„Zum Fressen gern haben“ – Predigt zu Johannes 6,47-51 von Christian Burandt
Liebe Gemeinde,
eine Mutter mit ihrem Baby taucht vor meinem inneren Auge auf. Das Baby hat eine frische Windel bekommen und liegt auf dem Wickeltisch. Eine sehr gute Freundin der Mutter tritt heran. Da sagt die Mutter mit Blick auf ihr kleines Mädchen: „Ich könnte sie fressen vor Liebe!“ –
‚Fressen vor Liebe’. Dieser Wortlaut an sich klingt einigermaßen bedrohlich. Aber Menschenfresserei und Kannibalismus sind nicht zu befürchten. Die Mutter will gegenüber der Freundin nur ihre übergroße Liebe und Freude zu ihrem Baby zum Ausdruck bringen. Und wenn die Freundin sagt, dass auch sie ihr Kind zum Fressen gern hat, wäre auch das kein Grund zur Beunruhigung.
Liebe greift aus, sie geht ganz offensichtlich aus sich heraus: und das kann dann in drastischen Redewendungen zum Ausdruck kommen, auch in solchen, in denen von Essen und Verzehren die Rede ist. Wenn wir uns das klar machen, bekommen wir vielleicht einen neuen Blick auf das, was Jesus sagt: Ich bin das Brot des Lebens.
Groß klingen diese Worte und zugleich elementar. Brot ist Grundnahrungsmittel. Ohne Brot können zumindest wir Deutschen uns kein Leben vorstellen. Und mit Brot kennen wir uns aus. Am letzten Wochenende haben die Konfirmandinnen und Konfirmanden auf der Freizeit mit geschlossenen Augen verschiedene Brotsorten getestet. Da gab es keinen einzigen Fehler beim Raten! Brot ist eben keine Nebensache, sondern stellt einen Grundpfeiler unseres Lebens dar, egal ob jung oder alt.
Ist Jesus also eine besondere Brotsorte, was im Geschäft unter Superfood laufen würde? Jesus erklärt das selber. Er sagt zu den Frauen und Männern, die ihm zuhören: Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. Gott hat damals für das Volk Israel in der Wüste gesorgt. Damals, als das Volk nach dem Auszug aus Ägypten in die Wüste am Sinai kam. Da hat Gott das Manna regnen lassen, damit die Israeliten nicht verhungerten. Für die Israeliten damals war das „Manna“ ein Gottesgeschenk, sozusagen Brot vom Himmel. Es war lebensrettend! Und auch für uns Christen hat diese Geschichte ihre Bedeutung nicht verloren: Sie ist mit der Figur des Mose als Vignette am Fuß unseres einen Abendmahlskelches festgehalten.
Aber natürlich: Wie jede Brotsorte, die wir essen, hat auch das Manna nur eine begrenzte Nährkraft. Irgendwann – trotz allen Brotes - ist das menschliche Leben zu Ende und es kommt der Tod. Die Verheißung, die Jesus Christus gibt, geht aber über das irdische Leben hinaus. Von sich sagt er: Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit wer davon isst nicht sterbe. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.
Die Verheißung von Jesus wird nur verständlich, wenn wir sie von Ostern her verstehen. Jesus von Nazareth ist gestorben am Kreuz. Er hat den Tod geschmeckt. Aber dann hat Gott ihn von den Toten auferweckt. Und darum begegnet in ihm, im vom Tode auferstandenen Christus Leben in Ewigkeit, Leben, dem der Tod nichts mehr anhaben kann. Jesus Christus lebt zur Rechten Gottes für uns, ist aus Liebe für uns in den Tod gegangen. Dies klingt an, wenn Jesus sagt: Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.
Der Tod Jesu am Kreuz war ein gefundenes Fressen für alle, die Jesus nicht mochten und für alle Mächte der Dunkelheit von Sünde und Schuld, die uns nach wie vor zusetzen. Aber gefressen wurden am Ende die Mächte der Dunkelheit: Es war ein wunderlich Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen, heisst es in einem alten Osterlied [EG 101,4].
Weil Jesus Christus lebt, versammeln wir uns in seinem Namen und feiern Gottesdienst. Wir lassen uns stärken durch die Verheißung, dass er das Brot des Lebens ist, das vom Himmel kommt; uns zugute. – Diese Verheißung Jesu begegnet nun uns und will Glauben in uns wecken. Jesus hatte gesagt: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben.
