller Liebe, würden Sie sich da nicht irgendwie ertappt fühlen? Leicht peinlich berührt. Aus dem vermeintlich sicheren Versteck der Distanz versetzt in offene Nähe? Genötigt vom Beobachter zum Teilnehmer? Zum Teilnehmer in Not, weil er weiß, dass er abgewiesen werden kann. Raus gedrängt werden vom Spielplatz. Nicht mal auf den Zuschauerrängen bleiben darf.
Da gewinnt man per Gegenfrage gleich Abstand zwischen sich und dem Angebeteten. Unterdrückt die eigene Unsicherheit. Betont die eigene Herrlichkeit. Will den anderen unter Zugzwang setzen. Ihn damit etwas schwächen: Zeig mir erst mal, was du drauf hast! Was ist Deine Bleibe?
Wie das wohl ausgeht? Was soll da schon passieren, allen Abstandsspielchen zum Trotz. Einer weiß nicht recht um die eigene Liebe für jemand. Und wird vom Geliebten angesprochen. Der wiederum die Liebe dieses Gegenübers erkennt, die dem selbst nicht recht klar ist.
Der Beobachter, der schon Teilnehmer ist, ohne es zu wissen - der hat keine Wahl. Dem bleibt nichts anderes übrig, als ein Teilnehmer mit Haut und Haaren zu werden. Auf Gedeih und Verderb. Und bei Jesus heißt das: auf Gedeih. Also ein Teilnehmer, dessen Liebe, die ihm nicht gewahr ist, nicht ausgenutzt wird. Ein Teilnehmer, der mitspielen darf. Der aussetzen darf, auf der Ersatzbank, oder auf den Zuschauerrängen. Ein Teilnehmer, der wieder Beobachter sein darf.
Was ist deine Bleibe? Die Antwort lautet: Mein Lieber, ich habe keine Bleibe, ich bin die Bleibe. Und du wirst mein und bleibst mein Jünger und Freund.
Zur Jüngerschaft kommt man wie die Jungfrau zum Kind. Der christliche Glaube kennt nicht nur die Jungfrauengeburt. Er kennt so gesehen auch eine Jungmännergeburt. Das Geheimnis der Jungfrauengeburt bedeutet: Jesus wurde als leibhaftiger Mensch geboren und gezeugt. Aber anders als alle anderen. Nicht nur der Geist Jesu wird einseitig und nur von Gott erzeugt und bestimmt. Auch sein Leib. Damit wird klar gestellt: Kein Mensch hatte und hat je von sich aus die Fähigkeit, Gott aufzunehmen. Weder mit seinem Geist, noch mit seinem Leib. Allein Gott sorgt dafür, dass einer ganz an Leib und Seele dazu fähig ist.
Zur Jüngerschaft kommt man also wie die Jungfrau zum Kind. Der christliche Glaube kennt nicht nur die Jungfrauengeburt. Er kennt so gesehen auch eine Art Jungmännergeburt. Will sagen: Jüngerschaft ereilt einen. Das hat Mann nicht in der Hand. Gleich ob einer dagegen kämpft. Oder ob einer mit aller Gewalt Jesu Nachfolge antreten will. Zum Jünger wird man. Man macht sich nicht selbst dazu. Das heißt für die Nachfolger: Sie bleiben grundsätzlich Schaf. Selbst als Hirte bleiben sie immer Herdentier.
Jünger zu werden, das beruht auf nackter Gnade. Vielleicht kommt deshalb unser Bibeltext so nackt und bloß daher. So unscheinbar und unansehnlich. Ohne beeindruckendes Wunder, ohne Musik, kaum Bilder. Zusammen gestückelt aus Standards der Dramakunst. Hölzernes Personal, unmotivierte Dialoge. Neugier stiftend, diese mit Erklärungslücken nicht stillend. Damit die Neugier auf Gottes Tun schön hungrig bleibt. Und damit unsere uns verborgene Schwäche für Gott zu neuer Kraft und Stärke wird. Amen.
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„Andreas , der andere Jünger, Ben und Frida und …“ – Predigt über Johannes 1,35-42 von Jochen Riepe
I
Ein Spruch , der einem gefällt … ein Satz , der hängen geblieben ist … ein Wort , das mich getroffen hat . ,,Wo wohnst du?“ – ,‚Woran glaubst du?“. Und sie kamen und sahen, wo er wohnte und sie blieben jenen Tag bei ihm. ,,Bleiben“ – über Nacht , bed and breakfast , einen Sommer lang , ein ganzes Leben …
II
„Konfirmation“ - im Fernsehen, im Fernsehspiel am Freitagabend1. Ohne seine Eltern einbezogen oder informiert zu haben lässt Ben, 15 Jahre alt, sich taufen. Vielleicht haben seine Freunde ihn zum Unterricht mitgenommen, vielleicht war es die nette Pastorin oder der offene Großvater, vielleicht auch so etwas wie ein innerer Drang, ein Muss. In einem religiös neutralen Elternhaus aufgewachsen hat er sich entschieden, zur Gemeinde Jesu zu gehören und sich bald konfirmieren zu lassen. Ohne großes Bohai, eher still, aber wohl mit dem guten Gefühl: So ist es für mich richtig. Ben ist nun ein evangelischer Christ und als er vom Taufgottesdienst heim kommt und seinen überraschten, verstörten Eltern berichtet , ist für ihn das alles ziemlich ‚cool‘ - unsensationell und zugleich konsequent.
III
Ben … und nun Andreas und der ‚andere Jünger‘ … ‚und sie kamen und sahen, wo er wohnte und blieben jenen Tag bei ihm‘. Nachfolge Jesu. Was bringt den Stein ins Rollen? Für die beiden Johannes-Jünger ist es zunächst das Zeugnis ihres alten Lehrers, des Täufers, der Jesus sieht und den gewaltigen , soz. aus der Fülle der Sprache Israels schöpfenden, Satz spricht: ,,Siehe, das Lamm Gottes“. Keine langen Vorhaltungen, kein aufdringliches Zureden, vielmehr die unausweichliche Weitergabe einer Erkenntnis und persönlichen Einsicht: ,,Der ist es.“ ,,Lamm Gottes“ – mit diesem Christus-Bild ruft Johannes Gottes Geschichte mit seinem Volk auf, Gottes Verheißungen, die Schuld der Menschen, aber eben auch die Vergebung der Sünden. „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14). Alle Hoffnungen, alle Lasten werden konkret und leibhaftig in diesem einen.
IV
Kann ein alter Lehrer einen solchen Einfluß auf seine Schüler haben, dass sie gleichsam von selbst gehen und sich dem anderen zuwenden? Für den Evangelisten jedenfalls ist der Täufer darin das Vorbild, der Inbegriff eines Lehrers, dass er im entscheidenden Augenblick sich selbst zurücknehmen kann: „Jener muss wachsen, ich aber abnehmen“ (Joh 3,30), wird er bald sagen und vielleicht darf man etwas spekulieren : Ist es nicht so, dass Erkenntnis , Rat und Wort von uns Älteren erst dann gehört werden, wenn diese Selbstzurücknahme bei den Jüngeren gespürt wird ? Wer abtritt, bewusst und überzeugend, gereift in der Erkenntnis, dass Neues kommt, betritt zugleich einen weiten Raum des Gesprächs, und es ist, als hätten Andreas und der andere Jünger eben darin die Freiheit gefunden, dem neuen Lehrer zu folgen. Es gibt einen, bei dem man glauben und sprechen lernen kannst, ja : muß ! „Was hier geschieht“, steht unter der ‚Notwendigkeit des göttlichen dei‘2.
V
Andreas, der andere Jünger, Ben und Frida und ich komme auch mit … Wo wohnst du? Woran glaubst du? Ein Wort, in dem man wohnen kann, das meinem Leben Raum gibt …
Aber, es gibt doch so viele „Worte“ oder „Wörter“, Sätze und Sprüche!! Bens Eltern und besonders sein Stiefvater stellen dann soz. die Gretchenfrage unserer Zeit: Muß es denn das Christentum sein? Evangelische Kirche, dass hört sich in unserer liberalen, weltoffenen, aufgeklärten Familie nach Engführung oder gar Engstirnigkeit an! Und in einer gemeinsamen „Zelt- Übernachtungsaktion“, in dieser seltsam-vertrauten Mischung aus Nähe und Abstand, führt der Zweit-Vater dem Sohn die Fülle der Möglichkeiten, den Reichtum spirituellen Lebens von Katmandu über den Heiligen Berg Kailash bis zu den „Kraftorten“ im Kaschmir vor Augen. Sollen wir nicht erst einmal verreisen und dies alles kennenlernen? Was suchst du ? Weißt du denn, was du suchst? Und bevor du dich soz. heimisch-provinziell entscheidest, solltet du den Welthorizont abschreiten. Die Fülle der Möglichkeiten. Und überhaupt: Muß man sich denn entscheiden, wir leben doch ohne feste Bindung auch ganz gut…
VI
Ihr habt es noch im Ohr, liebe Gemeinde: „Was sucht ihr?“, so fragt auch er, das „Lamm Gottes“, der neue Lehrer, den sie bald den „Messias“ nennen werden. Jesus bremst soz. die „Überlauf-Bewegung“ der Johannes-Jünger leicht ab, er konfrontiert, unterbricht, um dann selbst jene Notwendigkeit zu erfahren, der Andreas und sein Freund folgen: „Rabbi , wo hast du deine Bleibe ?“ Wo wohnst du? Nicht wahr, sie suchen, ja ,aber soz. nicht fixiert in sich selbst, im ‚Sumpf‘ der eigenen Motive und Sehnsüchte. Sie wollen seinen Ort, seine Bleibe, sein Wort kennenlernen und sich damit in gewisser Weise, ja, „auseinandersetzen“ .