Damit ist gemeint: Wenn wir uns im Glauben an Jesus Christus halten, dann leben wir wirklich und gehen nicht verloren. Denn Gott hält uns! Wenn wir uns an Jesus Christus halten, dann ist nicht mehr der Tod das Maß aller Dinge für uns sondern das Leben im Reich Gottes! Wenn wir uns an Jesus Christus halten, dann verschlingen uns nicht die Schatten und Fehler unserer Vergangenheit sondern dann leuchtet uns von vorne das Licht des Ewigen Lebens! Das Licht der Verheißung Jesu hilft uns dann, uns hier und heute zurecht zu finden!
Um es noch einmal mit anderen Worten zu sagen: „An Jesus Christus glauben ist leben – denn wer Brot isst, lebt. Und wer das Brot des Lebens isst, lebt ewig. Ewig leben heißt nicht, dass das Leben, so wie es angefangen hat, einfach nie mehr aufhört und immer so weitergeht. Ewiges Leben meint, dass das Leben in Gemeinschaft mit Jesus eine ganz andere Intensität bekommt, eine Intensität, die selbst durch den Tod nicht zunichte gemacht wird. Denn der Tod, den wir vor uns haben, ist der gleiche Tod, den Jesus schon hinter sich hat.“1 Und darum hat der Tod seine angebliche Herrschaftsgewalt über uns verloren!
Ich bin das Brot des Lebens, verheißt Jesus Christus. Wenn wir das ernst nehmen, dann müsste Hunger nach wahrem Leben sich in uns rühren. Und dann müssten wir Jesus Christus doch wohl auch zum Fressen gern haben. Oder? Dann müssten wir nach ihm Verlangen haben mindestens so ähnlich wie die Konfirmanden am letzten Wochenende nach Brötchen mit Nutella...
Brot will verzehrt werden, damit es sättigt, auch das Brot des Lebens. Manchmal ist auch das freilich hartes Brot. Aber nur wer in das Wasser hineinspringt, kann erfahren, dass das Wasser nass ist, und nur wer die Einladung Jesu annimmt, kann erfahren, dass sie trägt, Leben schenkt und Lebensfreude freisetzt bis hin in Gottes ewiges Reich! Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Wohl dem, der auf ihn traut!
AMEN2
1 I Jantine Nierop mit leichten Veränderungen: https://www.theologie.uni-heidelberg.de/universitaetsgottesdienste/1503_wsf2015.html
2 I Wichtig für die Vorbereitung: GPM 73/2, S.198-202 (Karl Friedrich Ulrichs).
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Brotsonntag - Predigt zu Johannes 6, 48-51 von Eberhard Busch
In manchen Gegenden gibt es noch den alten Brauch, den heutigen Tag als Brotsonntag zu begehen. Dabei werden verschiedenerlei Brote gebacken und sie werden dann zusammen mit Bedürftigen verzehrt. Der Brauch geht zurück auf den Text, der im Johannesevangelium aufgezeichnet ist und der eben verlesen wurde. Da spricht Jesus: „Ich bin das Brot.“
„Ich.…", beginnt er. Ein weiser Mann sagte einst: „Ein Satz, der mit ‚Ich' anfängt, ist selten gut." Hat er nicht recht? Aber hier ist eine Ausnahme von der Regel. Dieser Satz, der mit 'Ich' anfängt, ist rundum gut. So gut, dass man den heutigen Sonntag lateinisch „Lätare“ zu nennen pflegt, auf Deutsch: Freue dich! Nach Jesaja 66 Vers 10f.: „Freut euch mit Jerusalem .“ Und darum ist ein Satz, der sonst mit “ich" anfängt selten gut, weil er den Blick dafür trüben kann: An uns kann man nicht immer unbedingt Freude haben. Bei uns gibt es ja auch manches Mal sogar Grund zu klagen und anzuklagen. Dieser Eine, der das sagt „Ich bin ...", ist der gute Grund dafür, dass wir fröhlich sein dürfen. Er macht uns Freude. Er, der uns so anspricht „Ich bin das Brot des Lebens.“
Brot, das heißt: Was Jesus ist und was er uns gibt, das ist keine nutzlose Schleckerei, mit der man sich womöglich den Magen verdirbt, und das ist keine überflüssige Zutat, die man meiden kann. Was Jesus ist und uns gibt, das ist das Nötigste, was wir brauchen. Er nährt uns. Nicht mit so einem dünnen, labbrigen Süpplein. „Ich bin das Brot“!, sagt Jesus Es ist ungesund, darauf zu verzichten und statt dessen nach einem Ersatz zu greifen. Keine Sorge, dass das wie eine der Moden überholt werden könnte. Wohl hat dieses Nötigste zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Ausdrucks-Formen gehabt. Aber wie es früher schon da war, so ist es auch heute da und so wird es auch morgen da sein. Stets nötig.