Es gibt einen Lehrer. Es gibt einen Rabbi, bei dem man sprechen und glauben lernen kann : Ist er glaubwürdig ? Kann man ihm folgen? Ist das ‚Lamm Gottes‘ ein ‚guter Hirte‘? Ist sein Wort Gottes Wort oder eigener Dünkel? Nachfolge, Jünger Jesu werden und Glied seiner Gemeinde werden, dies folgt einer gewissen göttlichen Logik und Ordnung (und jeder Glaubende weiß hinterher, dass es gar nicht anders ging!). Dieser Weg folgt auch den Stimmen der Väter, ihrem Rat und ihrer Orientierung. Aber beides braucht zugleich den Willen zum Lernen, zum Aneignen, zum Verstehen und Sprechen. Eine Vorgabe will doch erworben sein. Jesus heißt bei Johannes Logos, Wort, und oft ist dies übersetzbar mit: ein Raum der Begegnung, in dem man Hören, Sprechen, Streiten, Lieben lernen kann.
VII
Das wusste auch die Erfinderin von Ben, die Autorin Beate Langmaack , die für die ARD das Drehbuch zur „Konfirmation“ schrieb. Mag Bens Umfeld, mögen seine Eltern, sein Stiefvater, einen weiten, freigeistigen Horizont haben, mögen sie heute in Nepal und morgen im Kaschmir zu Gast sein und einen „intuitiven Tourismus“ (B. Strauß) in Sachen Religion pflegen. Fülle aber und große Leere liegen manchmal nah beieinander. Ben jedenfalls sucht das Konkrete, ein kenntliches Gegenüber, eine Person wie die „wilde“ Frida, die ihn herausfordert. Er braucht eine Gruppe, die ihn trägt und Neues erprobt – Konfirmandenfreizeiten, sage ich nur und ihr wisst Bescheid! – und dann, ja, dann braucht, „benötigt“ er ein Wort, einen Satz in Gestalt des guten alten Konfirmationsspruches.
Ist das Druck? Not ? Qual der Wahl oder höhere Notwendigkeit ? Da mögen wir lächeln und doch weiß jeder oder fast jeder evangelische Christ, wie gerade ein solches Wort unser Innerstes beschäftigen und irritieren, ja, aufstören oder auch im Gespräch mit Eltern und Paten sich uns wunderbar erschließen kann. „Es gibt eine Notwendigkeit, die nicht zwingt, sondern befreit‘3. Darum heißt es ja auch: Solch ein Satz ist die ganze Bibel, Gottes ganze Befreiungs- und Verheißungsgeschichte „für dich persönlich“. Bens filmischer Weg zur Konfirmation ist immer wieder unterbrochen oder erleuchtet oder aufgeschreckt durch bekannte Bibelverse , die er – die Bibel in der Hand – bedenkt und mit Frida bespricht : ‚Und nähme ich die Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer …‘
VIII
„Wo wohnst du?“ – „Kommt und seht“ , sagt daraufhin Jesus und nimmt sie mit „und sie kamen und sahen , wo er wohnte, und sie bleiben jenen Tag bei ihm“.
Bleiben … bei ihm , dem Lehrer, dem Messias, dem Lamm Gottes … one night , bed and breakfast , einen Sommer lang , ein ganzes Leben … Kommen und sehen … Besser kann man vielleicht das , was wir Christen ‚Glauben‘ nennen, nicht wiedergeben : Kommen , sehen , erproben, es wagen , im Gespräch zu bleiben . Mit ihm , dem Lehrer , dem „Mystagogen“ , das Haus des Glaubens, das Haus der Sprache erkunden und die wunderbare Erfahrung machen dürfen , wie hier göttliche und menschliche Notwendigkeit und Freiheit einander halten oder zusammenwachsen.
Natürlich : Für manche bleibt es eine Art one-night-stand, andere bleiben zum Frühstück, noch andere kehren immer mal wieder ein. Auch im Haus des Wortes gibt es viele Möglichkeiten, eben „viele Wohnungen“ (Joh 14,2). Was wurde aus Andreas und dem anderen Jünger? Was wird aus Ben und Frida? Ja, und was wird aus mir ?
IX
Konfirmation. Befestigung. Bekräftigung. Bestärkung. Ein Ja zum Ja. Woran glaubt Ben denn nun? Wo wohnt er? Die nette Pastorin wird ihm das Wort zusprechen, das er sich selbst ausgesucht hat. Dass er in ihm „ein-und ausgehe“ (Joh 10,9), es sich anverwandle und seine Wohnung im Haus des Glaubens finden kann.
1 I ARD 16.6.17 Regie : S.Krohmer / Drehbuch : B. Langmaack (innerhalb der ARD-Reihe : Woran glaubst du ?)
2 I H. Thyen , Das Johannesevangelium , 2005, S.129
3 I P. Strasser , Journal der letzten Dinge, 1998, S.64
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Der Freund des Bräutigams – Predigt zu Johannes 3,22-30 von Matthias Wolfes
Darnach kam Jesus und seine Jünger in das jüdische Land und hatte daselbst sein Wesen mit ihnen und taufte. Johannes aber taufte auch noch zu Enon, nahe bei Salim, denn es war viel Wasser daselbst; und sie kamen dahin und ließen sich taufen. Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis gelegt. Da erhob sich eine Frage unter den Jüngern des Johannes mit den Juden über die Reinigung. Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Meister, der bei dir war jenseit des Jordans, von dem du zeugtest, siehe, der tauft, und jedermann kommt zu ihm. Johannes antwortete und sprach: Ein Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel. Ihr selbst seid meine Zeugen, daß ich gesagt habe, ich sei nicht Christus, sondern vor ihm her gesandt. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams steht und hört ihm zu und freut sich hoch über des Bräutigams Stimme. Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen. (Joh 3,22-30, Luther Jubiläumsbibel 1912)
Liebe Gemeinde,
der Täufer Johannes ist gewiss keine der neutestamentlichen Gestalten, die man unbedingt als Sympathieträger bezeichnen muß. Er ist in seinem ganzen Charakter harsch, ein Eigenbrötler, etwas Fanatisches mag auch von ihm ausgehen. Er steht für diejenigen, die sich ausschließlich einer einzigen Sache hingeben und dabei engstirnig wirken. Man kann sich nicht leicht vorstellen, dass ein solcher Mensch Anhänger gefunden hat, und zwar selbstdenkende Anhänger. So kann es auch nicht ausbleiben, dass unter dem Eindruck der Tauftätigkeit Jesu im Johannes-Kreis Unruhe ausbricht. Sie scheinen irritiert zu sein und möchten wissen, wie sich die beiden Täufer, Johannes und Jesus, zueinander verhalten. Vielleicht tun sie das auch in der Absicht, sich ihrerseits neu zu orientieren.
Gerade diesem mürrischen Johannes aber gelingt nun in seiner Auskunft auf diese Frage ein sehr schönes Bild. Zunächst hören wir die naheliegenden Hinweise auf die schlechthinnige Abhängigkeit eines jeden Menschen von Gott, der „alles“ gibt, also auch geistliche Kraft und Autorität. Auch fehlt nicht die bereits bekannte Selbstbeschreibung. Er, Johannes, ist der Vorausgesandte. Seine Aufgabe besteht darin, dem Anderen den Weg zu bahnen und dann, wenn dieser gekommen sein wird, sein eigenes Wirken als vollendet zu betrachten. Das ist nun geschehen, und deshalb ist auch „meine Freude nun erfüllt“. „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ (Joh 3,29b f)
Inmitten dieser Sätze aber steht noch ein weiterer: „Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams steht und hört ihm zu und freut sich hoch über des Bräutigams Stimme.“(Joh 3,29) Dieses Bild spricht mich am meisten aus unserem Text an. Mir scheint, dass hier das Wesen von Freundschaft ausgesprochen worden ist. Ein Freund ist derjenige, der sich am Wohlergehen, am Glück und auch dem Wachstum eines Anderen freut. Er ist ihm gegenüber selbstlos, und zwar intuitiv oder auch der Absicht nach, denn mit der Selbstlosigkeit ist es keine so ganz einfache Sache. Wichtig ist: Es geht ihm nicht um sich in diesem Verhältnis, sondern um den Anderen. Er ist bei ihm, er „steht und hört“, das heißt: er ist auf ihn ausgerichtet, nimmt ihn wahr und sucht ihn in allen seinen Äußerungen recht zu verstehen. Indem der Andere sich äußert oder einfach auch nur er selbst ist, „freut“ er sich an ihm.