Und Brot, das heißt: Gott ist nicht an ein fernes Jenseits gebunden, und wir müssten es dann besorgen, durch allerlei Bemühungen mit ihm in Kontakt zu kommen. Sondern Gott sorgt für uns. Er kommt von sich aus zu uns in Jesus als Geber und als Gabe. So dass wir schön zu Tisch geladen werden: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Ps 34,8). Ohne ihn müssten wir darben und gar verhungern. Das weiß er gut, und Er gibt uns, was wir benötigen, gibt sich selbst. Seine Gabe kommt zu uns durch seine Hingabe. „Sehet, was hat Gott gegeben, seinen Sohn zum ewgen Leben“ heißt es in einem Lied von Paul Gerhardt. Und Gerhard Tersteegen singt: „Sehet doch da, Gott will so freundlich und nah zu den Verlornen sich kehren.“ Er lässt uns nicht verloren gehen. Er lässt uns nicht umkommen. Er kommt zu uns. Und wenn es mit uns zu Ende ist, dann ist immer noch seine Hand da, die uns festhält.
Wir verstehen in diesem Zusammenhang, wie wichtig die Bitte ist in dem Unser-Vater-Gebet: „Gib uns unser tägliches Brot.“ Diese Bitte ist das Gebet eben zu dem, dessen Sohn uns sagt: „Ich bin das Brot.“ Was tun Menschen, die zu den Mahlzeiten das Gebet sprechen „Komm, Herr Jesu, und sei du unser Gast, und segne, was du uns bereitet hast“? Sie bringen damit zum Ausdruck, dass wir bei jedem Bissen abhängig sind. Wir sind es gewiss auch von den Landwirten und sind es auch vom Bäcker – danke für ihre Arbeit! Aber wir sind alle miteinander abhängig von dem, an den sich dieses Tischgebet richtet. Wir sind auf vieles nicht letztlich angewiesen. Aber wir sind erstlich und letztlich angewiesen auf ihn, zu dem wir beten: „Gib uns unser tägliches Brot.“
Nun heißt es im Johannesevangelium zwar: „Eure Vorfahren haben Manna gegessen in der Wüste und sind gestorben“ (V49). Dieses Manna war eine Frucht, die man täglich genießen konnte, die aber am Abend des selben Tags ungenießbar wurde. Will Jesus etwa sagen: Man möge halt lieber doch nicht um die Gabe des täglichen Brots bitten? Weil es rasch verdirbt! Bewahre, ich denke, wir sollten den Vers vielmehr so auffassen: Nicht unser Brot ist das Problem. Wir sind das Problem. Das Manna in der Wüste ist für uns heute nicht jene Frucht, die von sich aus verfault. Sondern wir lassen das uns Gegebene schnöde verfaulen. Bei uns wandert unheimlich viel Brot in den Müll – zum Beispiel in der Stadt Wien soviel, wie in der Stadt Linz an Brot genossen wird. In Deutschland wandert ein Drittel der produzierten Lebensmittel im Abfall. Wir leben nicht recht, wenn solche Unmengen von Nahrungsmitteln weggeworfen werden und verderben, während Mitmenschen von uns vor Hunger sterben und verderben oder denn ein Leben vom Müll der Andern fristen.