I.
Zunächst wollen wir einen Blick auf den Zusammenhang werfen, in dem diese Auskunft des Täufers steht. Es sind ja vielfach starke Figuren, die uns in den Evangelien begegnen. Jesus ist der alles umstrahlende Mittelpunkt. Um ihn herum halten sich viele weitere Personen, Männer (die Jünger) und Frauen, auf. Daneben gibt es eine ganze Reihe weiterer, die punktuell auftauchen. So schildert der Evangelist Johannes unmittelbar zuvor das Gespräch Jesu mit einem der „Obersten unter den Juden“ (Joh 3,1), dem Pharisäer Nikodemus.
Meist ergibt sich das jeweilige Verhältnis aus der Darstellung der Evangelisten. In unserem Text aber spricht die handelnde Person selbst aus, wie sie sich ihre Rolle im Blick auf Jesus vorstellt. Und da greift der Sprecher auf dieses Bild vom Freund des Bräutigams zurück. Warum gerade ein Bräutigam? Die Antwort liegt wohl auf der Hand: Wer selbst bereits geheiratet hat, der weiß, daß dieser Moment der Eheschließung einer der Höhepunkte des Lebens ist. Das gilt für den Bräutigam genauso wie für die Braut. Die Situation, in der man eines von beidem ist, ist das Ergebnis eines meist langen und intensiven Geschehens. Der Tag der Hochzeit selbst ist aufgeladen mit allen möglichen Elementen der Bedeutsamkeit, von den Gästen, der Örtlichkeit, der Kleidung bis hin zu den Erwartungen, aber auch der eigenartigen Erleichterung und zugleich der großen Anspannung.
In solch einer Situation nun befindet sich gerade derjenige, von dessen Freund im Bild des Täufers die Rede ist. Er ist der Freund eines Mannes, der in diesem Augenblick einen Höhepunkt seines Lebens erlebt. Und gerade jetzt, als es einem Anderen offenkundig sehr gut geht, gelingt es dem Freund ihm Freund zu sein. Ohne irgendwelche Missgunst, ohne Hintergedanken, ohne Neid, kann er ihm zur Seite stehen, seine Bekundungen des Glücks wahrnehmen und sich daran freuen, daß es ihm gut geht und wohl ist.
II.
„Lebe lang und gedeihe.“ „Live long and prosper.“ Dieses große Segenswort (vgl. Num 6,24) ist auch die Zusammenfassung der Haltung und Gedanken, die einen Freund beseelen, wenn seine Freundschaft wahrhaftig ist. Wir leben in einer Welt der Missgunst, der falschen Gedanken und des Neides, davon kann man sich jeden Tag zur Genüge überzeugen. Freundschaft ist daher eine Form des Widerstandes gegen die Wirklichkeit der Welt.
Mir scheint, dass die Figur des „Freundes des Bräutigams“ uns durchaus und mit Kraft eine Art Vorbild sein kann. Ein Freund ist derjenige, von dem ich weiß, daß ich ihm vertrauen kann. Ich kann ihm anvertrauen, was mich bedrängt. Vielleicht nicht immer alles, aber ich weiß: Das, was ich ihm anvertraue, findet bei ihm Gehör und Verständnis. Er ist mir ja zugewandt, er kann gar keinen falschen Gebrauch von meinen Mitteilungen machen.
Wem aber könnten wir auf diese Weise vertrauen? Wem könnten wir uns in unbeschränkter Offenheit anvertrauen? Wem die Wahrheit unserer selbst zumuten? Das muss man durchaus fragen. Freundschaft ist ein sehr hohes Gut. Sie ist selten und wertvoll. Wer in der Lage ist, jemandem in diesem Sinne seinen Freund nennen zu können, darf sich glücklich schätzen. Das Licht fällt in dieser Sache aber auch auf uns selbst zurück: Denn das Vorhandensein oder eben auch das Fehlen eines solchen Freundes ist der beste Beweis für den Charakter einer Person. Eines treuen Freundes, denn man muss realistisch sein: Freunde sind Menschen, die unsere Fehler, Schwächen und Schattenseiten kennen, ohne uns ihretwegen zu verurteilen und denen wir deshalb dennoch vertrauen können. Freunde sind Menschen, die sich trauen, einen zu ermahnen, zu korrigieren. Sie sind diejenigen, die ein offenes Wort mit einem sprechen und denen er das auch zugesteht. Die aber auch da sind, wenn wir nicht Mahnung brauchen oder Bemängelung und Korrektur, sondern Hilfe, Trost und Beistand. Auf deren stützenden Arm wir rechnen können. Ein Freund wäre da, in der letzten Stunde, im letzten Augenblick, und er würde sagen: „Ich hab’ Dich lieb.“
III.