In der Herrnhuter Losung steht für den heutigen Tag ein Wort aus dem Alten Testament: „Wer Geld liebt, wird vom Geld niemals satt“ (Pred 5,9). Das ist eine treffliche Erklärung zu dem Satz, jenes einstige Manna mache nicht satt. Und das weist uns nun geradezu darauf hin, dass wir unseren Überfluss nicht beseitigen sollen, sondern dass wir das uns Gegebene mit Anderen teilen müssen. Teilen! – nicht bloß für die Bedürftigen einige „Brotkrümmel, die von des Reichen Tisch fallen“ (Lk 16,21). Schon der heilige Basilius mahnt im 5. Jahrhundert: "Das Brot, das ihr verderben lasst, ist das Brot der Hungernden." Und hören wir dazu, was der Reformator Johannes Calvin in einer Predigt sagt: „Wer sich davon ausnehmen wollte, für seine Nächsten zu sorgen, der erklärt, dass er kein Mensch mehr sein will. Sei es, dass irgendein Schwarzer oder irgendein Fremder komme: wenn er ein Mensch ist, bringt er einen deutlichen Spiegel mit sich, in dem wir sehen können, dass er unser Bruder, unsre Schwester ist.“
Ein Pfarrer erzählte von einer ihm bekannten einfachen, armen Frau. Sie war zudem noch nahezu taub – das war wohl auch der Grund für ihre Armut. Sie besuchte den Gottesdienst nur, wenn das Abendmahl gefeiert wurde, oder wie sie das nannte: wenn „das Brot des Herrn“ ausgeteilt wurde. Die Gemeindeschwester Frieda holte sie jeweils von weiter her dazu ab. Die Frau war ziemlich wortkarg, aber sie redete viel mit ihrem Gott. Als jene Frieda unversehens starb, war sie richtig böse auf ihren himmlischen Gesprächspartner und verweigerte einen weiteren Empfang vom „Brot des Herrn“, ließ sich auch von Anderen nicht mehr zur Kirche fahren. Doch dann kam sie auf die Idee, das Spärliche, was sie hatte, mit Hungrigen zu teilen. Irgendwie empfand sie aufgrund des Verlusts der Frieda Gemeinschaft mit den Unbefriedeten. Eines Tages brachte der Postbote dem Pfarrer Geld von jener armen Frau, und auf ihrer Überweisung hatte der Bote die Zweckbestimmung geschrieben: „Brot für die Hungernden, von E.L.“ Und dann saß sie lächelnd auch wieder in der Kirchenbank, um das „Brot des Herrn“ zu empfangen.
Sie mag so schlicht gewesen sein, wie man meinte, aber sie hat besser verstanden als so mancher Andere, scheinbar Klügere: Wir leben in der Tat von der Gabe Gottes, vom „Brot des Herrn“, von ihm, der uns zusagt: „Ich bin mit dir; ich stärke dich, ich helfe dir auch“ (Jes 41,10). Das nährt uns und das stärkt uns, jeden Tag aufs Neue. Und wir nehmen das recht entgegen, wenn wir nun unser Brot mit anderen Bedürftigen teilen. Er gebe uns gute Einfälle an diesem „Brotsonntag“.
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Gott sitzt auf einem grünen Plastikstuhl – Predigt zu Joh 3,16-21 von Stephanie Höhner
Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Wer ihm vertraut, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht vertraut, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.
Osama wartet schon seit 7:23. Er kauert sich in den grünen Plastikstuhl. Neben ihm sitzt auch ein junger Mann. Daneben noch einer. Die ganze Reihe der grünen Plastikstühle ist besetzt mit jungen und älteren Männern. Sie alle warten schon seit Stunden hier. Manchmal wird einer aufgerufen, steht auf und verschwindet in einem der Büros. Osama war auch gestern schon hier. Und vorgestern. Und letzte Woche auch. Er wartet, dass auch er endlich in einem der Büros verschwinden kann. Jetzt ist es 15:37. Er hat die Hoffnung aufgegeben. Er wird morgen wieder kommen. Und wieder warten, auf einem grünen Plastikstuhl.
Nur widerwillig packt Pia das Geschenk ein, obwohl es für ihre Tochter ist. Und nur widerwillig wird sie eine Stunde später ins Auto steigen und zu ihrem alten Hause fahren. Dort wohnt ihr Ex-Mann, aber jetzt mit einer neuen Frau und deren Tochter. Es ist noch das gleiche Haus, aber es ist nicht mehr Pias Zuhause. Heute ist der Geburtstag ihrer Tochter. Pia hat diesen Tag immer liebevoll vorbereitet: eine bunte Girlande gebastelt, den Fantakuchen gebacken, den ihre Tochter so liebt und morgens die Geschenke auf den Frühstückstisch dekoriert. Heute ist Pia nur noch Gast in ihrem alten Haus. Pia weiß jetzt schon, wie es werden wird. Sie werden alle am Tisch sitzen, lachen und reden. Über das Schulkonzert. Über die neuen Nachbarn. Und sie wird dabei sitzen und nichts sagen. Sie gehört nicht mehr dazu, seit sie vor zwei Jahren ausgezogen ist. Sie spürt die Vorwürfe in jedem Blick: „Du bist ja gegangen.“ „Wegen dir ist jetzt alles anders. Alles kompliziert.“
Pia zerknüllt den letzten Rest Papier. Sie wird trotzdem fahren und gute Miene machen.
Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.
Osama wartet auf ein Urteil. Das Urteil vom Entscheider. Ob sein Antrag auf Asyl genehmigt wird. Ob er sich hier ein neues Leben mit seiner Frau aufbauen kann. Osama wartet auf das Urteil, ob er einer der „guten Flüchtlinge“ ist. Asylwürdig. Weil er vor den Bomben in seiner Heimatstadt in Syrien flieht. Nihad wartet auch auf ein Urteil. Auch er hat einen Asylantrag gestellt, zusammen mit seiner Frau. Sie stammt aus dem Kosovo. Nihad aus Bosnien. Zusammen können sie nicht in Bosnien leben. Seine Frau ist dort illegal. Ein gemeinsames Leben nicht möglich, obwohl sie schon drei Kinder haben. Nihads Chancen auf Bleiberecht stehen schlecht. Er ist nur „Wirtschaftsflüchtling“ aus einem sicheren Herkunftsland. Vermeidlich sicher. Das Amt wir entscheiden, wer ein guter oder schlechter Flüchtling ist. Asylwürdig oder nicht. Der Bundestag entscheidet, wo es sicher ist oder nicht.
Das Amt fällt sein Urteil. Der Staat fällt sein Urteil. Und schwierig ist es, das richtige Urteil zu fällen. Schwierig ist es, wenn Menschen über Menschen urteilen. Und doch ist es oft notwendig.
Und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.
Pia ist schuld. Das steht für ihre Familie fest. Sie ist gegangen. Hat Mann und beide Töchter alleine gelassen, um ein neues Leben zu beginnen. So denken die anderen. Sie fällen ihr Urteil. Doch Pia hatte ihre Gründe. Sie und ihr Mann liebten sich nicht mehr. Das zu erkennen tat auch Pia weh. Wegzugehen von ihren Töchtern, den Lebenstraum mit Mann und Haus zurück zu lassen. Jetzt jeden Morgen allein am Küchentisch zu sitzen.
Vorwürfe kommen nicht nur von ihren Eltern, Schwiegereltern und ihrem Ehemann. Sie kommen auch von Freunden, Kollegen und Nachbarn. Meistens unausgesprochen, aber Blicke sagen mehr als tausend Worte.
Pia sitzt in der Finsternis. Die Liebe ihres Lebens ist gescheitert. Ihre Kinder sieht sie nur noch am Wochenende. Der Traum vom Familienleben ist zerplatzt. Sie gehört nicht mehr dazu. Bei ihren Freunden. Bei ihrer Familie. Auch wenn Pia mit am Tisch sitzt: sie gehört nicht mehr dazu.
Osama sitzt in der Finsternis. Seine Heimat ist zerstört. Er musste alles zurücklassen: seine Freunde, seine Eltern. Er musste sein Studium aufgeben und das freie, ausgelassene Leben, das er mit Anfang zwanzig genossen hat. Bomben und Kriegstreiber haben ihm sein Leben genommen.
Nihad sitzt in der Finsternis. Er hat Angst vor der Abschiebung. In seiner Heimat kann er nicht mit Frau und Kindern zusammen leben. In Deutschland hat er kein Recht auf Asyl. Er sucht einen Platz im Leben.
Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist. Gott kommt in die Welt. An einem dunklen Ort. In den Stall in Bethlehem. Gott kommt in die Welt. An den Rand. Zu dem blinden Bartimäus, der im Dunkeln lebt. Zu den Hirten auf dem Feld, die schon sehr lange im Dunkeln sitzen – nicht nur bei ihrer Arbeit nachts auf dem Feld.
Zu der Frau, die umzingelt ist von der Menschenmenge und gesteinigt werden soll. Gott kommt in die Welt, ans Kreuz und es wird dunkel. Gott kommt in die Welt. Als das Licht. Als Engel auf dem Feld, die die Hirten am Rand beleuchten. Als Augenlicht für Bartimäus, der auf einmal klar sieht. Als erste Sonnenstrahlen am Morgen, die das leer Grab beleuchten.