Nun lassen Sie uns aber zum Ende auch noch jene Wendung machen, die auf uns selbst geht. Wir wollen hier nicht fragen, ob wir einen solchen Freund haben oder aufgrund der Beschaffenheit unserer selbst überhaupt haben können. Sondern wir fragen, was wir tun können, um uns unsererseits freundschaftsfähig zu machen. Es geht nicht nur darum, einer bestimmten Person gegenüber ein Freund zu sein und nun das eigene Verhalten in dieser ganz bestimmten Konstellation zu beurteilen oder auch zu korrigieren.
Es geht auch darum, auf eine Weise sich zu verhalten, die es anderen allererst möglich macht, Vertrauen zu uns zu fassen. Und da wird es dann sehr konkret. Leider besteht unter uns Menschen eine starke Neigung über andere zu sprechen, die nicht anwesend sind. Dabei fällen wir leicht Urteile oder wenigstens Meinungsäußerungen, die, hätten wir sie ins Angesicht der betreffenden Person hinein auszusprechen, ganz unverantwortlich wären und die wir dann auch gewiss niemals von uns geben würden. Und allein da beginnt schon das Problem.
Ich meine, dass der erste Schritt auf dem Weg, von dem hier die Rede ist – nämlich freundschaftsfähig zu werden –, darin besteht, überhaupt gegen die Neigung anzugehen, anderen im Modus der Kritik zu begegnen. Es ist die Macht des Negativen, einer destruktiven, aus der nichts Gutes kommen kann, die in so überwältigender Intensität unser ganzes Fühlen und Denken, unser Tun und Lassen bestimmt. Wie viel wäre gewonnen, wenn es uns gelänge, an dieser Stelle wachsamer uns selbst gegenüber zu sein. Dann würden wohl auch viele der unbedachten, der peinlichen und bisweilen auch regelrecht zerstörerischen Bekundungen unterbleiben, die wir so leichtfertig von uns geben und die zu bedauern uns dann hinterher reichlich Gelegenheit gegeben ist, wenn wir gewissenhaft sind.
In diesem Sinne wäre die erste Übung auf dem Weg des Freund-werden-Könnens ein gerütteltes Maß an Selbstkontrolle. Der Gewinn bestünde darin, dass uns sehr rasch deutlich wird, wie viel Energie wir in der Auseinandersetzung mit den anderen permanent verlieren. Gelassenheit, diese große, geradezu zauberhafte Chiffre des gelungenen Lebens, kann sich überhaupt erst dann am Horizont unserer eigenen Erwartungen einstellen, wenn wir es wirklich schaffen, jene Kraft der schlechten Verneinung abzubauen. Wir hätten selbst davon den größten Gewinn, und in diesem Sinne darf man hier durchaus auch etwas nützlichkeitsorientiert sprechen.
Wie bewundernswert sind dagegen all jene, denen solche Übungen gar nicht auferlegt sind. Die einfach aus sich selbst heraus dem Anderen offen und freimütig sich darbieten können. Diese Menschen gibt es. Es ist eine große innere Stärke, die sie zu solcher Offenheit befähigt. Ob der Täufer Johannes einer dieser Charaktere gewesen ist, kann man schwer beurteilen. Er hat aber die Idee davon doch deutlich genug formuliert. Und auch das ist bedeutsam. Er wusste, um was es sich handelt bei dem „Freund des Bräutigams“.
Amen.
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Wegweiser – Predigt zu Johannes 3,22-30 von Nico Szameitat
Das Tote Meer stirbt. Der berühmte See mit dem unglaublich hohen Salzgehalt schrumpft immer mehr. Jedes Jahr fällt der Wasserspiegel um einen Meter. Das Wasser hat sich längst vom Ufer entfernt, so dass man weite Wege von der Böschung über Salzkrusten zurücklegen muss, wenn man ans Wasser will. Schiffsgerippe liegen auf dem Trockenen. Stege führen weit über dem Boden ins Nichts, enden irgendwo in der Luft.
Schuld ist der Jordan, der einzige Zufluss, der von Norden her im Toten Meer mündet. Jedes Jahr zweigen die Menschen mehr Wasser vom Jordan ab, um ihre Felder zu bewässern. Dafür leiten sie ihre restlichen Abwässer ein, so dass nur ein kleines Abwasserrinnsal das Tote Meer schließlich erreicht. Zwar gibt es im Toten Meer keinen Abfluss. Aber jedes Jahr verdunstet durch die Sonne die gleiche Menge an Wasser und zurück bleiben die Salzkrusten.