In dieser Welt muss viel beleuchtet werden. Es kommt mir manchmal so vor, als ob die Welt nur noch in der Finsternis sitzt. Im Bombenhagel im Jemen. In Straßbourg auf dem Weihnachtsmarkt. Auf grünen Plastikstühlen (in der Asylbehörde) und am Familientisch (bei der Geburtstagsfeier). Die Welt sitzt im Dunkeln und wartet auf ihr Urteil. Eigentlich scheint es schon gefallen. Es steht schon fest, wer ein „guter“ oder „schlechter“ Flüchtling ist.
Es steht schon fest, wer für die „Guten“ oder die „Bösen“ kämpft. Es steht schon fest, wer Schuld hat. Das Urteil ist schnell gefällt. Von uns Menschen im Dunkeln.
Ich sehne mich nach dem Licht. Das Licht, das alles offen legt. Das Klarheit bringt. Das das Dunkel überstrahlt. Aber das nicht urteilt. Nicht sagt „gut oder böse“, „richtig oder falsch“. Das Licht leuchtet alles an. Aber es urteilt nicht. Es gibt die Welt nicht verloren. Es gibt uns nicht verloren.
Gott schaut nicht in die Akten von Osama oder Nihad. Er sieht sie an als Menschen, die im Finstern sitzen. Er leuchtet in die Finsternis und verspricht: Ich will euch retten. Ich gebe euch nicht verloren. Gott schaut nicht auf unser Urteil, das wir treffen oder das über uns getroffen ist. Er sieht uns an als Menschen, die im Finstern sitzen und sich nach Licht sehnen. Er kommt in die Welt und verspricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage!
Gott spricht kein Urteil. Er spricht uns an. Gott urteilt nicht über Menschen, nicht über die Welt, weil er sie liebt. Die Welt und uns Menschen. Darum kommt er selbst auf die Welt. An den Rand. In den Stall. Auf den grünen Plastikstuhl und an den Familientisch.
Gott sieht das Urteil von uns Menschen über einander und was es anrichten kann: Gutes wie Schlechtes. Doch er richtet sich nicht danach. Gott stellt sich zu uns. Zu uns, den Gerichteten. Zu uns, die Richtenden.
Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die ihm vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Es ist 15:42 Uhr. Osama zieht sich gerade die Jacke an, als der Aufruf „Nr.2304“ kommt. 2304 – das ist Osamas Nummer. Er darf endlich in einer der Bürotüren verschwinden. Das Warten hat ein Ende. Der Asylantrag rückt näher.
Pia sitzt vor ihrem halbvollen Teller. Sie hat wenig Appetit. Und noch weniger Spaß. Anders als alle anderen, die über den Spieleabend letzte Woche reden. Pia sitzt stumm daneben. Sie war dazu nicht eingeladen. Sie will eigentlich am liebsten nach Hause. Doch sie reißt sich zusammen. Setzt ein Lächeln auf, auch wenn es ihr schwer fällt. Vielleicht wird es einmal wieder anders sein, denkt sie. Vielleicht kann auch ich einmal wieder mitreden. Irgendwann.
Wie schön wäre es, wenn Osama bleiben könnte. Wie schön wäre es, wenn auch Nihad bleiben könnte. Wie schön wäre es, wenn Pia mitreden könnte. Wie schön wäre es, wenn es Licht auf der Welt wird. Wenn der Bombenhagel verstummt. Wenn die Tränen trocknen. Ich sehne mich nach Licht. Ich will nicht verloren sein. Ich will nicht in der Finsternis bleiben.
Nihads Antrag wird abgelehnt. Zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern werden sie nachts abgeholt und zum Flughafen gebracht. Wie sie in Bosnien leben sollen, wissen sie nicht. Osamas Antrag auf Asyl wird genehmigt. Er darf mit seiner Frau bleiben und hier ein neues Leben aufbauen.
Noch ist es finster in der Welt. Noch sitzen wir im Dunkeln. Manchmal sehe ich ein Licht einfallen. Auf einen grünen Plastikstuhl. Am Familientisch. Und ich hoffe, auch bald im Flugzeug nach Bosnien.
Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die ihm vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Amen.
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Wasser des Lebens - Predigt zu Johannes 4,5-15 von Martin Hein
„Es war einmal ein König“, liebe Gemeinde, „der war krank, und niemand glaubte, dass er mit dem Leben davonkäme. Er hatte aber drei Söhne, die waren darüber betrübt, gingen hinunter in den Schlossgarten und weinten. Da begegnete ihnen ein alter Mann, der fragte sie nach ihrem Kummer. Sie sagten ihm, ihr Vater wäre so krank, dass er wohl sterben würde, denn es wollte ihm nichts helfen. Da sprach der Alte: »Ich weiß noch ein Mittel, das ist das Wasser des Lebens, wenn er davon trinkt, so wird er wieder gesund; es ist aber schwer zu finden.«“
Mit diesen Worten beginnt das Märchen der Brüder Grimm vom „Wasser des Lebens“. Der Fortgang wird spannend, fast verwirrend erzählt. Nach mancherlei Verwicklungen und Gefährdungen bekommt der schwerkranke Vater endlich das Wasser und wird geheilt. Und es gibt anschließend noch weitere Intrigen, ehe der jüngste der drei Söhne endlich die schöne Königstochter heiraten kann, die ihm begegnet war.
Das Wasser des Lebens: Über Jahrtausende hin bewegt uns Menschen die Sehnsucht danach. Niemals mehr ausgetrocknet zu werden vom Durst nach Leben, nie mehr der Krankheit und dem Leid ausgesetzt zu sein, sondern sich erquicken können an diesem wunderbaren Wasser, das Erfüllung und Lebenskraft in sich birgt – ein großer Menschheitstraum!
Schon in der Bibel, nicht erst in Grimms Märchenbuch finden wir ihn – auch in dieser eigenwilligen Begegnung zwischen Jesus und der Frau aus Samaria in der vollen Gluthitze des Mittags. Und wie der Evangelist Johannes uns diese Geschichte erzählt, klingt sie wie ein Märchen. Denn auch die Geschichte der Beiden am Brunnen weiß von der Sehnsucht nach gelingendem Leben, weiß vom Lebensdurst, der sich allen Versuchen zum Trotz nicht stillen lässt, weiß von verqueren Beziehungen und dem großen Wunsch nach wahrem Glück und ungetrübter Lebensfülle. Aber der Weg dahin ist schwer zu finden, sagt der Alte im Märchen – und auch die Frau am Brunnen versteht zunächst überhaupt nicht, wovon Jesus spricht. Sie sieht die Dinge nüchtern und abgeklärt: Sie sieht den Brunnen und den unbekannten Mann, der nichts in den Händen hält, womit er Wasser schöpfen könnte und der unverständliche Worte zu ihr sagt. Natürlich würde sie sofort dieses Wunderwasser haben wollen. Sie könnte sich den mühevollen Weg aus der Stadt heraus sparen. Wasser holen war harte Frauenarbeit. Also: „Gib mir solches Wasser.“
Wie im Märchen geht es auch in der biblischen Geschichte nicht von jetzt auf gleich! Der Alte hätte den drei Söhnen ein Fläschchen vom Wasser des Lebens in die Hand drücken können. Sie hätten auf dem Absatz kehrt gemacht, hätten es ihrem Vater gebracht, und der wäre alsbald geheilt worden. Aber nein: So erzählt man keine Märchen! Die machen meist einen Umweg, der tief in Irrungen und Wirrungen und Herausforderungen hineinführt, die es zu bestehen gilt. Und auch Jesus nimmt jene Frau auf einen Weg mit, der zunächst von lauter Missverständnissen gesäumt ist, ehe sie erkennt, worum es Jesus eigentlich geht. Nein, der kann ihr nicht das märchenhafte „Wasser des Lebens“ geben, das fortan die alltäglichen Mühen erübrigt. Sondern der spricht von etwas ganz anderem, von einer Erfüllung, die all unsere Sehnsucht ans Ziel bringt: „Wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten.“
Um Jesus, die Quelle allen Lebens, geht es also – und um uns, wie wir dazu stehen; es geht um eigene Erfahrungen, die alle Kategorien sprengen und uns die große Freiheit der Kinder Gottes erleben lassen. Sich selbst bietet Jesus der fremden Frau dar: sich als den verheißenen Messias, als den, der den Kummer und die Sehnsucht des Herzens stillt, als den, der von sich sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid: Ich will euch erquicken.“
Auch weiterhin wird die Frau zum Jakobsbrunnen gehen müssen, um Wasser zu holen. Doch als sie erkennt, was Jesus wirklich meint, wandelt sich alles für sie: Denn in der Begegnung mit Jesus hat sie viel über sich erfahren, über ihre eigene Suche nach Liebe, nach Glück und Heil. Sie ist endlich zu sich selbst gekommen. Und sie wird von jetzt an anders leben: klarer, eindeutiger, selbstbewusster, freier. Sie wird in Samarien zur ersten Botin Jesu. Denn sie hat das Entscheidende, hat das „Wasser des Lebens“ gefunden: Jesus selbst. Am Ende der Geschichte glauben viele Menschen in der Stadt Sychar an Jesus, den Messias. Ein happy end!