Unbeeindruckt davon pilgern die Menschen weiter an den Jordan zu einer der Taufstellen von Johannes dem Täufer. Denn da gibt es heute verschiedene Angebote, wo das gewesen sein könnte. Am beliebtesten sind inzwischen die Tauforte weiter nördlich, wo das Wasser noch reichlich und frisch ist und man noch immer wunderbar taufen kann. Denn wer will schon in einem Abwasserrinnsal nahe dem Toten Meer getauft werden?
Obwohl es nicht unwahrscheinlich ist, dass eben dort der Taufort des Johannes war.
Hier ist der Ort. Hier ist die Stätte. Johannes, die Worte seines Vaters im Ohr.
Hier ist die Stätte. Hier ist der Ort, wo sie hindurch zogen, unsere Väter.
Von drüben kamen sie. Aus der Wüstenzeit. Ein Menschenleben lang zogen sie seit Ägypten durch die Wüste. Von drüben kamen sie. Dort am anderen Ufer tat Josua den ersten Schritt in das Morgen. Und die Wasser des Jordans stauten sich. Und trockenen Fußes zogen unsere Väter ein in das gelobte Land. Das ganze Volk kam hier an. Hier begann das Gelobte Land.
Hier ist die Stätte. Hier ist der Ort. Schau die zwölf Steine, das Zeichen des Josua.
Er richtete sie hier auf. Hier war der Ort des Durchzugs, die Stätte des Einzugs. Angesichts von Jericho, der Ort der Ankunft, die Stätte der Erfüllung.
Und Johannes wählte diesen Ort seiner Erinnerung, angesichts von Jericho, knapp oberhalb des Salzsees, bei den Steinzeichen des Josua und schickte hier die Menschen durchs Wasser: „Gott wird die Wasser für euch nicht mehr aufhalten! Ihr müsst durch die Wasser hindurch. Und auch ich werde euch keine Brücken bauen oder euch über das Wasser tragen. Ihr müsst hindurch. Lasst eure Lasten und Sünden hier und zieht durch das Wasser hinaus in ein neues Leben. Zieht aus eurem engen Land, wo doch kein Milch und Honig fließt, zieht hinaus!“
Und Johannes taufte die Menschen durch das Wasser hindurch, zurück in die Welt.
Die Jünger des Johannes sind frustriert. Erst hat ein Pharisäer sie in eine unbequeme Diskussion verwickelt, die zu keinem Ende kam. Und dann erfahren sie auch noch, dass Jesus von Nazareth ein Stückchen weiter oberhalb am Jordan ebenfalls angefangen hat zu taufen.
Es ist für sie schon schlimm genug, dass an jeder zweiten Jordankurve – und der Jordan hat viele Kurven! – ein anderer Scharlatan die Leute im Wasser untertaucht. Aber dieser Jesus, dem ihr Meister sozusagen die Füße geküsst und ihn den Christus genannt hat, ausgerechnet der macht jetzt Konkurrenz. Ist das der Dank dafür? Hier ist der Ort! Hier ist die Stätte! Hier bei dem Steinzeichen des Josua. Nicht da oben, bei diesem Christus! Aber ihren Meister Johannes scheint das gar nicht zu stören. Der scheint sich über den Konkurrenten auch noch zu freuen.
Ich bewundere Johannes. Seine Aufgabe ist es, für die Ankunft Jesu schon mal alles vorzubereiten. Die Leute einzustimmen, schon mal zu predigen, die Leute zu taufen. Und dann kommt der Auftritt Jesu und Johannes nimmt sich zurück. Er macht Platz, schickt die Menschen eins weiter. Johannes ist der Vorläufer. Er ist der Wegweiser, der am Wegrand stehen bleibt. Er ist die Vorgruppe, die trotz der Jubelrufe der Fans die Bühne verlässt, um dem Haupt-Act Platz zu machen. Johannes ist der Trauzeuge, der die Ringe dabei hat, der eine halbe Stunde vorher noch schaut, ob in der Kirche alles vorbereitet ist, und der den Ablauf der Hochzeitsfeier geplant hat. Aber er ist nicht der Bräutigam, er ist nicht der Haupt-Act und er ist nicht das Ziel.