Das mag märchenhaft klingen, liebe Gemeinde. Aber es ist wahr! Die Frau am Brunnen ist eine von uns! Denn auch wir leben von diesem „lebendigen Wasser“. Auch wir erfahren seine Kraft! Und wo, werden Sie fragen? Die Antwort lautet: In unserer Taufe! Da sind wir mit dem Wasser des Lebens hautnah in Berührung gekommen: sind mit ihm gereinigt und belebt worden. Lebendiges Wasser fließt in die Taufschale – und wenn wir einen Täufling, sei es als kleines Kind oder als Erwachsenen, mit diesem Wasser benetzen, dann bringen wir ihn in unmittelbare Beziehung zu Jesus. Und wir glauben daran, dass die Taufe uns Menschen von Grund auf verändert: Nicht mehr wir selbst sind es, sondern Christus lebt in uns. Er ist der tiefe Grund und die Quelle unseres Lebens – allen Gefahren und Bedrohungen zum Trotz.
Nein, das ist nicht magisch verstanden! Es ist auch keine Zauberei! Wasser bleibt Wasser. Aber weil Jesus seine Verheißung dazu gibt, wird die Taufe für uns zum „Wasser des Lebens“. Nicht das Wasser wandelt sich, sondern wir werden gewandelt – wie schon die Frau am Brunnen. Denn wir wissen, wo unser Leben Sinn und Erfüllung findet: in Jesus Christus.
Für die Söhne im Märchen war der Weg nicht leicht zu finden, für die Frau am Jakobsbrunnen galt es eine Menge Irritationen zu beseitigen. Für uns steht der Weg zum „Wasser des Lebens“ offen: Jesus ruft uns in seine Gemeinschaft, in die Gemeinschaft derer, die in seinen Tod und in sein neues Leben getauft sind. So werden wir befähigt, unsererseits für ein geheiltes, erneuertes Leben in dieser Welt einzutreten.
Wir werden, so sagt es Jesus, selbst zu einer Quelle des Lebens, können anderen helfen, dass auch ihr Durst nach Lebensglück und Lebensfülle gestillt wird: können sie auf den Weg zu Jesus mitnehmen und in seinem Auftrag die Wunden heilen, die das Leben geschlagen hat.
Die Taufe hat den Anfang unserer engen Beziehung zu Jesus gesetzt. Das mag für viele von uns Jahrzehnte zurückliegen. Aber die Kraft ist nicht versiegt. Sie hält an. Das „Wasser des Lebens“ wirkt weiter. Jesus ist unter uns lebendig. Immer, wenn ich eine katholische Kirche betrete, finde ich am Eingang das Weihwasserbecken. Dieses Wasserbecken ist eine stumme Einladung für mich, den Finger einzutauchen, ihn zu benetzen, das Kreuzzeichen zu machen und dabei zu sagen: „Ich bin getauft.“ Mehr nicht. Mit diesem einen Satz ist alles gesagt: Ich bin ein neuer Mensch, denn Christus lebt in mir; und ich gehöre zur großen, weltweiten, die Jahrhunderte übergreifenden Gemeinschaft aller Getauften.
Und einst, in Gottes Ewigkeit, ist uns dieses „Wasser des Lebens“ in Hülle und Fülle verheißen. So lesen wir es im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes: „Wen dürstet, der komme; und wird da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst“. Dann sind wir am Ziel angelangt – bei Gott, in seinem Reich. Was für eine wunderbare Aussicht ist das – schön ist sie, märchenhaft schön: Wasser des Lebens! Amen.