Lutherstadt Wittenberg im Jahr des Reformationsjubiläums. Ich gehe an den Luthersocken und Lutherpralinen vorbei und schlängele mich durch die Häuserzeilen durch zur Stadtkirche. Durch das Portal geht es ein paar Stufen hinunter, nach rechts durch die grünen Bankreihe und da steht er: Der berühmte Altar von Lucas Cranach, auf dem die Sakramente mit den Reformatoren dargestellt sind. Mich beeindruckt vor allem das schmale Bild unten. In einem kahlen langgestreckten Raum ist in der Mitte Christus am Kreuz zu sehen, mit wehendem Lendentuch. Ganz links in dem Raum ist die Gemeinde zu sehen, mit Frauen und Kindern. Und ganz rechts in dem Raum Martin Luther, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christus in der Mitte zeigt. Um ihn geht es und um nichts anderes.
Und auf einmal erinnere ich mich an einen anderen Altar. Und in Gedanken wandere ich 800 Kilometer weiter südwestlich ins Elsass. Und aus Wittenberg wird Colmar, aus der Stadtkirche wird das Museum Unterlinden, aus Lucas Cranach wird Matthias Grünewaldt. Und da steht der Altar in derselben Aufteilung, nur düsterer. Im Mittelbild blutet und leidet Christus am Kreuz vor einem schwarzen Himmel. Links vom Kreuz die Frauen in Tränen. Rechts vom Kreuz Johannes der Täufer, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christus in der Mitte zeigt. Um ihn geht es und um nichts anderes.
Luther wäre der ganze Personenkult, der um ihn in diesem Jahr getrieben wird, höchst zuwider. Luther weist auf Christus. Johannes weist auf Christus. Und damit weisen sie von sich selbst weg.
Manchmal habe ich den Eindruck, unserer Kirche könnte etwas johanneische Demut ganz gut zu Gesicht stehen. Auch die Kirche ist nicht der Bräutigam, nicht der Haupt-Act und nicht das Ziel.
In der kleinen Vorortgemeinde war man stolz auf die Thomasmesse, die man dort schon seit Jahrzehnten regelmäßig feierte: Ein Gottesdienst mit Angeboten zur persönlichen Segnung, Salbung und Gebet. Allerdings ließen die Besucherzahlen mit den Jahren immer weiter nach. Als dann die Innenstadtgemeinde im städtischen Kulturzentrum einen GoSpecial ins Leben rief, war der Argwohn groß: Ausgerechnet in derselben Stadt machen die Konkurrenz. Ist das der Dank für gute Nachbarschaft? Hier ist der Ort! Hier ist die Stätte! Hier bei dem Steinzeichen des Josua. Ich sage nur: „johanneische Demut“…
Die großen Kirchen schrumpfen. Wir werden immer weniger Menschen. Und wir werden auch immer weniger Geld haben. Wir werden uns verändern. Aber das muss nicht schlecht sein. Stege, die wir jahrzehntelang betreten haben, enden inzwischen längst im Nichts, irgendwo in der Luft. Und manches Kirchenschiff liegt als Schiffsgerippe schon lange auf dem Trockenen. Klammert euch doch nicht fest an den alten Steinzeichen des Josua! An den alten Steinhäusern, ob es Kirchen sind, Pfarrhäuser oder Gemeindehäuser. Sucht neue Wasserfurten. Schaut nur zwei Flusskurven oder Straßenkurven weiter! Vielleicht wartet Christus gerade dort.
Als ich die Stadtkirche verlasse, wandere ich links die Fußgängerzone hinunter Richtung Lutherhaus. Dahinter erhebt sich ein kleiner grüner Hügel: der Bunkerberg, der ein begehbares Kunstwerk geworden ist. Die Spazierwege auf dem Hügel gehen über in Stege, die weit über den Hügel hinausreichen und irgendwo in der Luft zwischen den Bäumen enden. Das Besondere an den Stegen ist, dass sie innen und außen verspiegelt sind. Wer die Stege betritt, sieht auf einmal überall seine Füße, links, rechts, vorne. Dazwischen die Füße von all den anderen, von Männern, Frauen, Jugendlichen, Kindern. Man schaut irgendwie nur noch auf gespiegelte Füße.
Wenn man aber über die Balustrade blickt, sieht man die anderen Stege, die in der Umgebung verschwinden, weil sie ja Hügel, Bäume und Büsche widerspiegeln. Aber man sieht auch über den Balustraden der anderen Stege, über der gespiegelten Natur, die staunenden und lachenden Köpfe der Menschen da drüben. Die Wittenberg-Stege enden nicht im Nichts. Sie enden in der Welt. Und sie nehmen die Welt auf mit einem Staunen und einem Lachen.
Und das sind die Wege, die ich mir auch für unsere Kirche wünsche. Wege, die hinausziehen in das Leben. Sie enden in der Welt. Und sie nehmen die Welt auf mit einem Staunen und einem Lachen.
Amen.